Autor: Ralph Kunz

20. April

Jesus sprach zu dem Übeltäter: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Lukas 23,43

Auf den ersten Blick ist dieser Satz theologisch und pädagogisch bedenklich. Welche Folgen hat es für die religiöse Erziehung, wenn ein Übeltäter (!) quasi in der letzten Sekunde seines Lebens eine Einladung in den Himmel bekommt? Man könnte ja auf die Idee kommen, die Grosszügigkeit unseres Heilands auszunutzen. Aber so funktioniert die Geschichte nicht. Dem Versprechen Jesu gehen ein Schuldbekenntnis und eine Bitte voraus. Der Übeltäter weiss, wer er ist. Er redet zu dem, der mit ihm und mit Jesus am Kreuz hängt. «Wir empfangen […], was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!» (Verse 41 f.) Auf ein zweites Hinsehen ist die Antwort Jesu hochkonzentriertes Evangelium. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, und selig, wer es glaubt. Wer meint, es sei möglich, aus der Gnade Gottes eine Art Freipass abzuleiten, hat die Geschichte nicht verstanden. Mehr noch: So wird aus der Konversion eine Perversion, aus Geschenk ein Handel und aus Glauben Berechnung. Wir bleiben Bittende – auch wenn wir uns auf Gottes grenzenlose Güte verlassen. Und wenn nicht? Mündet das Ganze doch wieder in eine Drohung?
Das wäre theologisch und pädagogisch bedenklich.

Von: Ralph Kunz

19. April

Noah tat alles, was ihm Gott gebot. 1. Mose 6,22

Die Sintflutgeschichte ist eines der grossen Dramen der Weltliteratur. Wir kennen die biblische Variante – die Vorlage ist älter. Die Erzählung der Flutkatastrophe ist Teil des sumerischen Atrahasis-Epos (ca. 1800 v. Chr.). Interessant ist die Figur des Noah. Im Unterschied zu den mythischen Helden der Vorzeit ist er weder königlich noch göttlich, sondern ganz und gar Mensch. Was ihn auszeichnet? Er ist fromm, sozusagen der Prototyp des Gottesfürchtigen – der erste Mensch, der tat, was ihm Gott gebot. Das wäre eigentlich eine gute Nachricht! Schliesslich haben er und seine Familie als Einzige das Desaster überlebt. Von ihm stammen wir ab. Er ist so gesehen ein guter Spross für einen zweiten Start des Menschengeschlechts nach der Sintflut. Aber dann ging es doch schief. Nachdem die Arche gelandet war, wurde Noah Ackerbauer und pflanzte einen Weinberg. Er trank von dem Wein, wurde davon betrunken und lag entblösst in seinem Zelt. Ham, sein zweiter Sohn, sah ihn und machte seinen Vater zum Gespött. Als Noah, nachdem er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, davon erfuhr, verfluchte er seinen Sprössling. Er soll von nun an Sem, dem Erstgeborenen, gehorchen. Noah hat den Antihamitismus erfunden und Zwietracht gesät. Die Saat ist aufgegangen.
Ich glaube, die Menschheit ist immer noch vorsintflutlich unterwegs. Ach!

Von: Ralph Kunz

23. März

Wie kann ein Mensch sich Götter machen? Jeremia 16,20

Als nackte Frage gelesen, ist die heutige Losung eine Steilvorlage für die Religionstheorie. Denn die Antwort liegt auf der Hand. Sich Götter zu machen, ist ziemlich einfach. Martin Luther hat das Rezept. Er schreibt im Grossen Katechismus: «Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.» Und unser Herz ist anhänglich. Wir fabrizieren Götter am Laufmeter, beten sie an, geben unser Herzblut für sie und errichten Altäre. Sie haben viele Namen: «Konsum», «Geld», «Macht» oder ganz schlicht «Ich». Der Mensch, so formulierte es der polnische Philosoph Leszek Kolakowski, ist unheilbar religiös. Er meinte es ironisch. Anders Jeremia. Er ist kein Philosoph und auch kein Religionstheoretiker. Und die Frage ist eigentlich auch nicht seine. Es ist die verwunderte Feststellung eines Menschen, der den lebendigen Gott erkennt, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der Heilige Israels, der sich, wenn die Zeit sich erfüllt, allen Völkern zu erkennen gibt. Der Prophet schaut voraus auf das, was dann kommt, auf die Stunde der Wahrheit. Er hofft darauf, dass die Völker von den Enden der Erde kommen und sagen: «Nur Lüge haben unsere Väter gehabt, nichtige Götter, die nicht helfen können.» (Vers 19)
Ist die Stunde der Wahrheit gekommen? Das entscheiden wir! Ein Glaubenssprung. Und falls wir noch nicht allen Göttern abgeschworen haben, hilft uns vielleicht ein Quäntchen Selbstironie auf die Sprünge.

