Kategorie: Mittelteil

Mittelteil Mai / Juni

Boldern – ein Ort der Begegnung und Inspiration
Die Verantwortlichen der Stiftung stellen sich vor


Madeleine Strub-Jaccoud, Präsidentin
Mit Boldern verbindet mich eine lange Geschichte. Seit 2014
versuche ich nun, diesen einmaligen Ort mit all seinen Chancen
in eine gute Zukunft zu führen. Boldern soll als Ort
der Begegnung, der Auseinandersetzung und der Hoffnung
weiterentwickelt werden. Mich fasziniert und motiviert die
Gratwanderung, gesellschaftspolitische, ethische, theologische
und ökologische Themen lebendig zu halten und
gleichzeitig Boldern so zu positionieren, dass die finanzielle
Basis gesichert ist. Dazu dienen in naher Zukunft die Mieteinnahmen
aus der Wohnüberbauung. Als Präsidentin des
Stiftungsrats und des Vorstands des Fördervereins trage ich
gerne die Verantwortung.


Urs Häfliger, Vizepräsident
Ich bin im Jahr 1959 im Zürcher Oberland geboren und aufgewachsen.
Seit 1985 wohne ich im Bezirk Meilen. Ich bin
seit über 30 Jahren verheiratet und habe einen erwachsenen
Sohn. Ich bin seit eh in der Finanz- und KMU-Branche tätig.
Seit meiner Jugend und bis heute engagiere ich mich in
diversen Vereinen und Institutionen (sozial, beruflich, gesellschaftlich,
kirchlich, sportlich). Für mich verpflichtet wirtschaftlicher Erfolg zu nachhaltigen
persönlichen Investitionen in unsere Gesellschaft. Das heisst,
das Wohl der Menschen steht für mich im Mittelpunkt. Dies
motiviert mich sehr, für Boldern aktiv tätig zu sein und das
heutige Boldern auch in eine erfolgreiche Zukunft zu begleiten.


Giampaolo Fabris, Quästor
Als nun pensionierter Banker bin ich im Stiftungsrat für
die Finanzen verantwortlich und vertrete den Stiftungsrat
auch im Verwaltungsrat des Hotels. Mit dieser Funktion als
«Hotelier» erfülle ich mir einen Kindheitstraum.
Es ist es mir auch ein Anliegen, dass Boldern mittels Seminarbetrieb
und Veranstaltungen weiterhin ein Ort der Begegnung
und der Diskussion über soziokulturelle Entwicklungen
bleibt. Die wichtigste Ressource dafür ist die Entwicklung
des Areals. Wenn wir dies auch finanziell geschickt machen,
bleibt Boldern ein geistiger Strahlpunkt.


Dominic Lüthi, Stiftungsratsmitglied
Ich bin Vater von zwei Kindern und Unternehmer. 2008
habe ich eine regionale Bierbrauerei mitbegründet, seit 2013
präsidiere ich das Unternehmerforum Zürichsee und schon
viele Jahre setze ich mich beruflich für Diversität in Verwaltungsräten
und Stiftungsräten ein. Boldern mit seiner Gastronomie und dem Seminarhotel
empfinde ich als einzigartigen Ort der Begegnung mit einer
immensen Geschichte. Weil mir das Aufblühen und der
Austausch von Menschen an diesem Ort am Herzen liegen,
engagiere ich mich seit 2015 als Vorstandsmitglied und jetzt
als Stiftungsrat für Boldern. Meine Hauptaufgaben sind die
Kommunikation, die sozialen Medien und die wirtschaftliche
Vernetzung von Boldern in der Region.


Annette Konrad, Stiftungsratsmitglied
Ich wohne in Herrliberg, bin verheiratet und Mutter zweier
erwachsener Kinder. Seit 2019 arbeite ich als Juristin in der
Führungsmannschaft von Boldern mit, um den Ort Boldern
mit seiner langen Geschichte für die Zukunft zu erhalten.
Ich setze mich dafür ein, dass Boldern als Ort an einmalig
schöner Aussichtslage durch ein gut funktionierendes Hotel
mit einladendem Restaurationsbetrieb und Infrastruktur für
sinnstiftende Veranstaltungen für ein vielseitiges Publikum
attraktiv wird, so dass alle Besuchenden sagen: «Der Weg
nach Boldern hat sich gelohnt.»


Daniel Walser, Stiftungsratsmitglied
Ich bin seit 2001 verheiratet und habe einen Sohn. Seit
2020 bin ich im heutigen Stiftungsrat. Als Baukommissionspräsident
bin ich verantwortlich für die Wohnüberbauung,
welche 60 Wohnungen umfasst. Boldern als Ort mit gesellschaftlichen
und sozialen Themen inspiriert und fasziniert
mich. Verantwortungsvoll zur Entwicklung beizutragen, um
so einen Mehrwert für künftige Generationen zu schaffen,
erfüllt mich mit Stolz.


Dominique Meier, Geschäftsleiterin
Seit mehr als drei Jahren darf ich Teil des Boldern-Teams sein
und jeden Tag aufs Neue die Vielfalt Bolderns erleben.
Mit der Planung und Umsetzung der Wohnüberbauung,
der Weiterentwicklung von «Boldern inspiriert» und
der Gründung der Stiftung wird ein neues Kapitel in der
Geschichte Bolderns aufgeschlagen. Es freut mich sehr, dass
ich Teil dieses Kapitels sein darf und die Geschichte Bolderns
aktiv in der Rolle der Geschäftsleiterin mitgestalten kann.

Mittelteil März / April

Die neue Redaktorin Heidi Berner stellt sich vor:

Persönliches
Ich wurde am 13. August 1955 geboren und wuchs in Faulensee
am Thunersee auf. Nach der Schulzeit in Faulensee, Spiez
und Interlaken (Gymnasium) studierte ich in Bern Biologie.
Mein Spezialgebiet ist die Gewässerbiologie: In meiner Diplom-
und Doktorarbeit untersuchte ich die Populationsdynamik
von Rädertieren, kleinen mehrzelligen Planktonlebewesen
mit grosser Formenvielfalt.
An der Uni Bern lernte ich meinen Mann Peter kennen,
ebenfalls Gewässerbiologe. Seit 1986 wohnen wir in Lenzburg.
Wir haben drei Kinder und drei Enkelkinder.


Beruf
Nach dem Studium übernahm ich gewässerbiologische Aufträge.
Einerseits waren dies Bestandesaufnahmen der wirbellosen
Kleintiere in Fliessgewässern, andererseits seit über
zwanzig Jahren das Auszählen von Planktonkrebschen von
Neuenburger- und Murtensee im Rahmen eines umfassenden
interdisziplinären Kontrollprogramms (www.die3seen.ch).
Wegen meiner politischen Tätigkeit geriet die Biologie als
Erwerbszweig eher ins Hintertreffen. In den Lenzburger Neujahrsblättern
durfte ich, teils zusammen mit meinem Mann,
Artikel zur Natur in und um Lenzburg beisteuern, vorletztes
Jahr über den Aabach, einen Zufluss der Aare, und was darin
kreucht und fleucht.

Politik
Von 1994 bis 2017 war ich für die Evangelische Volkspartei
EVP politisch tätig: 1994 bis 2003 im Einwohnerrat (Gemeindeparlament),
1996 bis 2004 im Grossen Rat (Kantonsparlament)
des Kantons Aargau und 2004 bis 2017 im Stadtrat
(Exekutive) von Lenzburg. Im Stadtrat war ich die ganzen
vierzehn Jahre für das Ressort Soziales / Gesundheit zuständig.
Ich lernte in diesem Amt als Präsidentin der Sozial- und
der Einbürgerungskommission sehr viele Menschen von
Jung bis Alt mit ihren Geschichten kennen.
Im Rahmen des Stadtratsmandats war ich in diversen Trägerschaften
im Sozial- und Gesundheitsbereich und übernahm
von 2007 bis Mitte 2022 das zeitintensive Präsidium
der Trägerschaft unseres Alterszentrums. Freude bereitete
mir die Mitarbeit in der Redaktion der Hauszeitung «mülizytig
». Für dieses Blatt, das seit Dezember 2008 viermal
jährlich erscheint, werde ich weiterhin Beiträge schreiben.


