Monat: November 2022

30. November

Er gibt dem Müden Kraft und Stärke  genug dem Unvermögenden.       Jesaja 40,29

Wie oft scheitere ich. Mir fehlt die Kraft, auf Menschen zuzugehen. Ich lasse mich durch Sticheleien aus dem Konzept bringen und hineinziehen in einen Wettbewerb der Eitelkeiten. Ich habe nicht die Souveränität, meine Fehler einzugestehen. Aus einer trotzigen Angst vor dem Gesichtsverlust schiebe ich die Entschuldigung hinaus. Ich bin träge und fahrig statt präsent und empathisch.

Manchmal hilft es, wenn ich mich ausklinke. Ich trete an die frische Luft. Wenn eine Kirche in der Nähe ist, zünde ich dort eine Kerze an. Ich setze mich und lasse den Raum auf mich wirken. Machte ich mir zuvor Vorwürfe und ging mit mir selbst ins Gericht, versuche ich jetzt loszulassen. Ich gestehe mir mein Unvermögen ein. Ich spüre, wie mein Atem ruhiger, freier wird. Ich werde offen für die Kraft, die aus der Schwäche erwächst. Gelassenheit vertreibt die Müdigkeit.

Gestärkt kehre ich zurück. Das stille Gebet hat mir geholfen, zu Kräften zu kommen. Mir gelingt es, für mir wichtige Dinge zu argumentieren und Nichtigkeiten getrost auf mir sitzen zu lassen. Ich finde den Mut zur Aufrichtigkeit und bitte um Verzeihung. Ich weiss, dass mein Straucheln unvermeidlich bleibt. Aber ich darf darauf vertrauen, dass ich von Gott immer wieder neue Kraft empfange, wenn ich ermatte.

Von Felix Reich

29. November

Sei nun stark, mein Kind, durch die Gnade in Christus Jesus.           2.Timotheus 2,1

«Du musst jetzt stark sein, mein Kind.» Man spottet, so hätten sich besorgte Mütter früher von ihren frisch verheirateten Töchtern verabschiedet, wenn sie in die Flitterwochen abreisten. Und die jungen Ehefrauen ahnten: Es wird etwas Schreckliches geschehen.

Auch bei einem Schul- oder Stellenwechsel, einem Umzug, einem Streit können Unwissen und Unsicherheit die Freude über einen Neuanfang trüben. Aber vermögen wir nachzuvollziehen, wie gross für manche die Ungewissheiten damals in den ersten Christengemeinden waren? Die Menschen, die sich für ein Leben in der Nachfolge Jesu entschieden hatten, waren auf Zuspruch und Begleitung angewiesen. Die Glaubensinhalte waren ja noch nicht schriftlich festgelegt, erst langsam  entstanden  Traditionen.  Was  «richtig»  und was «falsch» war, musste in vielen Auseinandersetzungen geklärt werden.

Paulus will mit seinem Brief Timotheus stützen und bestärken. Er erwartet Standhaftigkeit und Treue gegenüber dem Evangelium, wie er es in die Gemeinden gebracht hat. Und das wird nicht gelingen durch Beharrlichkeit und Durchsetzungsvermögen, sondern durch die «Gnade Christi». Sie wird zerstrittene Gläubige versöhnen können.

Kommt es heute noch verunsicherten Menschen in den Sinn, sich der Gnade Christi anzuvertrauen? Vielleicht schon, aber sie würden es wohl anders nennen.

Von Käthi Koenig

28. November

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen.          Jesaja 62,6

Manchmal nutze ich ein Post-it, wenn es nur eine Kleinigkeit ist, viel häufiger aber grosse To-do-Listen. Gerne in DIN-A4- Format. Ich schreibe diese Listen mit viel Liebe und noch mit viel grösserer Liebe markiere ich die Dinge, die ich erledigt habe. Manchmal mit einem grünen Haken, manchmal streiche ich sie aber auch mit einem dicken Rot durch.

Ich muss schmunzeln bei der Vorstellung, die Jesaja  heute bei mir weckt. Dass Gott nämlich auch Erinnerungen braucht und sich sogar einen Erinnerungsservice aufstellt. Die Wächter auf den Mauern Jerusalems sollen nicht schweigen, sondern beständig Gott daran erinnern, dass er Jerusalem wieder zu Blüte bringen soll.

Eine Erinnerungshilfe für Gott, die gleichsam alle anderen auch erinnert. Erinnert an eine Liebe, an eine Beziehung und Verbindung, die von Gott nicht vergessen wurde. Eine Erinnerungshilfe, die die Sehnsucht nach dieser Zeit und Zweisamkeit wecken kann.

Gedenken ist weit mehr als nur ein flüchtiger Gedanke. Die Vorstellung der Szene berauscht mich und füllt meine Ohren, weckt auch Sehnsucht in mir.

Und doch bin ich auch wiederum froh, dass meine Post-its still sind.

