Autor: Barbara Heyse-Schaefer

27. März

Der HERR steht dem Armen zur Rechten, dass er ihm helfe von denen, die ihn verurteilen. Psalm 109,31

Die palästinensische Theologin Viola Raheb meinte einmal, es wäre für uns Europäer:innen leicht, von Feindesliebe zu sprechen, da wir eigentlich keine Feinde hätten. Kenne ich die Situation, von der hier im Psalm 109 die Rede ist, eigentlich?

Denn die Beter:innen des Psalms haben sehr wohl Feinde, Menschen, die ihnen nachstellen und sie unschuldig vor Gericht zerren. Als Folge sind sie von Armut und Elend bedroht. «Mein Herz ist zerschlagen in mir. Ich fahre dahin wie ein Schatten, der schwindet.» (Verse 22b–23a)

Die Beter:innen wissen sich keinen anderen Rat, als mit allen Gefühlen gegenüber ihren Feinden vor Gott zu kommen und ihm zu klagen. Vers 26: «Steh mir bei, HERR, mein Gott! Hilf mir nach deiner Gnade.»

Heute, einen Tag vor Gründonnerstag, fällt mir der Vers 5 aus Psalm 23 ein: «Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.» Trotz Verfolgung und Erniedrigung fühlen sich die Psalmbeter:innen im Tempel sicher. Hier gibt es auch in Bedrängnis zu essen und zu trinken. Denn die Armen und Verfolgten finden Schutz und Asyl bei Gott.

Ich denke an die Flüchtlinge in unseren Pfarrgemeinden. Beim Abendmahl fühlen sie sich angenommen und den Einheimischen gleichgestellt. Ein Moment, der anders ist als ihre Alltagserfahrungen…

Von: Barbara Heyse-Schaefer

26. März

Der HERR macht im Meer einen Weg und in starken Wassern Bahn. Jesaja 43,16

Stiess man in früheren Zeiten an einen breiten Fluss oder ans Meer, war der Weg dort meist zu Ende – so auch für das Volk Israel am Roten Meer. Es konnte nur auf ein Wunder hoffen.

Vor ein paar Wochen bin ich im Zuge meiner Pensionierung umgezogen. Gerade noch mitten im Arbeitsleben stehend und von der Leitung einer grossen Konferenz kommend, sollte ich nun meinen Umzug organisieren. Ich war jedoch sehr, sehr erschöpft. Dann starb noch eine Freundin… Ich empfand mich wie vor einer unüberwindbaren Mauer oder einem breiten Gewässer stehend. Wie sollte ich das schaffen? Ein, zwei Tage war ich völlig verzweifelt. Es fühlte sich an wie ein beginnendes Burnout.

Doch dann – wie durch ein Wunder – wendete sich das Blatt. Ich begann darüber nachzudenken, wie und wo ich mir Hilfe holen könnte. Ich richtete ein Stossgebet gen Himmel und schrieb einen kurzen Satz auf einem Social-Media-Kanal. Kurz darauf riefen Freunde und Bekannte an und boten ihre Unterstützung an. Menschen, die mir im Traum nicht einge­fallen wären. Ich dachte, wow, nur keine Hilfe ausschlagen, jede einzelne ist ein grosses Geschenk!

Es waren anstrengende Tage, bis der Umzugswagen endlich vor der Tür stand. Doch am ersten Morgen im neuen Zuhause fühlte ich grosse Dankbarkeit. Der Durchzug durchs Rote Meer war geschafft! Alles fügt sich.