Schreiben
Die Formenvielfalt von Rädertieren und Hüpferlingen, Kieselalgen
und Eintagsfliegen faszinierte mich bereits während
meines Biologiestudiums.
In einer kirchlichen Frauengruppe entdeckte ich später
eine ebenso reiche Welt, die oft im Widerspruch zu meinem
naturwissenschaftlichen Weltbild stand. Ich begann meine
Gedanken zu notieren und mit anderen zu teilen. So kam ich
schliesslich 2003 für fünf Jahre in die Redaktion des Aargauer
Kirchenboten.

Seit mehreren Jahren schreibe ich jeden Tag einen kleinen
Text. Es sind eine Art Tagebuch-Miniaturen. Oft dienen
mir diese Notate als «Steinbruch» für meine Bolderntexte.
Einige Beispiele finden Sie nachfolgend.
Auf wundersam verschlungenen Pfaden landete ich nämlich
2013 im Team der Bolderntexte. Die Losungen sind in
ihrer Fremdheit und Widerspenstigkeit inspirierend: Was
heisst das hier und heute? Für Gläubige und Ungläubige?
Im Jahr 2019 gewann ich im Schreibwettbewerb der Zürcher
Landeskirche zur Frage «was fehlt, wenn Gott fehlt?» den
zweiten Preis mit meinem Beitrag «Creux du Van».
Mit der Aufgabe als Redaktorin der Bolderntexte kann ich
meinem Lebenslauf ein weiteres spannendes Kapitel anfügen.

Einige Miniaturen

19. Mai 2012
Pfützen
Es gibt fast keine
Pfützen mehr.
Schade, denn
sie spiegeln uns ein
Stück Himmel
auf die Erde.
Nur Kinder sind
in der Regel
mutig genug
hineinzuspringen.

31. Oktober 2015
Oase
Begegnungen in der Oase,
Raum der Stille, Raum
für Stille. Zur Ruhe kommen,
allein und gemeinsam.
Sich darauf einlassen,
loslassen. Den Segen
weitertragen.
(… nach einem Treffen mit den Autorinnen und Autoren auf
Boldern)
Mittelteil

02. September 2018
Stille
Es ist sehr still
in der Kirche
in einer Sequenz
der Stille.
Eine Wohltat.
Die Worte haben
mich weniger
überzeugt.

29. Juli 2019
Glück

Aufgewacht nach kurzer
Siesta in der Hängematte,
einen Augenblick bloss
gewusst: So ist Glück.

08. Januar 2021
Zackenrädchen
Ich bin privilegiert.
Wer schon kennt
das Zackenrädchen?
Heute hundertfach
gesehen, bewundert,
gestaunt über die Form.
Wie ein Schmuckstück
sieht sie aus,
diese Algenkolonie.
Dem blossen Auge
verborgen, nur sichtbar
unter dem Binokular.
Am 9. September 2020
hat es Tausende
dieser natürlichen
Kunstwerke
im Neuenburgersee.

08. Dezember 2021
Werkeln

Das Werkeln mit Texten
ist erfüllend und schön.
Es ist, wie wenn ich
Lehm in den Händen hätte.
Sprache zum Formen.

23. Januar 2022
Zählen

«Weisst du, wie viel Sternlein stehen» –
dieses Lied sollen sie dann einmal
singen, wenn sie mich verabschieden.
Das habe ich mir heute gedacht
beim Plankton-Zählen.
Auf jeden Fall weiss ich, wie viele
Wasserflöhe und Hüpferlinge
im Neuenburgersee waren, natürlich
nur als Stichprobe vom 22. Juli 21.
Die ganze grosse Zahl kenne ich
natürlich nicht, niemals. Da kann ich
zählen, so lange ich will.

26. Juni 2022
Messer

Wieder mit dem Messer
am Hals einige Texte
fertig geschrieben.
Geht doch.
Die Haut ist noch intakt.

15. Dezember 2022
Käthi
Keine Antwort
auf meine Mail
von heute Morgen.
Sonst war sie immer
so schnell.
Kurz vor neun Uhr
abends dann
eine Nachricht
vom Sohn.
Sie sei gestorben
in der Nacht vom auf den 14.
Traurig.

Von: Heidi Berner

Mittelteil Januar / Februar

Was von der Versammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen
bleibt und Hoffnung schenkt
:


Vom 31. August bis 8. September 2022 kamen in Karlsruhe
Menschen aus allen Erdteilen zusammen, um miteinander
Gottesdienst zu feiern, über die Kraft des Evangeliums nachzudenken
und die Zukunft zu gestalten. Auch verschiedene
Bolderntexte-Autorinnen und -Autoren nahmen an der Versammlung
teil. Sie erzählen hier von einem persönlichen
Erlebnis, das sie ermutigt hat und sie in Erinnerung begleiten
wird.


Der Geist des Pfingstfests ist lebendig
Von: Barbara Robra
Viertausend Menschen aus aller Welt strömen in das grosse
Zelt im Zentrum des Karlsruher Messegeländes. An diesem
luftigen Ort unter freiem Himmel spüren wir den Geist Gottes,
der uns in aller Verschiedenheit verbindet. Wenn Tag
für Tag Menschen aus 120 Ländern das Gebet, das Jesus uns
gelehrt hat, in ihrer Muttersprache zur gleichen Zeit laut
beten – dann ist das ein Pfingstwunder.
Wenn Menschen aus Israel und Palästina, aus Russland
und der Ukraine, wenn Katholiken, Orthodoxe, Reformierte,
Lutheraner, Anglikaner, Muslime, Juden, Buddhisten,
Pfingstler, Evangelikale miteinander reden und miteinander
Mittelteil
beten – dann ist der Geist des Pfingstfests lebendig. Hier
wird geweint, unfassbares Leid geteilt und mitgeteilt. Hier
wird gelacht, Freude und Hoffnung werden weitergegeben.
Sich öffnen, zuhören, eigene Urteile und Vorurteile hinterfragen,
das Gespräch suchen, gemeinsam die nächsten Schritte
wagen – das prägt diese Vollversammlung.
Junge Menschen, Frauen, Indigene und Menschen mit
Behinderungen haben sich zu Vorversammlungen in Karlsruhe
getroffen. Ihre Analyse und ihre Botschaft sind klar
und scharf: Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Wir dürfen
nicht zulassen, dass weiterhin Menschen sinnlos in Kriegen
getötet werden, Menschen von elementaren Lebensgrundlagen
ausgeschlossen sind. Wir fordern Teilhabe aller statt
Bereicherung weniger. Wir wollen Kommunikation und
Kooperation statt Konfrontation. Wir brauchen Taten und
nicht nur Worte. Das lese ich in den Dokumenten, die die
Vollversammlung verabschiedet hat.

Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt –
und sie integriert!