Von: Ralph Kunz

22. März

In Christus ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare. Kolosser 1,16

Dass alles, was im Himmel und auf Erden ist, in Christus geschaffen ist, wirklich alles – Galaxien samt Sonnen, Planeten und Monden, aber auch Mikroben samt Atomen und Neutronen – ist eine atemraubende Vorstellung! Alles hat dieselbe Quelle, dieselbe Herkunftsbezeichnung und vor allem dieselbe Zukunft, «es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.» (Vers 17) Nimmt Paulus den Mund zu voll?
O ja! Grösseres lässt sich nicht sagen, Allumfassenderes nicht behaupten. Eigentlich ist es ein Lob, ein Lied, das eine kosmische Gesamtschau entfaltet, die nichts und niemanden auslässt. 
Es gilt IHM, dem Christus. Denn er ist vor allem, und es besteht alles in ihm. Und irgendwo zwischen Atomkern und Weltall stehen wir – wie Plankton im Ozean, zu gross, um ins Innerste zu sehen, und zu klein, das Universum zu erfassen. Wir nehmen uns kaum die Zeit, darüber nachzudenken, wer wir sind, und wenn wir es tun, wird uns schnell schwindlig. Ich, ein Geschöpf in Christus? Aufgehoben im grossen Ganzen? Das Loblied sagt Dinge, die höher sind als unsere Vernunft. Ich kann es nicht fassen.

Aber was kann schlimm daran sein, wenn Gott der Ozean ist?

Von: Ralph Kunz

20. Februar

Der HERR sprach zu Elia: Ich will übrig lassen
siebentausend in Israel, alle Knie, die sich nicht
gebeugt haben vor Baal.
1. Könige 19,18

Ort des Geschehens ist der Berg Horeb. Elia steht, wo Moses Jahre zuvor die Zehn Gebote empfangen hat, und als Gott sich weder im Sturm noch im Beben noch im Feuer verlauten lässt, hört Elia «die Stimme verschwebenden Schweigens» (Martin Buber). Danach redet Gott Tacheles mit seinem Propheten. Er beschliesst, einen heiligen Rest am Leben zu lassen. Wer weiter Baal anbetet, findet keine Gnade. Das ist echt gruselig! Unter interreligiösem Dialog stellen wir uns etwas anderes vor. Aber mit Blick auf die Geschichte war das Orakel nur konsequent. Bevor Elia zum Horeb kam, machte Gott auf einem anderen Berg mit den Baalspriestern kurzen Prozess. Elia macht die Schmutzarbeit für Gott. Wenn das alles wäre, was wir über Gott und seinen Propheten wüssten, wäre es höchste Zeit, aufzustehen und die Knie durchzustrecken. Doch Gott sei Dank bleibt es nicht beim Gemetzel. Die Geschichte geht weiter und die Religionspolitik Gottes ändert sich. Spätestens bei Jona, dem mürrischen Antipoden zu Elias, wird es offenbar. Ihm wird beschieden, er soll Ninive eine Gnadenfrist verkünden. Am Ende beugt sich Gottes Macht und neigt sich allen Menschen zu. Und wir? Wir sangen: «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!»