Von: Barbara Heyse-Schaefer

27. Januar

Gott sprach zu Salomo: Weil du weder um langes Leben bittest noch um Reichtum noch um deiner Feinde Tod, sondern um Verstand, auf das Recht zu hören, siehe, so tue ich nach deinen Worten. 1. Könige 3,11–12

König Salomo ist gerade an die Macht gekommen. Er ist noch jung und unerfahren und hat ganz schön Respekt vor seiner neuen Aufgabe, als König ein ganzes Volk zu regieren. Da erscheint ihm Gott im Traum und gibt ihm einen Wunsch frei.
Wir kennen solche Situationen aus den Märchen, da ist es meist eine Fee, die drei Wünsche freigibt. Was ist die richtige Antwort in so einem Fall? König Midas wäre beinahe verhungert, weil auf seinen Wunsch hin alles zu Gold wird, was er berührt. Worum würde ich bitten?
Salomo wünscht sich ein hörendes Herz, damit er das Volk recht richte. Eine grosse und weise Bitte!
Wie komme ich zu so einem Herzen, offen und horchend? Wie kann es in mir so still werden, dass ich nicht meinen endlosen Gedanken nachhänge, sondern wirklich hinhöre?
Es wäre mir bis jetzt nicht im Traum eingefallen, doch ja, ich werde Gott darum bitten: um Stille und Ruhe, um die Kraft zum Zuhören und um die Annahme dessen, was ist.

Von: Barbara Heyse-Schaefer

26. Januar

Du tust mir kund den Weg zum Leben. Psalm 16,11

Ich schreibe diese Zeilen eine Woche nach dem Terrorüberfall der Hamas auf den Süden Israels. Eine gespenstische Stille liegt über der Welt. Wann kommt der Vergeltungsschlag der Israeli? Hunderttausende sind auf der Flucht.
Wie viele andere habe ich morgens eine Scheu, die Nachrichten zu lesen. Die Angst vor dem Kommenden nimmt mir den Atem und lässt meinen Bauch flattern.
Gleichzeitig bereite ich mich auf eine interreligiöse Frauenkonferenz nächste Woche vor. Es soll um Gewaltprävention und um Dialog für den Frieden gehen. Wichtige Rednerinnen springen ab, sie fühlen sich in der aktuellen Situation nicht in der Lage zu diskutieren.
Ich versuche es mit täglichen Atemübungen. Und mit viel Spazierengehen. Die Natur, das Gehen tun mir gut.
«Lass uns Gehende bleiben. Wir sind nie ganz zu Hause auf dieser Welt», schreibt Dorothee Sölle. Auch wenn wir den Weg zum Leben, zum Frieden im Moment nicht sehen, wir dürfen nicht aufhören zu gehen. Und zu beten:
«So wandere mit uns, Gott,
und lehre uns das Gehen
und das Suchen
und das Finden.»
(Dorothee Sölle in: Du führst mich hinaus in Weite.)

Von: Barbara Heyse-Schaefer

9. Januar

Der HERR wird richten der Welt Enden.
Er wird Macht geben seinem Könige.
1. Samuel 2,10

Was für ein machtvolles Wort, und doch ist es zugleich revolutionär und umstürzlerisch! Es stammt aus dem Lobgesang der Hannah. Lange hat Hannah unter ihrer Unfruchtbarkeit gelitten. Als das Wunder geschieht und sie schwanger wird, jubelt sie und verspricht, ihren Sohn, den sie Samuel nennen wird, Gott zu weihen. Ihr Lobgesang wird später eine Vorlage für Marias berühmtes Magnifikat (Lukas 1,46b–55).
In beiden Gesängen, in dem von Hannah und in dem von Maria, werden die Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt: «Der Bogen der Starken ist zerbrochen, und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke» (1. Samuel 2,4).
Von Weihnachten kommen wir her. Wir erinnern uns daran, dass Gott ganz klein und in einem Stall zur Welt gekommen ist. Die Weisen, die die Tradition später zu Königen macht, sie kommen, kommen von weit her, um diesem «Gesalbten» zu huldigen. Sie stehen später für die Enden der Erde.
Das Gericht dieses Gesalbten müssen wir nicht fürchten. Es wird ein Aufrichten sein, ein Erkennen von Richtig und Falsch, aber getragen von tiefer Liebe.