Von: Gert Rüppell
Es war atemberaubend, was Fadi El Halabi und Karen Abou
Nader im Plenum zu Gerechtigkeit und Menschenwürde auf
die Bühne brachten. Beide stammen aus dem Libanon. Er ein
Psychotherapeut, schwerbehindert im Rollstuhl, Vorsitzender
der Regionalen Ökumenischen Vereinigung der Behinderten
(EDAN), Karen arbeitet als internationale Tänzerin
und Choreographin. Beide boten im Plenum einen gemeinsamen
Tanz (Rollstuhl / Ballett) an, der einem den Atem stocken
liess und dessen Schönheit und Grazie zugleich an die
enormen Möglichkeiten und die Gaben verwies, die behinderte
Menschen in unsere Gemeinschaft einbringen.
Wie viele Menschen sind weiterhin behindert und werden
nicht genügend zur Kenntnis genommen? Die Schwerbehinderten
möglicherweise schon, aber die psychisch Schwerkranken,
die Epileptiker und Neurobehinderten? Werden
sie nicht weiterhin ausgegrenzt, auch wenn sie so viele Möglichkeiten
anzubieten haben? Das 4. Plenum in Karlsruhe hat
mich an diesem Punkt zum Nachdenken gebracht, ebenso
wie die Resolution der EDAN-Vorversammlung, die auf eine
Ausweitung des Behindertenbegriffs und eine erweiterte
Behindertenintegration in unseren Gemeinden verweist.
Inwiefern hängen Versöhnung und Integration zusammen?
Mögen die vielen Kirchenvertreterinnen und -vertreter dies
als Mitbringsel in ihren Gemeinden umsetzen.

Wenn ich atme, lebt der Planet
Von: Matthias Hui
An der Vollversammlung hörte ich die Geschichte der indigenen
Munduruku-Gemeinschaften in Brasilien. Zwei Vertreterinnen,
die mich sehr beeindruckten, erzählten vom
Kampf gegen gigantische Staudammprojekte, Eisenbahnlinien
und Goldminen am Rio Tapajós, mitten im Amazonasgebiet.
Die Ausbeutung von Bodenschätzen, Energiequellen
und Anbauflächen frisst sich gewaltsam in ihre Lebensräume,
in ihr Gemeinschaftsleben und in ihre Seelen hinein.
Der Sojaanbau grassiert – gigantische Waldflächen werden
für den Fleischverzehr im Globalen Norden gerodet. Es sind
vor allem Frauen, die sich wehren: «Wir werden uns nicht
korrumpieren lassen, wir werden nicht weichen.» Denn, so
sagen sie in spiritueller Sprache: Es geht um alles. Nicht nur
um Menschenrechte, nicht nur um den Regenwald. «Die
Natur sind wir. Unsere Lebensweise ist unsere Umwelt. Wenn
ich atme, lebt der Planet.»
Ökumene wäre, wenn diese Frauen, die sich auch als Christinnen
verstehen, in unseren Kirchen gehört würden. Übrigens
heisst ein überzeugendes Dokument der Vollversamm-
lung «Der lebende Planet: Auf der Suche nach einer gerechten
und nachhaltigen globalen Gemeinschaft».

Apartheid in Israel?
Von: Elisabeth Raiser
Zu den heissen Themen der Vollversammlung gehörte die
spannungsreiche Lage im Nahen Osten.
Ich sehe und höre noch Munther Isaac, den jungen Pfarrer
der Weihnachtskirche in Bethlehem, mit bewegter Stimme
sagen: «Wir befinden uns jenseits, also hinter der Mauer. Die
meisten Israelis sind dort nie gewesen, sie dürfen ja nicht
kommen und kennen unsere Lage nicht. All unsere Appelle
und Bitten haben nichts genützt. Daher fordern wir jetzt,
dass Israel zum Apartheidstaat erklärt wird, damit der Internationale
Strafgerichtshof ermitteln kann.»
Diese engagierte kurze Rede war eine Antwort auf eine Intervention
von mir, bei der ich in einem Workshop des Netzwerks
Kairos Palästina einige Einwände gegen den Begriff
Apartheid für Israel vorgebracht hatte: Er gefährde die Arbeit
der Freiwilligen des ökumenischen Begleitprogramms in
Palästina und Israel (EAPPI) und er führe hier in Deutschland
zu einer unguten Polarisierung der Debatte um den Frieden
im Nahen Osten. Munther Isaacs Erwiderung hat mich sehr
bewegt und lässt mich seither nicht in Ruhe.
Die Vollversammlung selber machte sich den Apartheidbegriff
für Israel nicht ausdrücklich zu eigen, verabschiedete
aber eine Erklärung, dass er im Ökumenischen Rat genau
untersucht und besprochen werden muss. Das ist ein wichtiges
Signal, auch für uns in Deutschland!


Christ’s love moves the world to reconciliation and unity
Von: Annegret Brauch
Im Vorfeld der Vollversammlung hatte ich noch aktiv an der
Bewerbung für Karlsruhe mitgearbeitet, jetzt – seit Monaten
im Ruhestand – konnte ich als Freiwillige im Catering
und als Gastteilnehmerin mit dabei sein – und wurde reich
beschenkt.
Begeistert und tief beeindruckt hat mich, wie klar, respektvoll,
offen und freundlich und voller Vertrauen in die
Verbindung stiftende Liebe Christi Teilnehmende und Gäste
miteinander kommunizierten. Mit welcher Ernsthaftigkeit
und Tiefe mit- und umeinander gerungen wurde, gerade bei
politischen und theologischen Differenzen, um beieinander
zu bleiben, bewegt von Christi Geist der Versöhnung und
seiner Bitte um Einheit (vgl. Johannes 17,21). Reinhild Traitler
hat einmal gesagt:
«Wahrheit als Dialog unter den Verschiedenen, als Prozess,
der unter Umständen nur die Anerkennung der Unvereinbarkeit
der Verschiedenen bringt, ist ein heiliger Raum, weil
dieser Prozess uns verbindet und davor bewahrt, auseinanderzufallen.»
In Karlsruhe wurde diese Wahrheit spürbar.

Berührt haben mich die Gottesdienste unterm grossen Zelt:
der Reichtum und die Unterschiedlichkeit der Klänge, Stimmen
und Rhythmen, die sich unter Gottes Geist zu einem
vielstimmig-einigen Lob und Dank zusammenfanden.
Tief bewegt hat mich das Grusswort der Generalsekretärin
von «Religionen für den Frieden», Professorin Azza Karam.
Vielleicht mögen Sie es sich selbst anschauen?!
https://www.youtube.com/watch?v=-Yp8ji2xrns (ab Min. 21)

Mittelteil

Meine Seele läuft barfuss dem Wort hinterher

Von Ruth Näf Bernhard

Eine Bäuerin hatte mir einst erzählt, dass man Verse aus dem Lukasevangelium auf Zettel schreibe und dann den Kühen zu fressen gebe, um sie vor Seuchen zu schützen. Auch unheilbar Kranke bekämen solche Verse als Nahrung. Und Frauen während einer schweren Geburt. Ob das stimmt, das weiss ich nicht. Doch die Geschichte ist mir geblieben.

Im Unterricht erzählte uns der Pfarrer Geschichten aus der Bibel. Vom barmherzigen Samariter. Vom verlorenen Sohn. Wir haben immer heimlich einen Wecker gestellt und diesen irgendwo im Schulzimmer versteckt. Weil der Pfarrer nicht zeitig aufhören konnte. Von einem Lukas haben wir wohl nichts gehört. Aber die Geschichten sind mir geblieben.

Irgendwann war ich selber Pfarrerin. Lukas hatte ich nun kennengelernt. Während des Studiums historisch-kritisch ausgelegt. Hintergrund und Zusammenhänge zu erfassen versucht. Theologische Kommentare zum Evangelium gelesen. Verglichen. Verworfen. Spekuliert. Die Geschichten sind mir dennoch geblieben.

Eine hoch betagte Frau bat mich darum, mit ihr das Lukasevangelium zu lesen. Und zwar das ganze. Und am liebsten gleich auch noch mit ihr zu besprechen. Die Kirche war ihr fremd geworden. Doch sie fühlte sich Maria irgendwie nahe. Gerade jetzt im Advent. In ihrem wahrscheinlich letzten.

Advent. Sie erinnerte sich an die Begegnung von Maria und Elisabeth. Wie das Kind im Leibe hüpfte. Das sei so innig. So zärtlich schön. Diese Geschichte war ihr geblieben.