Von Sigrun Welke-Holtmann

27. November

Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung.   Kolosser 1,15

Dem Unsichtbaren Gesicht schenken

Ein Kind in der Krippe, in einem zugigen Stall. Kein Palast, kein grosses Fest. Zwei Augen, noch blau wie am äussersten Anfang, eine kleine glänzende Nase und ein Mund, der mit dem ersten Schrei die Welt begrüsst.

Aber noch ist es nicht so weit. Erst heisst es, sich auf den Weg zu machen.

Dem Unsagbaren Worte leihen

Hosianna in der Höhe, Halleluja auf Erden.

Aber noch jubeln wir nicht. Noch suchen wir nach den Tönen.

Dem Unhörbaren Stimme zudichten

Die Aufgabe des Advents ist nicht einfach. Nicht einfach nur Kerzen und Spekulatius, sondern die Untiefen der menschlichen Sehnsucht zu ergründen und das zu heben, was trägt. Schon jetzt.

Von Sigrun Welke-Holtmann

26. November

Gott aber ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden; denn ihm leben sie alle.   Lukas 20,38

«Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden. Er ist es, der das Leben schafft, erhält und der das Leben über alles in der Welt liebt. In der Hoffnung auf diesen Gott sagen wir: Dies ist nicht das Ende.» So spreche ich oft bei Beerdigungen.

Doch wie dieses Leben aussieht, da gehen die Ansichten weit auseinander, selbst unter den Christinnen und Christen. Bei Gesprächen versuche ich mich ganz auf die jeweiligen Jenseitsvorstellungen meines Gegenübers einzulassen.

Gerne würde ich auch mit Ihnen in einen Dialog eintreten: Was denken Sie über das Leib-Seele-Verhältnis? Gibt es in einer jenseitigen Welt ein individuelles Dasein oder haben wir Anteil an dem Alles-in-Allem, an der Unio mystica? Der heutige Text spricht davon, dass wir «in Gott» leben werden. Wie stellen Sie sich das vor? Wie ist das mit der Zeit? Gibt es jenseits unserer irdischen Welt noch zeitliche Abläufe? Wie wird unser irdisches Leben beurteilt werden? Und von wem? Von Jesus Christus oder gar von mir selbst, im Wissen, ein geliebtes Kind Gottes zu sein?

Einen Tag vor dem ersten Advent denke ich darüber nach: Welche zukünftige Welt erhoffe ich? Bin ich offen für das, was mich da erwartet? Verändert es mein Leben hier?

Von Barbara Heyse-Schaefer

25. November

Der HERR gibt die Sonne dem Tage zum Licht und bestellt den Mond und die Sterne der Nacht zum Licht; er bewegt das Meer, dass seine Wellen brausen.                              Jeremia 31,35

Sonne, Mond und Sterne sind Materie,

Gaswolken oder Festkörper

im unendlich weiten Raum.

Die Wellen des Meeres brausen,

weil Energie in ihnen steckt.

Radikale Materialisten behaupten gar,

alles sei mit Physik und Chemie erklärbar –

das gelte auch für unser Leben.

Ist damit alles über uns gesagt?

Was uns ausmacht, ist weit mehr

als Chemie und Physik, so wie ein Gedicht

mehr ist als Druckerschwärze und Papier.

Dass wir in den Himmelskörpern

Lichter für den Tag und für die Nacht gewahren,

macht sie für uns besonders.

Wir sind fasziniert von den Meereswellen,

weil sie so wild und kraftvoll sind.

Wir staunen, sind ergriffen,

suchen Erklärungen und finden sie

in Geschichten, die uns sinnvoll scheinen,

Geschichten und Bildern voller Poesie.

Faszinierend, wie die Fotos des neuen Teleskops,

über die wir auch nur staunen können.

Von Heidi Berner

24. November

Jesus spricht: Sehet, das Reich Gottes  ist mitten unter euch.             Lukas 17,21

Es ist etwas zum Sehen,

etwas Anschauliches, dieses Reich.

Vielleicht – für Sehbehinderte –

auch etwas zum Hören, zum Spüren,

ganz generell etwas zum Wahrnehmen

mit unseren Sinnen.

Etwas Wahres also und Sinnliches.

Und – sehen wir es?

Spüren wir es, nehmen wir es wahr?

Vielleicht – in ganz hellen Momenten –

nur für einen Augenblick,

wie wenn ein Eisvogel vor uns durchfliegt,

flüchtig wie ein blauer Geistesblitz.

Oder länger und intensiv,

bei einem Lied, wenn alles klingt,

wenn wir im Einklang sind mit der ganzen Welt.

Es ist da – jeden Tag neu zu entdecken,

miteinander, füreinander.

Es lässt sich nicht eingrenzen, nicht besitzen,

nicht mit Waffengewalt verteidigen.

Viele Namen hat dieses erfüllte Leben,

einer davon ist «Reich Gottes».

