Autor: Heidi Berner

25. März

Predige das Wort, stehe dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit.
2. Timotheus 4,2

Vor neun Jahren stiegen wir

im Sommer auf den Preikestolen,

den Predigerstuhl, in Norwegen.

Es ist ein Felsplateau,

600 Meter über dem Lysefjord.

Senkrecht hinunter geht es –

fantastisch ist der Ausblick.

Kein Geländer schützt

vor dem Absturz – trotzdem

oder gerade darum –

war ich geradezu berauscht

von der Exponiertheit,

der Fragilität der Existenz.

Geht es so jenen, die von oben,

von der Kanzel her predigen?

Sind auch sie berauscht?

Ergriffen von der Fragilität

der Gewissheiten?

Wer predigt, exponiert sich,

ist auch an einem Abgrund.

Und ich denke sogar, dass

wirklich gute Predigten sich

immer an den Rand

des Sagbaren trauen.

Auch ohne Kanzel.

Von: Heidi Berner

24. März

Was du, HERR, segnest, das ist gesegnet ewiglich.
1. Chronik 17,27

Sichtbar gesegnet warst du

beim Einzug in Jerusalem,

bejubelt von der Menge.

Wunderbar.

Lang hielt es nicht, das Wunder.

Wir kennen die Geschichte,

in verschiedenen Varianten

wird sie erzählt. Am Ende

hängst du am Kreuz.

Das Ende ist aber eigentlich

ein neuer Anfang.

Weiterhin bist du präsent

in unseren Gedanken,

in unserem Leben.

Bist gesegnet und segnest.

Klar, das ist alles eine Frage

des Glaubens.

Dennoch – ich hoffe,

dass auch Zweifelnde

wie ich ein Quäntchen

vom Segen abbekommen.

Damit wir selber – für uns

und für andere –

zum Segen werden können.

Von: Heidi Berner

Mittelteil März / April

Passion – in Granit gemeisselt von Heidi Berner

Im Herbst 2023 waren wir in der Bretagne. In der Umgebung von Morlaix, östlich von Brest, gibt es ganz besondere umfriedete Pfarrbezirke (enclos paroissiaux). Sie bestehen aus Triumphtoren, Beinhäusern, Calvaires (mehrstöckigen Kreuzen) und reich ausgestatteten Kirchen, alles umgeben von einer Mauer. Diese Bauwerke stammen aus dem 15. bis 17. Jahrhundert. Damals sah die katholische Kirche ihre bretonischen Schäfchen in Gefahr, weil sich ein Teil den Hugenotten zugewandt hatte. Die Gegenreformation setzte daher auch auf prachtvolle Heiligtümer. Dank der florierenden Textilmanufakturen in der Gegend waren die Mittel dafür vorhanden.

Besonders beeindruckend sind die Calvaires mit Szenen von der Weihnachtsgeschichte bis zur Passionsgeschichte. Zuoberst ist jeweils Christus am Kreuz. Die Geschichten hören also beim Karfreitag auf.

Auch im Innern sind die Kirchen reich ausgestaltet. Die folgenden Bilder sind aber alle von den Calvaires, die im Freien stehen.

Versuchen Sie selbst, die Geschichten zu entziffern.

Plougonven, Kirche St. Yves

Plougonven, Kirche St. Yves

Plougonven, Kirche St. Yves

Guimiliau, Kirche St. Miliau

St. Thégonnec, Kirche Notre Dame

St. Thégonnec, Kirche Notre Dame

Pleyben, Kirche St. Germain

Von: Heidi Berner

25. Januar

Wohl dem Volk, das jauchzen kann! HERR, sie
werden im Licht deines Antlitzes wandeln.
Psalm 89,16

Mir geht es gut. Ich freue mich
am bunten Herbst, an Regen,
Wind und Sonnenschein
und an meinen Enkelkindern.
Wie schön wäre doch die Welt,
wenn wir uns alle freuen könnten!
Doch täglich werden wir geflutet
mit Bildern von Gewalt und Hass,
von Zerstörung, Terror, Tod.
Was ist wahr und was ist ausgeblendet?
Es bräuchte einen anderen Fokus
und ein anderes Licht, das uns den Weg
erhellt in eine friedlichere Welt.
Dieses Licht ist ja schon da – ewig.
Es ist eine Glaubenssache,
dieses ganz besondere Licht.
Möge es ins Dunkle scheinen,
auf Wege zur Versöhnung leuchten.
Möge es doch – weltweit – jene stärken,
die oft nicht im Fokus stehen,
die mit ihrer Menschlichkeit
trotzig auf die Hoffnung setzen.
Damit auch unsere Kindeskinder
sich noch am Leben freuen können.

Von: Heidi Berner

24. Januar

Jesus spricht: Siehe, ich bin bei euch
alle Tage bis an der Welt Ende.
Matthäus 28,20

Sie waren völlig verstört damals,
als sie ihn hingerichtet hatten.
Doch dann sahen sie ihn wieder,
noch und noch, hörten ihn reden.
Er tröstete sie, sagte ihnen,
sie sollen sich nicht fürchten,
er sei bei ihnen alle Tage –
bis an der Welt Ende.
Sie erzählten es weiter, setzten darauf
all ihre Hoffnung, glaubten ihm.
Auch heute noch können wir
diesem Versprechen glauben.
Wir sollten endlich aufhören,
uns immerzu zu fürchten,
wir sollen nicht resignieren,
sondern weiterhin auf das Gute
setzen, das Lebensdienliche,
selbst wenn Krieg und Terror
allgegenwärtig sind, wenn es scheint,
die Menschheit sei am Ende.
Das Christentum ist eine Protestbewegung
gegen die Resignation – das habe ich
vor vielen Jahren aufgeschnappt.
Daran halte ich mich.