Ein junger Mann, sterbenskrank, der seit Jahren am Rande der Gesellschaft lebte, äusserte einen letzten Wunsch. Er, der kaum noch sprechen konnte, wollte die Weihnachtsgeschichte hören. So, wie man sie in der Kirche erzähle. So wie er sie als Kind gehört habe. Und wenn möglich mit Bildern. Mitten im Sommer die Weihnachtsgeschichte. In Worten und Bildern. Sie war ihm geblieben. Bis in den Tod.

Lukas ist mir immer vertrauter geworden. Doch ich wollte mich neu berühren lassen. Darum habe ich nochmals zu lesen begonnen. Das ganze Lukasevangelium. Jede Woche einen Tag. Jede Woche ein Kapitel. Von Kapitel 1 bis Kapitel 24. Immer schön der Reihe nach. Von der Adventszeit bis zur Himmelfahrt. Ich bin mit Lukas spazieren gegangen. Bei jedem Wind und Wetter. Unabhängig von meiner Tagesform. Ich habe zuerst das Kapitel gelesen. Habe hingehört. Gehorcht. Gelauscht. Mich davon bewegen lassen. Und auf diesem Weg vieles entdeckt. Beim Hinhören habe ich Worte gefunden. Es sind Gedichte darausentstanden. Gedichte, die oft zu Gebeten werden. Es sind immer nur einzelne Verse verdichtet. Jene, die mir etwas zu sagen hatten. An jenem Tag. In jenem Moment. Ohne dass ich es begründen könnte. Ich gehe nicht davon aus, dass meine verdichteten Bibelverse Kühe vor Seuchen schüt- zen werden. Auch Frauen während einer schweren Geburt werden sie wohl kaum Linderung verschaffen. Aber vielleicht ermutigen sie, etwas plötzlich anders zu sehen. Neu zu denken. Freier zu glauben. Und wenn nun auch ich einen sage jWunsch frei hätte: Lassen Sie es nicht bei den Häppchen bleiben. Hören Sie auf den ganzen Text. Nehmen auch Sie die Bibel zur Hand. Lesen Sie das Evangelium. Jedes Kapitel in seiner Tiefe. Immer schön der Reihe nach. Lassen Sie sich berühren. Zwischen den Zeilen. Lassen Sie sich bewegen. Vom Wort, das Sie findet. Damit es nicht mit der Weihnachtsgeschichte schon aufhört. Denn das ist erst der Anfang.

Lukas 1,38

Da sagte Maria: Ja, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast! Und der Engel verliess  sie.

geschehen lassen

was

geschehen will

sich  nicht

dem leben

entgegenstellen

es wieder üben

ja zu sagen

sich

dieser freiheit

anvertrauen

ja

ich sage

ja

Mittelteil September / Oktober

Das Hoffnungswissen
Von Madeleine Strub-Jaccoud, Präsidentin des Trägervereins Boldern

Es ist an der Zeit, Sie, liebe Leserinnen und Leser, mitzunehmen auf den Weg, den Boldern geht. Dabei spielen die Bolderntexte eine wesentliche Rolle: Sie sind unsere Praxis Pietatis auf dem Weg in die Zukunft. Die Vielfalt der Texte und ihre konstante Reflexion biblischer Worte sind eine wichtige Grundlage. Diese Konstanz zu erhalten, ist ein Ziel. Die Bolderntexte bauen das auf, was wir alle brauchen und was für Boldern wohl das Wichtigste ist: Die Texte helfen, das biblische Hoffnungswissen zu vertiefen; gleichzeitig sind sie fest verankert im Kontext unserer Realität. Denn die Geschichte von Boldern ist eine Hoffnungsgeschichte und wird weitergeschrieben, der Weg dieses einmaligen Ortes führt in eine gute Zukunft.

Die Vision
Der Vorstand des Trägervereins Boldern, der bald der Stiftungsrat der gemeinnützigen, steuerbefreiten Stiftung Boldern sein wird, lebt die Vision, auf welcher seine Arbeit beruht: «Boldern inspiriert Menschen, sich für eine solidarische Gesellschaft und nachhaltige Lebensräume zu engagieren.» Ein weite Vision, die immer ermutigt zu konkreten Schritten auf dem Weg.

Wohnen auf der Seeterrasse
Nachdem die Reformierte Landeskirche des Kantons Zürich 2012 ihre Subventionen eingestellt und die verbleibenden Studienleiterinnen und Studienleiter in die gesamtkirchlichen Dienste integriert hatte, stellte sich die Frage nach der Zukunft. Die grosse Landreserve, über die Boldern seit der Gründung verfügt, wird überbaut mit einer nachhaltigen Wohnsiedlung. Diese wird ca. 55 Wohnungen zur Miete zur Verfügung stellen. Die Mietpreise sollen fair sein, die ganze Siedlung ist so aufgebaut, dass sie zur Gemeinschaft einlädt. Die Gestaltung der Aussenräume ist nicht nur nachhaltig und ökologisch, sondern verbunden mit der Natur auf dem Plateau von Boldern. Die Wohnsiedlung ist durch ein Wegnetz mit dem Plateau verbunden, sie ist offen und wird eine hohe Lebensqualität ermöglichen. Die Mieteinnahmen werden wesentlich dazu beitragen, die finanzielle Situation von Boldern zu sanieren. Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg in die Zukunft. Wir hoffen, dass der Bau nach dem Bewilligungsverfahren Ende 2023 beginnen kann.

Die Stiftung und der Förderverein
Der Trägerverein Boldern hat an seiner Vereinsversammlung vom 7. Mai 2022 eine Urabstimmung zur Gründung der Stiftung Boldern und zur Übertragung des gesamten Vermögens an diese Stiftung angeordnet. Die Stiftung soll die strukturelle Grundlage von Boldern bilden. Sie garantiert, dass der Weg weitergeht und auch von den reformierten Kirchgemeinden wieder vermehrt wahrgenommen wird als Ort der Begegnung und der Kraft. Der Förderverein Boldern wird die Aufgabe haben, die Geschichte von Boldern zusammen mit der Stiftung weiterhin fortzuschreiben. Er soll sein Netzwerk als Unterstützung namentlich des Kerngeschäfts
«Boldern inspiriert» nutzen, vergrössern und sich beteiligen. Viele Kirchgemeinden sind Mitglieder des Trägervereins geblieben. Nach wie vor sind wir überzeugt, dass Boldern einen wichtigen Beitrag leisten kann zur Entwicklung von Kirche im weitesten Sinn. Die Vision von Boldern, welche auf die Zukunft ausgerichtet ist, lädt ein, sich auf die Menschen einzulassen, auf sie zu hören, sie mit ihrer Geschichte und ihrer Lebenssituation ernst zu nehmen und mit ihnen die Gesellschaft und somit die Zukunft zu gestalten.

Boldern inspiriert
Das Kerngeschäft von Boldern ist es, Menschen dafür zu gewinnen, einander zu begegnen, sich auszutauschen, sich auseinanderzusetzen, sich einzusetzen. Das Hoffnungswissen und die Offenheit für alle, die Inklusion und die Partizipation sind dabei wichtige Leitplanken. Seit Beginn der Arbeit des jetzigen Vorstandes des Trägervereins konnten wir dank ehrenamtlicher Arbeit einladen zu Veranstaltungen in den Reihen «theologisch boldern», «politisch boldern»,
«literarisch boldern» und «ökologisch boldern». Gewiss, nach der langen Zeit der Krise musste dieser Bereich mit viel Hoffnung neu aufgebaut werden. Das hat Kraft gekostet und war nicht immer von Erfolg gekrönt. Aber auch da: Konstanz, Vielfalt und das Weiterentwickeln des Hoffnungswissens waren und sind das Anliegen. Die Stiftung Boldern wird diesen Bereich verstärken.