Von: Ralph Kunz

19. Februar

Gross und wunderbar sind deine Werke, Herr,
allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker.
Offenbarung 15,3

Ist Gott ein König? Demokratiesensible Zeitgenossinnen und Zeitgenossen bekommen Gänsehaut. Monarchische Metaphern sind doch aus der Zeit gefallen! Wirklich?
Ein Blick in die Zeitung und sie schauen uns an: Könige noch und noch, meistens alte weisse Männer. Das Modell «König» ist nicht aus der Zeit gefallen, schön wär’s! Und schön wär’s, sagt auch der eingefleischte Demokrat, wenn es einen König der Völker gäbe, der gerecht und wahrhaftig regieren würde. Leider sehen wir nicht viel davon, leider bleibt die Wunschherrschaft im Konjunktiv. Oder vielleicht besser ein Optativ? So lese ich jedenfalls diese Losung aus der Offenbarung am Ende der Bibel. «Ach, wenn es doch nur käme, dieses Reich des Friedens!»
Johannes, der Seher, schaut Dinge, die wir uns nicht wünschen – wir nennen sie «apokalyptisch» und fürchten, wenn wir Zeitung lesen, dass die Apokalypse begonnen hat. Aber der Seher sieht auch Dinge, von denen wir uns sehnlichst wünschen, dass sie in die Zeit fallen. Dazu gehört die Königsherrschaft Christi. Auch sie ist schon gekommen und soll noch kommen. Sie ist im Anbruch und wir sind mittendrin. Indikativ und Optativ. Es gibt Leute, die sagen, der Konjunktiv sei nicht zu überwinden.
Wirklich?

Von: Ralph Kunz

23. Januar

Um deines Namens willen, HERR, vergib mir meine Schuld, die da gross ist! Psalm 25,11

Die Bitte um Vergebung ist zentral im 25. Psalm. Es ist der elfte von zweiundzwanzig Versen. Um ihn dreht sich alles. Wir kennen die Vergebungsbitte vom Unservater. Dort ist sie auch zentral. Manchmal beten wir sie gedankenlos, manchmal sind wir ganz bei der Sache! «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.» Und warum wendet sich der Beter an Gott? Weil Gott um seines Namens willen vergibt, es also seinem Wesen entspricht, barmherzig und gnädig zu sein. Das meint Heinrich Heines (ein wenig grenzwertiges) Bonmot: «Dieu me pardonnera, c’est son métier.»
Die Vergebungsbitte folgt auf die Brotbitte, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass wir auch die Schuldvergebung täglich üben sollten. Aber ist es wirklich nötig, die eigene Schuld täglich zu bekennen? Machen wir uns dann nicht schlechter, als wir sind? Ich denke, dass wir eher dazu neigen, uns zu überschätzen. Wenn wir meinen, wir können uns schadlos oder schuldlos halten. Oder wenn wir auf die Idee kommen, einmal im Jahr Gott um Vergebung zu bitten, genüge. Eine jährliche Reinigung mag für die Dentalhygiene stimmen, aber um Gottes Vergebung zu bitten, hat mehr mit Zähneputzen zu tun.
Aber bitte nicht übertreiben! Mit einer Zahnbürste im Maul lebt’s sich schlecht.

Von: Ralph Kunz

22. Januar

Träufelt, ihr Himmel, von oben, und ihr Wolken,
regnet Gerechtigkeit! Die Erde tue sich auf und bringe Heil, und Gerechtigkeit wachse mit auf!
Ich, der HERR, erschaffe es.
Jesaja 45,8