Von: Barbara Heyse-Schaefer

26. November

Der HERR ist gütig und eine Feste zur Zeit der Not und kennt, die auf ihn trauen. Nahum 1,7

Burgen haben mich als Kind sehr fasziniert. Bei Ausflügen mit meiner Familie zu verlassenen Burgruinen stellten wir Kinder uns das Leben der Ritter und Burgfräulein vor. Was für eine spannende Zeit! «Ein feste Burg ist unser Gott» dichtete Martin Luther, als Burgen noch eine sehr reale Verteidigungs- und Schutzfunktion hatten. Auf der Wartburg hatte ihn sein Kurfürst vor den Nachstellungen des Kaisers in Sicherheit gebracht. Heute geben Versicherungen vor, uns vor allen möglichen Gefahren zu beschützen. Sie verdienen an unserer Furcht: Denn wir wissen, unser Leben ist fragil und zerbrechlich.

Was schützt mich? Was ist für mich eine Feste in der Zeit der Not? Oft sind es Menschen, die mir ein offenes Ohr schenken. Jemand, dem ich meine Unsicherheiten anvertrauen kann. Manchmal ist es ein Ort, an dem ich zu mir selbst finde. Das kann mein Garten sein oder eine Bank auf meinem Lieblingsspaziergang. Dann merke ich: Zuversicht, Stärke und Hilfe liegen nicht im Aussen.
Der Prophet Nahum weist über unsere irdischen Erfahrungen hinaus. Der Name Nahum bedeutet schon «Tröster». Kann ich mich seiner Tröstung stellen? Auf Gott zu vertrauen, ist in Zeiten der Not ein echtes Wagnis. Mich einlassen auf diese einzigartige Liebesgeschichte…

von: Barbara Heyse-Holtmann

26. September

Geh hin in dein Haus zu den Deinen und verkünde
ihnen, welch grosse Dinge der Herr an dir getan und
wie er sich deiner erbarmt hat.
Markus 5,19

«Geh doch nach Hause.» Der Mann, zu dem Jesus diesen
Satz sagt, hat schon lange kein Zuhause. Er kann nicht mit
anderen Menschen zusammenleben, denn er ist oft «ausser
Rand und Band». Man nennt ihn einen «Besessenen», später
wird man den Begriff «Tobsüchtiger» benutzen. Seine
tiefe innere Erregung findet in unkontrollierbaren Wutausbrüchen
eine Entladung. Dieser Mensch lebt nicht nur
äusserlich unbehaust, sondern ist auch nicht Herr in seinem
eigenen Körper.
Wie schwer es uns fällt, mit einem solchen Menschen
umzugehen, wie gross die Angst vor ihm! Erwachsene mit
derlei Tobsuchtsanfällen hat man zur Zeit Jesu in Ketten
gelegt, heute werden sie mit Psychopharmaka «ruhiggestellt
». Jesus lässt sich von all der Angst und Unruhe nicht
anstecken. Er begegnet dem Gepeinigten mit grosser Souveränität.
Plötzlich ändert sich alles. Gerade noch hin und her
gerissen, findet jener nun Ruhe, findet zu sich.
Im Gegensatz zu anderen, die Jesus auffordert, ihm nachzufolgen,
gibt er diesem Mann, der dazu willens wäre, den Auftrag,
nach Hause zu gehen. Daheim im heidnischen Gerasa,
von wo man ihn wegen seiner Krankheit weggewiesen hat,
dort soll dieser Mensch beginnen, von der Macht Gottes
und von seiner Befreiung zu berichten. Was für ein Auftrag:
Geh nach Hause!

Von: Barbara Heyse-Schaefer

26. Juli

Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem
Angesicht Gottes des HERRN.
1. Mose 3,8