Das Hotel Boldern
Nachdem der jetzige Vorstand seine Arbeit aufgenommen hatte, hat er sofort an der Sanierung des Hotels gearbeitet. Der Ort soll nicht nur erhalten bleiben, sondern geöffnet werden für ein breites Publikum. Das ist dem Hotel Boldern weitgehend gelungen. Dafür sind wir enorm dankbar, denn der Ort lebt wieder. Allerdings ist uns klar, dass das Hotel in die Jahre gekommen ist und nicht mehr ganz den Ansprüchen unserer Zeit entspricht. Und so sind wir, der Vorstand und die Aktiengesellschaft Hotel Boldern, daran, auch da eine gute Zukunft zu planen.

Die Verbundenheit mit der Natur
Das Plateau Boldern entwickelt sich zu einer ökologischen Oase. Es strahlt, wenn die Blumen der Naturwiesen blühen, es bietet Ruhe und Weitsicht. Es lädt ein zur Begegnung mit wieder mehr Vogelarten, hie und da Rehen und sogar mit einem Wiesel. Es bildet mehr und mehr auch Heimat für Igel und andere Tiere, für Insekten und Schmetterlinge.

Das Netzwerk Boldern
Boldern ist nicht mehr allein auf dem Hügel, sondern mehr und mehr vernetzt mit anderen Organisationen mit ähnlichen Zielen. So arbeiten wir eng zusammen mit dem Verein Appisberg, einem Kompetenzzentrum für berufliche Integration. Bereits haben wir einen Vertrag geschlossen, der ermöglicht, dass der Appisberg die Verwaltung unserer Liegenschaften verantwortet. Die Anna Zemp Stiftung ist mit ihrem nachhaltigen Garten und ihren Aktivitäten unsere Nachbarin. Mit ihr und dem Natur- und Vogelschutzverein Männedorf-Uetikon besteht eine Zusammenarbeit, die alle bereichert.

Für Sie, die Leserinnen und Leser, die Autorinnen und Autoren und die Redaktorinnen, gibt es kein Schlusswort, aber einen Ausblick. Voller Dankbarkeit schaue ich zurück auf die Jahre der Weiterentwicklung von Boldern nach der grossen Leere. Sie ist Vergangenheit. Und der Weg in die Zukunft ist vorgezeichnet von Hoffnung, von der Überzeugung, dass Boldern wieder ein Ort wird, der den Menschen und der Welt, auch in ihrem jetzigen Zustand, zugewandt ist. Und auch ganz persönlich: Boldern war und ist für mich und für viele andere ein Ort des Lebens, ein Ort der Kraft und der Gestaltung, des Hörens und des Lernens. Die Konstanz und die Verlässlichkeit der Bolderntexte waren und sind wesentlich. Sie tragen das Hoffnungswissen der biblischen Texte weiter auf einem Weg, der zum «gesegneten Ort Boldern» gehört, wie es der Referent aus Berlin an der Langen Pfingstnacht Anfang Juni formuliert hat …

Madeleine Strub-Jaccoud
Präsidentin des Trägervereins Boldern

Mittelteil Mai / Juni

«mächtig stolz»

«mächtig stolz» – das ist der Titel einer Textsammlung,  die im Mai erschienen ist. 70 Frauen erinnern sich an die Anfänge und Entwicklungen der feministischen Theologie und der Frauen-Kirche-Bewegung in der Schweiz. Eine von diesen Autorinnen ist Ihnen wohlbekannt: Reinhild Traitler. Im Folgenden ein Ausschnitt aus ihrem Text über ihre Jahre als Studienleiterin von Boldern von 1984 bis 2003.

… Das am Fuss des Zürichbergs in der Voltastrasse gelegene Boldernhaus war das Stadthaus des Evangelischen Tagungszentrums Boldern bei Männedorf …

Das Boldernhaus war schon seit längerer Zeit schwerpunktmässig ein «Frauenhaus» gewesen. In der Wohnung im zweiten Stock, in die ich nun einziehen würde, hatten viele Jahre lang zwei Ikonen der Schweizer Frauenbewegung residiert: Marga Bührig und Else Kähler.

… Feminismus – die Vokabel war mir damals zwar bereits geläufig, aber noch etwas blass. Ich hatte jahrelang mit gescheiten Männern zusammengearbeitet, für welche die Frauenfrage ein «Nebenwiderspruch» war. Zudem machte ich im ÖRK immer wieder die Erfahrung, dass Frauen ihre Anliegen in einer anderen Sprache und durch andere Vermittlungen darstellen wollten und deswegen oft nicht gehört oder ernst genommen wurden. Auch war das, was wir feministische Theologie nannten, kein Monolith, sondern eher ein Konglomerat, das die unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen unter dem Stichwort «Erfahrung» ebenso einbezog wie kreative Formen des Ausdrucks oder liturgische Experimente wie ein «Abendmahl am Küchentisch». Wir fragten nach, inwieweit der weibliche Körper die soziale Existenz von Frauen geprägt hatte und noch prägte und wie das sichtbar gemacht werden konnte …

… Die viel zu grossen Erwartungen und die Hoffnung, dass daraus dennoch etwas werden könnte, all das stand auf einmal vor mir bei meinem Einzug ins Boldernhaus in diesem August 1984. Als wir im Eiltempo die Wohnung eingerichtet hatten, waren auch schon die Frauen an der Tür, die mir helfen wollten, das Haus nach der Pensionierung von Marga Bührig und Else Kähler neu zu positionieren. Einige von ihnen hatte ich in den Anfangswochen in Zürich bereits kennengelernt. Besonders Pfarrerin Dora Wegmann war in dieser Zeit des Sich-Zurechtfindens eine grosse Hilfe. Bei vielen Tassen Kaffee hörte ich von der langen Tradition von Frauenarbeit im Boldernhaus, die vor allem auf Angebote zur Lebenshilfe fokussiert war.

Bei diesen Gesprächen mit einem langsam grösser werdenden Kreis von Frauen ging es letztlich immer wieder um die mangelnde Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Leben, auch im öffentlichen Leben der Kirchen; also um die Teilhabe von Frauen an der Macht und damit an der Möglichkeit, das Leben der Gemeinschaft mitzugestalten. Schliesslich ging es auch um die kritische Betrachtung des privaten Raums als eines ambivalenten Ortes, wo Frauen nicht nur Schutz erhielten, sondern auch Gewalt erlitten. Schon damals und nicht erst   mit der #MeToo-Bewegung haben sich Frauen mit sexueller Gewalt in all ihren Formen auseinandergesetzt: von der unsichtbaren häuslichen Gewalt bis zu brutalster sexueller Gewalt an Frauen als Mittel der Kriegsführung, etwa im Bosnienkrieg.

Theologisch fragten wir nach, was es bedeutet, dass die Menschen im biblischen Schöpfungsverständnis nach dem Bild Gottes geschaffen sind. Da sie sich von diesem Gott kein Bildnis machen dürfen, waren sie auf Bilder von sich selbst zurückgeworfen. Und da mussten Frauen entdecken, dass Gottebenbildlichkeit in der christlichen Tradition weitgehend Mann-Ebenbildlichkeit bedeutet hatte. Frauen wurden von Männern gedacht, beschrieben, gemalt, besungen, aus der Perspektive von Männern «erfunden» und beherrscht. Kurz: Die Definitionsmacht über weibliche Existenz hatten Männer …

… Die entstehende Arbeits- und Begleitgruppe «Feministische Theologie» war sich bald einig: In den kommenden Jahren wollten wir uns schwerpunktmässig mit den Gottes- und Menschenbildern unserer Tradition auseinandersetzen und nachfragen, ob und wie in ihnen Erfahrungen von    Frauen gespiegelt sind: Unterdrückungserfahrungen, aber auch Utopien von Befreiung und gelungenem Leben. Und welche Konsequenzen das für ein Frauen-Menschenbild hätte.