Ein Wetter-Naturbild, das allen, die gärtnern oder bauern, aus dem Herzen spricht. Wenn es knochentrocken ist, geht der Blick zum Himmel, vielleicht mit dem Stossgebet «O Heiland, reiss die Himmel auf!». Zwar passt der Zeitpunkt nicht – zumindest nicht für unsere Breitengrade – aber in Israel ist der Winterregen wichtig. Fällt er aus, wächst nichts. Der Blick nach oben verbindet sich beim Propheten mit einem tapferen Beten, das er an die Wolken richtet: «Regnet Gerechtigkeit!» Aber die Gerechtigkeit kommt nicht nur von oben. Sie soll von unten mit aufwachsen. Nicht nur der Himmel, auch die Erde soll sich öffnen. Ein Kreislauf kommt in Gang und siehe, schon spriesst es! Huldrych Zwingli liebte dieses Bild. Eine seiner wichtigsten Schriften heisst «Von der göttlichen und menschlichen Gerechtigkeit». Und von Zwingli her gibt es eine Linie zur politischen Theologie der Gegenwart – eine Kette von Zeuginnen und Zeugen, die rufen: «Tut um Gottes Willen etwas Tapferes!»
Ersetzt der Appell den Blick nach oben? Ich finde den letzten Satz der Losung wichtig. Es wird dasselbe Wort wie in der Schöpfungsgeschichte verwendet. «Ich, der Herr, erschaffe es.» Gilt auch für die menschliche Gerechtigkeit …

Von: Ralph Kunz

20. Dezember

Lobe den HERRN, der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen. Psalm 103,2.3

In der Losung fehlt ein Satz. So müsste es vollständig heissen:
«Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen.» Das Ausgelassene ist wichtig. Es macht klar, wer hier wen anspricht. Es ist ein «Ich», das mit seiner «Seele» redet. Das «Ich» mahnt die Seele und erinnert sie daran, wer sie ist. Die «Seele», Gegenpart zum «Ich», ist die innere, lebendige und bedürftige Person. Im Lob wird sie zum «Du». Dieses innere «Du» wird vom «Ich» wachgerüttelt und freundlich, aber bestimmt angehalten, das zu tun, was seine Bestimmung ist, nämlich Gott zu loben: «Gott ist Dein Licht, Seele, vergiss es ja nicht!» (Joachim Neander).
Es gibt Theologien, die das Innere des Menschen ins dunkelste Schwarz tauchen, um derart verdunkelt Gottes Licht umso heller aufleuchten zu lassen. Nicht so die Theologie dieses grandiosen Psalms. Hier ist die Seele schon licht und verklärt – als ob das «Ich» sich selbst mit den Augen Gottes schauen darf. Warum vergessen wir das ständig? Ich bin versucht zu sagen, weil wir uns selbst im Licht stehen. Und was hilft? Ein erhellendes Selbstgespräch. Falls Sie es vergessen haben – es beginnt so: «Lobe den HERRN, meine Seele und alles, was in mir ist, lobe den HERRN.» Und was sagen wir dazu? Amen!

von: Ralph Kunz

19. Dezember

Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. Römer 12,12

Paulus liebt die Dreizahl. Glaube, Hoffnung und Liebe ist die bekannteste. Und für jede dieser «Kardinaltugenden» gibt es wieder eine Dreifaltigkeit. Die Liebe will als Liebe zu Gott und zum Nächsten auch Selbstliebe sein, der Glaube lebt von der Treue Gottes, die meinem Vertrauen in der Gemeinschaft der Gläubigen Tragkraft verleiht. Für die Hoffnung hat der Apostel einen Teil Zumutung, einen Teil Ermutigung und meinen Teil Ermunterung vereint. Was für ein Cocktail! Wenn ich ihn selbst zusammenstellen könnte, würde ich den Anteil fröhlicher Hoffnung maximieren und die Trübsal minimieren. Das beharrliche Beten fiele mir dann wesentlich leichter. Geduldig sein war nie meine Stärke.
Doch leider gehört die verflixte Trübsal dazu! Das schmeckt zwar bitter, aber vielleicht sind es die trüben Aussichten, die mich beharrlich um Aufklärung bitten lassen? Paulus legt nicht fest, welches Beten er meint. Dank? Lob? Klage? Fürbitte? Kein Tag ist wie der andere. Nicht immer sind wir fröhlich in der Hoffnung. Manchmal blasen wir Trübsal. Dann hilft der Gedanke, dass der Geist weht und andere beharrlich im Gebet sind. So wie Sie für mich und ich für Sie! Und Christus für uns alle. Also sind wir schon zu dritt. Grund zur Hoffnung. Wünsche einen fröhlichen Tag!

von: Ralph Kunz