Von Heidi Berner

23. November

Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe!     Psalm 27,4

«Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit» – singt es in mir! Das adventliche Bild ist mit dem Lied verschmolzen. Aber was steckt eigentlich dahinter? Offensichtlich reicht es nicht, Tür und Tor zu öffnen. Wenn dieser König kommt, sind die Eingänge zu klein. Man muss die Türen aus den Angeln heben. Gibt es einen triftigen Grund für die drastischen städtebaulichen Eingriffe? Vielleicht weiss der Psalmist vom Besuch eines Herrschers, für den man eine Strasse bauen oder einen Torbogen erweitern musste, weil sein Tross zu gross und seine Elefanten zu dick waren … Der Impuls, sich bei der Ankunft eines hohen Würdenträgers zu weiten und zu öffnen, lässt sich auf das Innere übertragen. Jemanden zu ehren, macht Freude. Vor allem dann, wenn der, der da kommen soll, Frieden und Gerechtigkeit bringt. Erst recht, wenn der, der da kommen soll, mich höchstpersönlich besucht. Etwas vom Glanz des hohen Besuchs fällt auf mich. Und ich frage mich: «Wie soll ich dich empfangen? Und wie begegne ich dir?» Ich hoffe, meine Herz-und-Geist-Erweiterungsübungen haben gefruchtet. Denn das ist es doch, was wir beim Beten und Singen tun: uns zu dehnen und zu strecken auf die Hoffnung hin, die unser Leben öffnet; die Verengungen zu bekämpfen, die unser Herz schrumpfen lassen; uns für die Ankunft des Königs vorzubereiten, der einziehen will. «Denn sein ist das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit.»

Voin Ralph Kunz

22. November

In allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in Schlä-gen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten  und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben. 2. Korinther 6,4.5.8–9

Was für eine gruselige Aufzählung! Wenn ich Theologiestudierenden ihren zukünftigen Beruf schmackhaft machen will, muss ich andere Listen präsentieren: Lohnklasse 21, Pfarrhaus, Ansehen und ein sicherer Job. Die Chancen stehen nicht schlecht – es herrscht Mangel an Pfarrpersonen. Ach, Paulus, was bist du doch für ein Spielverderber! Mit deinen Aussichten auf ein Leben in Mühen und Wachen finden wir keinen Nachwuchs. Wenn da nicht die Erfahrung wäre, die (nicht nur Pfarrpersonen) machen: wie tief und reich ein Leben in der Nachfolge Jesu ist, mit welcher Kraft die ausgerüstet werden, die sich in den Dienst Gottes stellen und welches Glück – ja Glück! – es sein kann, im Widerstand zu wachsen, Zeuge zu sein für das Abenteuer,  in das uns  Gottes Ruf   hineinleitet.

«Und siehe, wir leben.» Das Leben, von dem Paulus spricht, ist keine Party, kein Zuckerschlecken und keine Wohlfühloase. Es ist ein Pilgern an ein Ziel, das vor uns liegt. Gott sei Dank mit wunderbaren Unterbrechungen, in denen wir das Geschenk der Gemeinschaft mit Schwestern und Brüdern feiern, erfüllt vom Vorgeschmack einer Freiheit, die uns manchmal weinen macht und immer wieder jubeln lässt.

Von Ralph Kunz

21. November

Wir demütigen uns vor unserm Gott, um von ihm den rechten Weg zu erbitten.   Esra 8,21

Die Rückkehr aus dem Exil, die Registrierung der Familienoberhäupter, das Ankommen, Sicheinfinden – der Prophet lädt sie alle an einen Fluss ein. Dort sollen sie fasten und um den richtigen Weg bitten, «einen glücklichen Weg für uns und unsere Kinder» (Zürcher Bibel). Gott, die Lebendige, um einen glücklichen Weg zu bitten, ist doch das, was wir immer wieder tun. Und gerade für unsere Kinder und Grosskinder bitten wir darum. Sicher auch für die Menschen, die unter den Kriegen, unter Hunger, Ausbeutung und Angst leiden. Der Prophet weiss nicht, wie der rechte Weg aussieht, aber er weiss, es ist einer mit der Lebendigen. Es ist ein Weg des Lebens, des Gestaltens der Zeit und der Gemeinschaft nach dem Exil. Wir wissen auch nicht, welches der glückliche Weg ist. Aber wir wissen, wie der Prophet: Es ist ein Weg der Gerechtigkeit und des Friedens, eben ein Weg des Lebens, für uns, unsere Kinder und Grosskinder und für alle Menschen. Und wie die Menschen damals sind auch wir eingeladen, diesen Weg zu suchen, wir sind eingeladen zum Innehalten, zum Ruhen und die Lebendige zu fragen, wie der glückliche Weg weitergehen kann.

Schenke du allen Menschen Wege der Gerechtigkeit und des Friedens.

Von Madeleine Strub-Jaccoud