Mit dabei war nun auch Gina Schibler, die junge Pfarre- rin, die der Vorstand des Boldernvereins für das Ressort «Persönliche Lebensgestaltung» ins Studienleitungsteam gewählt hatte und die 1985 ihre Arbeit aufnahm. Wir waren uns schnell einig, dass wir ein grösseres feministisch-theologisches Projekt gemeinsam entwickeln wollten.

Von Reinhild Traitler

«mächtig stolz». 40 Jahre Feministische Theologie und Frauen-Kirche-Bewegung in der Schweiz, hg. von Doris Strahm und Silvia Strahm Bernet, unter Mitarbeit von Monika Hungerbühler, eFeF-Verlag, 2022. ca. 300 Seiten, Fr. 40.–.

«Mächtig stolz»

«mächtig stolz» – das ist der Titel einer Textsammlung,   die im Mai erschienen ist. 70 Frauen erinnern sich an die Anfänge und Entwicklungen der feministischen Theologie und der Frauen-Kirche-Bewegung in der Schweiz. Eine von diesen Autorinnen ist Ihnen wohlbekannt: Reinhild Traitler. Im Folgenden ein Ausschnitt aus ihrem Text über ihre Jahre als Studienleiterin von Boldern von 1984 bis 2003.

… Das am Fuss des Zürichbergs in der Voltastrasse gelegene Boldernhaus war das Stadthaus des Evangelischen Tagungszentrums Boldern bei Männedorf… Das Boldernhaus war schon seit längerer Zeit schwerpunktmässig ein «Frauenhaus» gewesen. In der Wohnung im zweiten Stock, in die ich nun einziehen würde, hatten viele Jahre lang zwei Ikonen der Schweizer Frauenbewegung residiert: Marga Bührig und Else Kähler.

… Feminismus – die Vokabel war mir damals zwar bereits geläufig, aber noch etwas blass. Ich hatte jahrelang mit gescheiten Männern zusammengearbeitet, für welche die Frauenfrage ein «Nebenwiderspruch» war. Zudem machte ich im ÖRK immer wieder die Erfahrung, dass Frauen ihre Anliegen in einer anderen Sprache und durch andere Vermittlungen darstellen wollten und deswegen oft nicht gehört oder ernst genommen wurden. Auch war das, was wir feministische Theologie nannten, kein Monolith, sondern eher ein Konglomerat, das die unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen unter dem Stichwort «Erfahrung» ebenso einbezog wie kreative Formen des Ausdrucks oder liturgische Experimente wie ein «Abendmahl am Küchentisch». Wir fragten nach, inwieweit der weibliche Körper die soziale Existenz von Frauen geprägt hatte und noch prägte und wie das sichtbar gemacht werden konnte …

… Die viel zu grossen Erwartungen und die Hoffnung, dass daraus dennoch etwas werden könnte, all das stand auf einmal vor mir bei meinem Einzug ins Boldernhaus in diesem August 1984. Als wir im Eiltempo die Wohnung eingerichtet hatten, waren auch schon die Frauen an der Tür, die mir helfen wollten, das Haus nach der Pensionierung von Marga Bührig und Else Kähler neu zu positionieren. Einige von ihnen hatte ich in den Anfangswochen in Zürich bereits kennengelernt. Besonders Pfarrerin Dora Wegmann war in dieser Zeit des Sich-Zurechtfindens eine grosse Hilfe. Bei vielen Tassen Kaffee hörte ich von der langen Tradition von Frauenarbeit im Boldernhaus, die vor allem auf Angebote zur Lebenshilfe fokussiert war.

Bei diesen Gesprächen mit einem langsam grösser werdenden Kreis von Frauen ging es letztlich immer wieder um die mangelnde Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Leben, auch im öffentlichen Leben der Kirchen; also um die Teilhabe von Teilhabe von Frauen an der Macht und damit an der Möglichkeit, das Leben der Gemeinschaft mitzugestalten. Schliesslich ging es auch um die kritische Betrachtung des privaten Raums als eines ambivalenten Ortes, wo Frauen nicht nur Schutz erhielten, sondern auch Gewalt erlitten. Schon damals und nicht erst    mit der #MeToo-Bewegung haben sich Frauen mit sexueller Gewalt in all ihren Formen auseinandergesetzt: von der unsichtbaren häuslichen Gewalt bis zu brutalster sexueller Gewalt an Frauen als Mittel der Kriegsführung, etwa im Bosnienkrieg.

Theologisch fragten wir nach, was es bedeutet, dass die Menschen im biblischen Schöpfungsverständnis nach dem Bild Gottes geschaffen sind. Da sie sich von diesem Gott kein Bildnis machen dürfen, waren sie auf Bilder von sich selbst zurückgeworfen. Und da mussten Frauen entdecken, dass Gottebenbildlichkeit in der christlichen Tradition weitgehend Mann-Ebenbildlichkeit bedeutet hatte. Frauen wurden von Männern gedacht, beschrieben, gemalt, besungen, aus der Perspektive von Männern «erfunden» und beherrscht. Kurz: Die Definitionsmacht über weibliche Existenz hatten Männer …

… Die entstehende Arbeits- und Begleitgruppe «Feministische Theologie» war sich bald einig: In den kommenden Jahren wollten wir uns schwerpunktmässig mit den Gottes- und Menschenbildern unserer Tradition auseinandersetzen und nachfragen, ob und wie in ihnen Erfahrungen von    Frauen gespiegelt sind: Unterdrückungserfahrungen, aber auch Utopien von Befreiung und gelungenem Leben. Und welche Konsequenzen das für ein Frauen-Menschenbild hätte.

Mit dabei war nun auch Gina Schibler, die junge Pfarrerin, die der Vorstand des Boldernvereins für das Ressort «Persönliche Lebensgestaltung» ins Studienleitungsteam gewählt hatte und die 1985 ihre Arbeit aufnahm. Wir waren uns schnell einig, dass wir ein grösseres feministisch-theologisches Projekt gemeinsam entwickeln wollten.

Reinhild Traitler

«mächtig stolz». 40 Jahre Feministische Theologie und Frauen-Kirche-Bewegung in der Schweiz, hg. von Doris Strahm und Silvia Strahm Bernet, unter Mitarbeit von Monika Hungerbühler, eFeF-Verlag, 2022. ca. 300 Seiten, Fr. 40.–.

Mittelteil März / April

Passionslieder – fremd im Wort, nah in der Musik

Unser Autor Andreas Marti war Mitglied der «Kleinen Gesangbuchkommission», die von 1984 bis 1998 das neue Reformierte Gesangbuch geschaffen hat. Er geht hier auf die darin enthaltenen Passionslieder ein.

Als der Entwurf zum Reformierten Gesangbuch zu Ende beraten war, führten wir in der «Kleinen Gesangbuchkommission», der Fachkommission, die Schlussabstimmungen über die einzelnen Teilkapitel durch. Ich habe dem Passionskapitel meine Zustimmung verweigert, wohl wissend, dass wir es angesichts des dürftigen Angebots an brauchbaren neueren Passionsliedern nicht wesentlich besser hätten machen können.

Die traditionellen Lieder liegen mit ihrem Verständnis der Passion weitgehend auf der Linie der Sühneopfertheorie: Gott zürnt wegen der Sünde der Menschen und muss durch ein Opfer besänftigt werden, ein Opfer, das die Menschen bringen müssten, das sie aber wegen der «Erbsünde» (über dieses höchst problematische Konstrukt wäre separat zu diskutieren) nicht bringen können. Nur Gott selber ist dazu imstande. So gibt Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch sein Blut zum Lösegeld.