Wussten Sie, dass der Vogel Strauss 2,50 m gross ist und
mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h bis zu einer halben
Stunde laufen kann? Er ist in der Lage, sich durch gezielte
Tritte gegen Löwen und Geparden zu verteidigen. Woher
also die Legende stammt, dass er bei Gefahr den Kopf in den
Sand steckt, ist eigentlich unverständlich.
Tatsächlich entspricht die Redensart von der Vogel-Strauss-
Taktik mehr unserer menschlichen Reaktion auf störende
oder überfordernde Situationen.
Am häufigsten ignoriere ich E-Mails, auf die ich reagieren
sollte. Kurz gelesen, auf später verschoben, und schon sind
sie im unteren Bereich meines Postfachs verschwunden.
Ich ignoriere auch Eingebungen, und das ist schlimmer: Bei
XY sollte ich mich dringend melden. Dies oder das sollte ich
in Ordnung bringen. Seit meiner Krebserkrankung vor ein
paar Jahren mache ich das seltener. Ich greife schneller zum
Handy, wenn ich an jemanden denke …
Vor dem Angesicht Gottes können und brauchen wir uns
nicht zu verstecken. «Ich sitze oder stehe auf, so weisst du
es; du verstehst meine Gedanken von ferne» heisst es im
Psalm 139. Er kennt unser Herz. Wir können aufhören, den
Kopf in den Sand zu stecken, und dürfen uns auf die Suche
nach neuen Wegen machen!

Von: Barbara Heyse-Schaefer

26. Mai

Der HERR, unser Gott, ist gerecht in allen seinen
Werken, die er tut.
Daniel 9,14


Daniel ist nicht nur ein Prophet in schwierigen Zeiten, sondern
auch ein Mann des Gebets. Er fleht zu Gott mit hoher
Emotionalität – für sein Volk und für die Stadt Jerusalem. Er
betet unter Fasten, in Sack und Asche und findet Gott nicht
nur gerecht, sondern auch gross und schrecklich. Scham und
Versündigung seines Volkes beschäftigen ihn sehr.
Diese Themen hören wir heute gar nicht gerne. Es ist unmodern
geworden, von Schuld zu sprechen. Scham ist in unserem
Sprachgebrauch fast ausgestorben.
Und dennoch, auch wir versuchen die Zeit und ihre Schrecken
zu deuten: Wir fragen nach den Ursachen von Krieg
und Klimakrise. Aber anders als Daniel erwarten wir, dass
Gott über unser Unglück gütig wacht und seine Gerechtigkeit
gnädiger ist, als es menschliche Massstäbe befürchten
lassen.
Von Daniel möchte ich das emotionale Beten (wieder) lernen.
«Neige deine Ohren, mein Gott, und höre, tu deine
Augen auf und sieh an unsere Trümmer …»
Mir fällt das tägliche Abendgebet meiner Grossmutter ein.
Es war so voller Leidenschaft und Intensität – und oft unter
Tränen. Eine tiefe Übung des Vertrauens und der Hingabe!

Von: Barbara Heyse-Schaefer

26. März

Salomo sprach bei der Einweihung des Tempels:
Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? 1. Könige 8,27

Mehrere Reisen in den Orient öffneten mir die Augen, welche
unterschiedlichen Ortserfahrungen hinter biblischen
Texten stehen, die von Gottesbegegnungen erzählen:
Beim Betreten der gewaltigen Tempelanlage von Luxor
hatte ich erstmals eine Ahnung, welche Vorstellung eines
Gotteshauses die Israeliten aus Ägypten mitgebracht hatten.
Die tragbaren Barken, mit denen die Götterstatuen transportiert
wurden, erinnerten mich an die Bundeslade. Ich
war beeindruckt.
Eine mehrtägige Wüstenwanderung liess mich begreifen,
welche Bedeutung ein Begegnungszelt hat. Während wir
nachts in kleinen Igluzelten schliefen, trafen wir uns zu den
Mahlzeiten im äusserst wohnlichen Gemeinschaftszelt. Täglich
wurde dieses Zelt ab- und wieder aufgebaut. Es war für
diese Tage unser Zuhause.
Eine weitere Reise liess mich in den faszinierenden Felsformationen
in und um Petra plötzlich erahnen, warum Jakob
in einem Stein den Ort sehen konnte, wo die Himmelsleiter
den Boden berührt.
Die Bibel ist keinesfalls einengend oder beschränkend mit
ihren Vorstellungen, wo Gott wohnt. Der Tempel ist ein Ort,
wo sein Name angerufen werden kann. Doch ist auch dieser
Ort nur ein Abglanz, ein Platz, wo allenfalls Gottes Füsse
die Erde berühren – um ein menschliches Vergleichsbild für
Gott zu benutzen.

Von: Barbara Heyse-Schäfer