Von: Heidi Berner

25. November

Seid Täter des Worts und nicht Hörer allein;
sonst betrügt ihr euch selbst. Jakobus 1,22

Wenn wir – zum Beispiel –
die Bergpredigt hören,
ist es die reine Überforderung!
Niemand kann das alles umsetzen.
Es ist schlicht eine Zumutung.
Der Rabbi aus Nazareth allerdings
mutet uns genau dies zu.

Nicht weil er uns auf Leistung
trimmen will, sondern weil er
uns ermutigt, mitzuwirken
an einer heileren Welt.
Wir sind eben nicht nur
Empfängerinnen und Empfänger
göttlicher Gnade,
sondern – ganz bescheiden
und höchst unvollkommen –
Beteiligte, Mitwerkelnde
an dem, was Glaubende
das Reich Gottes nennen.
Dieses Reich ist nämlich
eine Kooperative: Es braucht
uns alle, um zu versuchen,
das zu tun, was gut ist.
Für uns und für die ganze Welt.

von: Heidi Berner

24. November

Gott wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Offenbarung 21,3–4

Manchmal sind sie auf Plakaten, die Tränen.
Am wirkungsvollsten auf einem Kindergesicht.
Denn wir sind darauf programmiert,
Tränen abzuwischen, Not zu lindern,
insbesondere bei Kindern.
Auf den Plakaten aber ist es oft nur
eine billige Masche, um an Geld zu kommen.

Am 8. September bebte die Erde in Marokko,
Häuser stürzten ein, viele Menschen starben.
Ein Zeitungsbild zeigt einige Frauen und Kinder
auf Wolldecken, inmitten von Trümmern.
Die Frauen sitzen da, mit gesenktem Kopf, apathisch.
Ein kleines Mädchen in der Mitte aber
blickt fröhlich zu zwei anderen Kindern hin.
Ich staune. Es hätte allen Grund zum Weinen.
Doch es lächelt.
Das Bild scheint nicht gestellt, ist keine Masche.
Es ist eine irritierende Momentaufnahme
voller Hoffnung in unvorstellbar grosser Not.
Diese Kinder wirken so lebendig und so stark.
Mag sein, dass sie später ihren Müttern, Vätern
die Tränen von den Augen wischen werden.

von: Heidi Berner

25. September

Des HERRN Wort ist wahrhaftig, und was er zusagt,
das hält er gewiss.
Psalm 33,4

Das Wort heisst «ja».
Ja zu dir, ja zu mir, ja zu uns allen.
Um es wahrzunehmen, braucht es keine App
und keine KI. Nur wache Sinne.
Es funkelt mich an, wenn ich den Fenchel
mit der Brause giesse – unzählige winzige Tröpfchen
in den filigranen Blättern funkeln wie Diamanten
in der Morgensonne. Es begegnet mir
als Liebgottkäferli auf einer Schafgarbe.
Ich höre es als «si, si, si» von den Mauerseglern,
die hoch oben in Gruppen durch die Lüfte kurven.
Sogar im lauten Quaken der Frösche ist es.


Das Ja schützt uns davor, von Widrigkeiten
überwältigt zu werden.
Es hilft, zu hoffen und weiter an das gute Leben
zu glauben, Aufgaben anzupacken.
Es hilft, uns selber und andere anzunehmen,
mit allen Unzulänglichkeiten und Macken.
Es hilft uns, dankbar das Gute zu erkennen
und nicht zu verzweifeln angesichts
der täglichen Schreckensnachrichten
aus allen Ecken unserer fragilen Welt.


Manchmal ist es sehr leise, das Ja, aber es ist da.

Von: Heidi Berner

24. September

Ein Samariter, der auf der Reise war, kam dahin; und
als er den Verletzten sah, jammerte es ihn; und er ging
hin zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und
verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn
in eine Herberge und pflegte ihn.
Lukas 10,33–34

Aus meinen Reisenotizen vom 8. April 2023:
Auf einer Treppe zur Unterführung
am Rondo Waszyngtona in Warschau
liegt ein Mann. Er stöhnt, blutet im Gesicht.
Ich hoffe, es hilft ihm jemand, der Polnisch kann.


Ich war dem Verletzten keine Nächste.
Denn er ist es, der das entscheidet,
wie in der Geschichte vom barmherzigen Samariter.
Das habe ich vor Jahren nach einer Predigt kapiert.
Es geht nicht um Nächstenliebe von oben herab, herablassend.
Sondern von unten her –
bestenfalls auf Augenhöhe.


Wie viele gingen wohl an jenem Mann vorbei – wie ich?
Ich hoffe fest, dass er Hilfe erhielt,
an diesem Karsamstag, an dem die Menschen
doch milde gestimmt und empfänglich waren,
sich auf Ostern freuten. Viele sahen wir
mit Körbchen voller Lebensmittel,
die sie bei den Kirchen segnen liessen.
Segen zum Weitergeben.

Von: Heidi Berner

25. Juli

Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen
und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn
in eurem Herzen.
Epheser 5,19

Dona nobis pacem.
Unzählige Male ist das
gesungen worden –
gerade in den letzten
anderthalb Jahren!


Hat es etwas genützt?
Offensichtlich nicht!
Es reicht ein Blick
in die täglichen News:
da ist keine friedliche Welt.
Konflikte gibt es auch
im Kleinen, in der Familie,
in der Nachbarschaft.


Ändern wir die Blickrichtung:
Wir sollen ja einander
mit Singen ermuntern,
weiterhin an Frieden
zu glauben. Trotz allem.
Wir sollen singen, damit
wir die Hoffnung nicht
aus dem Herzen verlieren.
Dona nobis pacem.

Von: Heidi Berner