Diese Theorie hat vielleicht den Menschen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit geholfen, ihre Angst vor dem ewigen Verlorensein im Zaum zu halten. Dass sie aber fast die einzige Art war, wie die Passionsberichte der Evangelien verstanden wurden, hat diese eingeengt und sie der Weite ihrer Bedeutungen beraubt. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu standen ja vor der Aufgabe, Leiden und Tod ihres Meisters irgendwie zu verstehen, dem zunächst Sinnlosen im Licht der Erfahrungen von Ostern einen Sinn zu geben. Es lag nahe, dazu Gedanken aus den überlieferten Schriften, unserem Alten Testament, heranzuziehen. Ein solches Deutungsmuster bieten die Lieder vom Gottesknecht im Buch des «Zweiten Jesaja» (Jes 40–55). Der Gottesknecht leidet stellvertretend für das Volk. Dazu kommen aus der Tora, dem mosaischen Gesetz, Vorstellungen über die sühnende Kraft des Opfers, und beides zusammen führt in der Folgezeit zur beschriebenen Sühneopfertheorie.

Einen etwas anderen Ansatz finden wir im «Christushymnus» des Philipperbriefs, der von der Selbsterniedrigung des Gottessohnes spricht. Dort erscheint der Tod am Kreuz als letzte Konsequenz der Menschwerdung Gottes: Gott kommt bis in die dunkelsten und schlimmsten Orte des Menschenlebens. Seine Nähe gilt auch und gerade da, wo Menschen von allen Menschen verlassen und von allen Lebensmöglichkeiten abgeschnitten sind. Gott ist solidarisch mit den Schwächsten, mit den Menschen in Unglück und Not.

Auch wenn wir weitere biblische Gedanken anführen würden, kämen wir doch nicht zu einer eindeutigen und erschöpfenden Deutung. Die Bibel selbst versucht es mit unterschiedlichen Ansätzen, und dabei bleiben Leerstellen, die für einen unaufhörlichen Prozess des Verstehens offen sind, ein Verstehen, in welches wir mit unserer Existenz mit hineingenommen werden, ohne dass wir alles ausformulieren können. Im Grunde lässt sich alles zurückführen und verdichten auf ein pro nobis, auf die Überzeugung, dass all das «für uns» geschehen ist, was immer es im Einzelnen bedeuten mag. Vielleicht ist es diese Art des Verstehens, welche beispielsweise Bachs Passionen nach beinahe 300 Jahren immer noch aktuell hält. Die Musik löst sich von den barocken Texten und führt uns auf die Ebene des offenen «für uns», das wir nicht weiter definieren müssen.

Aber nun zurück zum Gesangbuch. Das vielleicht bekannteste Passionslied ist Paul Gerhardts O Haupt voll Blut und Wunde (RG 445). Es geht zurück auf einen mittelalterlichen Meditationstext, in welchem der Beter nacheinander die Körperteile des Gekreuzigten betrachtet, von den Füssen bis zum Kopf. Obschon auch für dieses Lied die Sühneopfertheorie den Hintergrund bildet, ist der Schlüssel zum Verständnis hier doch ein anderer: «Ich» stehe vor dem Kreuz und schaue den Gekreuzigten an, und dieses Hinblicken bekommt seine entscheidende Bedeutung im Angesicht des eigenen Todes, wie es die letzten beiden Strophen beschreiben: Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Dieses Hinschauen schafft die Verbindung des Sterbenden mit demjenigen, der in seinem Sterben den Tod besiegt hat – eine Interpretation, welche die Passionsgeschichte tief in die eigene Existenz einfügt, bei der aber manche problematischen Elemente der Tradition und viel barocke Emphase ausgeblendet werden müssen.

Interessanterweise hat Martin Luther kein eigentliches Passionslied gedichtet. Vielmehr hat er im Osterlied Christ lag in Todesbanden (RG 464) Passion und Ostern integriert. Das eine ist nicht ohne das andere zu denken. Von der compassio, dem emotionalen Anteilnehmen am Leiden Christi, hielt Luther bekanntlich nicht viel. Ihm geht es um das klare Glaubenserkenntnis, dass Gott alles für uns tut und dafür sogar seinen Sohn in den Tod gehen lässt. Das ist freilich zunächst auch wieder das Muster der Sühneopfertheorie, aber Ziel des Gedankens ist die «Rechtfertigung aus Gnade» – dass wir vor Gott ohne eigene Leistung gerecht sind. Das blosse «für uns» konkretisiert sich in einem ebenso knappen «allein aus Gnade».

Das kurze «für uns» prägt die mittelalterliche Passionsweise Ehre sei dir Christe (RG 435) und auch das als Kinderlied gedachte Wir danken dir, Herr Jesu Christ (RG 439), während das 17. Jahrhundert dann die Sühneopfertheorie breit ausformuliert. Christian Fürchtegott Gellert, der bedeutendste Kirchenliedautor des Aufklärungszeitalters im 18. Jahrhundert, legt seinem Lied Du gingst, o Heiland, hin für uns zu leiden (RG 448) ebenfalls die klassische Sühnetheorie zugrunde, ändert dann aber von der zweiten Strophe an die Blickrichtung, und zwar auf die Einheit der Jüngerinnen und Jünger Jesu im gemeinschaftlichen Mahl, auf den Frieden und auf die Liebe: Wenn wir in Frieden beieinander wohnten, Gebeugte stärkten und die Schwachen schonten, dann würden wir den letzten heilgen Willen des Herrn erfüllen. Neben die klassische Interpretation tritt eine Art «Vorbildchristologie», von der traditionellen Theologie als oberflächlich abgetan, aber im Ruf zur Nachfolge biblisch begründet: Das Leiden soll nicht Hass erzeugen, sondern die Liebe bewahren, wie Gellert es in seinem anderen Passionslied schreibt, Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken (RG 449), oder im Lied Liebe, du ans Kreuz für uns erhöhte» (RG 450), wie wir es beim Herrnhuter Karl Bernhard Garve lesen.

Von den neueren Liedern steht Was ihr dem geringsten Menschen tut (RG 457) in dieser Vorbildtradition, aber im umgekehrten Sinne: Im leidenden Mitmenschen begegnet uns der leidende Christus. Gottes Solidarität ruft uns zur Nachfolge in unserer Solidarität mit den Schwachen und Leidenden. Andere Lieder verbinden – wie Luther – Passion und Ostern und besingen die Überwindung des Todes: Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt (RG 456), Du schöner Lebensbaum des Paradieses (RG 454) und Holz auf Jesu Schulter (RG 453). Das «Hinsehen», das in Gerhardts Lied so wichtig ist, begegnet uns wieder in Seht hin, er ist allein im Garten (RG 452). Es ruft uns dazu auf, nicht wegzusehen: So, wie wir auf die Passion Jesu schauen, sollen wir uns auch dem Leiden unserer Zeit stellen. Zum Sehen kommt das Hören: Auf die knapp gefasste Passionserzählung reduziert ist Hört das Lied der finstern Nacht (RG 455). Das Passionsgedenken wird auf die fast unkommentierte Erzählung zurückgeführt und bleibt in dem Sinne bedeutungsoffen, wie es oben angedeutet wurde. Einzig der Schlusssatz gibt eine Interpretation des «für uns»: … reisst durch seinen Tod uns aus Nacht und Not.

Von Andreas Marti

Mittelteil

Der glückliche Abschluss eines grossen Projekts

von Elisabeth Wyss-Jenny

Von 2012 bis 2019 wurde als Projekt des Klosters Kappel am Albis der Text  des Alten und des Neuen Testaments durch 32 Kalligrafinnen und Kalligrafen auf handgeschöpftes Papier geschrieben, mit kalligrafischen Bildseiten bereichert und zuletzt in vier Bände gebunden. Am 13. März 2022 findet nun in der Klosterkirche die Abschlussfeier statt, coronabedingt um ein Jahr verschoben.

Als theologische Mitarbeiterin im Kloster Kappel hatte ich mir immer wieder überlegt, welches ein Projekt sich an diesem Ort realisieren liesse, das dem Sinn und Geist des Hauses gerecht würde. Und plötzlich war sie da, die Idee: Mit einer kalligrafischen Abschrift die Zürcher Bibel zu würdigen, die 2007 nach langer, intensiver Übersetzungszeit neu erschienen war. 500 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks sollte zum Reformationsjubiläum 2019 eine individuelle und einmalige Bibelausgabe entstehen, Buchstabe für Buchstabe von Hand abgeschrieben. Neben dem Text jeweils nach 16 Seiten mit einer kalligrafischen Seite bereichert. Ein Werk, das dem reformatorischen Leitsatz sola scriptura einen neuen Akzent zu geben imstande wäre.

Wenn der Buchdruck die Erfindung war, welche der Reformation Schub gegeben hatte, so hatte er doch auch die individuellen kalligrafischen Bibelabschriften verdrängt, die vor allem in den Klöstern erstellt worden waren. 500 Jahre später wieder eine individuelle Abschrift in Langsamkeit zu schaffen – die Idee fand bei den Verantwortlichen schnell Anklang. Während des Jahres 2011 wurde sie weiter bearbeitet. Details wie Schriftart und -grösse sowie -farbe, Papierbeschaffenheit, Schreibwerkzeug und dazu passende Tinte wurden geklärt, sodass am 26. Februar 2012 an einer Vernissage die ersten Seiten und das Konzept präsentiert werden konnten. Das Projekt mit dem Namen «Kein Jota soll verlorengehen» fand sogleich Interesse bei einer grossen Anzahl von potentiellen Mitschreibenden sowie in der Presse. Zum Mitschreiben eingeladen waren Frauen und Männer mit kalligrafischer Vorbildung. Interessierten wurde auch ein einführender Kurs angeboten.

In der ehemaligen Schatzkammer des Klosters

Ein geeigneter Raum für das Scriptorium war bald gefunden: die ehemalige Schatzkammer des Klosters, ein gefangener Raum hinter dem ehemaligen Schlafraum der Mönche. Ein ausgeliehenes Leuchtpult und ein umgebautes Stehpult bildeten die neue Einrichtung. Später kamen ein weiteres geschenktes Leuchtpult und ein portables Modell dazu, sodass bis zu vier Arbeitsplätze möglich waren. Da der Raum gegen die Nordostseite lag, blieb er auch im Sommer angenehm kühl und verströmte eine gute Atmosphäre, die zu Stille und Konzentration einlud. Wenn der Raum für einmal nicht zugänglich war, konnte mit dem portablen Modell auf einen anderen Raum ausgewichen werden.

Wer kam, um zu schreiben, zog sich – manchmal gleich im Anschluss an das Morgengebet – ins Scriptorium zurück und blieb bis zum Mittagsgebet dort. Nach dem gemeinsamen Mittagessen konnte dann der zweite Teil der Seite in Angriff genommen werden. Ziel war es, an einem Tag eine ganze Seite zu erstellen und pro Zeile möglichst achtzig Zeichen unterzubringen. Meistens gelang das den Schreibenden mühelos.

In den Jahren 2012–2019 wurden so 1039 Schreibtage im Hause absolviert, vielmals als Einzeltage, zuweilen aber auch in mehrtägigem Aufenthalt. Einkehrtage von unschätzbarem Wert, wie Schreibende sagten.

Zu zwei Gelegenheiten wurde das Scriptorium temporär verlegt: vom 26. bis
30. März 2014 in den Chorraum des Grossmünsters, an den Platz, an dem Zwingli mit seinen Mitübersetzern die Prophezey installiert hatte, die ursprüngliche Übersetzungswerkstatt der Zürcher Bibel. Das Interesse der vielen Besuchenden im Grossmünster war gross und die Aktion für die Schreibenden ein Erlebnis.

Die zweite Aktion betraf zwei ganze Schreibwochen anlässlich der «Weltausstellung Reformation» in Wittenberg im Sommer 2017. Unmittelbar neben einer nachgebauten Gutenbergpresse, wo die Errungenschaft des Buchdrucks gefeiert wurde, schrieben eine Kalligrafin und ein Kalligraf ungerührt in Langsamkeit und mit gestochener Schrift am Buch der Sprüche, vielmals unterbrochen und bewundert in ihrem Handwerk.

Mehr als dreissig Fässli Tinte sind durch Dutzende von Federn gelaufen, dreimal musste Papier in der Basler Papiermühle von Hand geschöpft werden, damit alle Buchstaben aufs Papier gebracht werden konnten. Und der Super-Gau hat sich nicht eingestellt: Kein Tintenfässli hat sich über geschriebene Seiten ergossen, der Boden des Scriptoriums jedoch muss aufgefrischt werden …

Wie beim Zürcher Drucker Froschauer im 16. Jahrhundert entstand zuerst das Neue Testament, einbändig, fertiggestellt 2015 mit 445 Seiten. Als im Februar 2015 die Abschrift beendet war, war es keine Frage, auch das Alte Testament in Angriff zu nehmen. Am 19. Februar 2015 wurden die ersten Worte vom Buch Genesis aufs Papier gebracht. Im Ganzen sind es drei Bände mit 1566 Seiten.

Niemals kam in der Leitung die Angst auf, das Projekt könnte an zu wenig Schreibenden scheitern. Immer wieder meldeten sich neue Interessierte. Der letzte konnte gerade noch vor dem coronabedingten Unterbruch seine erste und einzige Seite schreiben. 32 hochqualifizierte Freiwillige brachten das Werk gemeinsam zustande. Selbst als die letzten Seiten im Homeoffice geschrieben werden mussten, war der Einsatz ungebrochen. Es entstanden während dieser Jahre neue Beziehungen, viele wertvolle Bekanntschaften, die über das Projekt hinaus Bestand haben. Das erfüllt uns mit grosser Dankbarkeit.

«Ihr kopiert das doch?»

Seit Projektbeginn war klar, dass die Abschrift ein Unikat bleiben sollte. Dennoch setzte sich mit der Zeit die Einsicht durch, dass das Werk für alle frei zugänglich sein sollte. Nach dem Vorbild der Froschauerbibel von 1531, die im Grossmünster ausgestellt ist, sollte diese Abschrift in einer digitalisierten Form auf einem Touchscreen einsehbar sein. Das Digitalisierungszentrum der Zentralbibliothek Zürich übernahm die Aufgabe gerne. Es war schön, zu erleben, wie sich der Leiter jedes Mal über eine neue Lieferung von 300 und mehr Seiten freute. Stolz zeigte er die Seiten jeweils, wenn sich interessierte Gäste in seiner Abteilung der Zentralbibliothek aufhielten. Er bewältigte mit seinen Mitarbeitenden alle Tücken einer solch grossen Aufgabe. Zum Schluss übernahm er es auch, die kalligrafischen Seiten, die in der abschliessenden Ausstellung gezeigt werden sollen, zu drucken und in die Rahmen einzulegen.

So können im Rahmen des Festtages auch viele der einmaligen kalligrafischen Bildseiten in den Räumen des Klosters Kappel angesehen und sogar erworben werden. Und am Touchscreen bleibt Zeit, einen geliebten Bibelvers zu suchen oder einen neuen zu entdecken, wie es die Leserinnen und Leser der Bolderntexte täglich tun.

Festtag zur Vollendung der Kappeler Bibel am 13. März 2022
10.30 Uhr Gottesdienst in der Klosterkirche Kappel. Anschliessend Apéro im Amtshaus.
14.30 Uhr «Wunderwerk Bibel». Vortrag von Konrad Schmid, Professor für Altes Testament an der Universität Zürich
Die Ausstellung der Kalligrafien im Kloster Kappel ist ab 27. Februar 2022 zu sehen.