Autor: Elisabeth Raiser

24. Juni

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR
von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe
üben und demütig sein vor deinem Gott.
Micha 6,8

Das 6. Kapitel des Propheten Micha liest sich wie eine
Gerichtssitzung. Gott ruft das Volk Israel zur Rechenschaft
und es endet mit der Androhung einer ziemlich deftigen
Bestrafung. Der Grund sind, wie so oft, die vielen Lügen und
Falschreden der Mächtigen, die schamlose Bereicherung der
Reichen. Dazwischengeschoben ist die Frage: Soll ich, der
Angeklagte, etwa meinen Sohn opfern, um Gott zu besänftigen?
Oder soll ich Kälber als Brandopfer bringen? Darauf
antwortet Micha ganz einfach, in meinen eigenen Worten:
Du weisst doch ganz genau, was gut ist und das Leben fördert
und damit gottgefällig ist: Halte einfach Gottes Gebote
und begegne deinen Mitmenschen mit Liebe. Wozu sonst
hast du diese Weisungen fürs Leben erhalten?
Es klingt so einfach – und ist offenbar doch so schwer. Die
Versuchungen des Reichtums und der Macht sind offensichtlich
grösser und mächtiger als die guten Lebensregeln,
die wir in Gottes Wort und Gottes Geboten hören.
Das gilt in mancher Hinsicht auch heute und ist offensichtlich
in der menschlichen Natur angelegt. Versuchungen des
Teufels nannte man das früher. Um ihnen zu widerstehen,
sind diese uralten Weisungen Gottes noch immer ein eindrückliches
ethisches Bollwerk. Und wir tun gut daran, uns
danach zu richten.

Von: Elisabeth Raiser

23. Juni

Jesus zog umher in ganz Galiläa, lehrte in
ihren Synagogen und predigte das Evangelium
von dem Reich und heilte alle Krankheiten
und alle Gebrechen im Volk.
Matthäus 4,23

Diese kurze Beschreibung von Jesu Wanderung durch Galiläa
erscheint mir schon wie eine Vorwegnahme des Reiches
Gottes, von dem Jesus predigt. Wir bitten im Vaterunser
noch zweitausend Jahre später um das Kommen des Reiches
Gottes. Und da stellen sich uns ja oft die Fragen: Wo ist es, wo
bleibt es, gibt es schon Anzeichen seiner Verwirklichung, lebt
es vielleicht schon mitten unter uns? Wir spüren es manchmal,
aber es entgleitet uns auch immer wieder. Der, während
ich schreibe, noch immer wütende Krieg in der Ukraine ist
ein solches Entgleiten, aber auch viele andere menschengemachte
Katastrophen.
Und doch gibt es die grosse Hilfsbereitschaft für die Opfer,
die oft mit grossem Mut, Fantasie, unendlicher Nächstenliebe
und oft einer wahren Aufopferung der Helfenden verbunden
ist. Das erscheint mir immer wieder wie ein Zipfel
des Reiches Gottes. Es ist offensichtlich in uns Menschen
schon angelegt und es kann sich entfalten.
Jeder Schritt zum Frieden, der auch nur ein Menschenleben
rettet, gehört, denke ich, auch zu diesem Zipfel des
Reiches Gottes.
Ich stelle mir Jesu Wanderung durch Galiläa dankbar und
voller Hoffnung vor meinem inneren Auge vor. Mit dieser
dankbaren Hoffnung möchte ich den heutigen Tag beginnen.

Von: Elisabeth Raiser

24. April

Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als
die Wächter auf den Morgen. Psalm 130,6

Der 130. Psalm hat die Überschrift «Aus tiefer Not». Es geht
darin um die Vergebung der Sünden sowohl des Einzelnen
wie des Volkes Israel. Und auf diese Vergebung wartet die
Seele. Was hat es mit diesem Warten auf sich? Wir kennen
es in unserer christlichen Tradition in der Adventszeit und
in der Passionszeit – beides klassische Fastenzeiten. Das Fasten
führt zu einer Konzentration, die vorher und nachher
nicht in der gleichen Stärke erreicht wird. Die Freude des
Weihnachtsfestes wie des Osterfestes ist dem gegenüber
überbordend, voller Freigebigkeit, glücklicher Gemeinschaft
und Jubel. Dagegen stelle ich mir das Warten der Seele wie
ein Tief-in-sich-Gehen vor, bei dem wir uns erforschen und
eine Art Rückschau antreten, die uns manchmal vor uns
selbst erschrecken lassen kann. Aber es gibt dabei immer
auch Hoffnung – sozusagen die Umkehr des Blicks!
Die Seele ist unser Zentrum, ich denke, der eigentliche,
tiefere Ort unserer Lebenskraft. Wenn sie auf Erlösung wartet,
ist sie nicht betrübt und unruhig wie im Psalm 130, sie
ist aufmerksam und im besten Sinn gespannt. Ich finde den
Vergleich mit dem Wächter, der auf den Morgen wartet, sehr
schön: Er hält Ausschau nach dem ersten Licht am Horizont –
nach dem Lichtstreifen, der den Tag ankündigt: So ist es auch
mit unserer Seele, die nach dem Licht der Vergebung und
nach neuer Hoffnung Ausschau hält.

Von: Elisabeth Raiser

23. April

Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es
ist alles bloss und aufgedeckt vor den Augen dessen,
dem wir Rechenschaft geben müssen. Hebräer 4,13

Dieser Satz des Paulus ist wohl eine der biblischen Vorlagen
für den Ausspruch, den ich früher in der Sonntagsschule
gehört habe und der in so vielen Familien den Kindern
eingetrichtert worden ist, damit sie sich keine Streiche
und Dummheiten und Lügen leisten, nämlich: «Der liebe
Gott sieht alles.» Das hat bei vielen Kindern ein eher
angsterregendes Gottesbild hinterlassen, das oft bis ins
Erwachsenenalter bestehen bleibt. Dabei gibt es die andere,
tröstliche, bergende Seite dieses «von Gott Gesehenwerdens
», wie sie im Psalm 139 so wunderbar ausgedrückt
wird: «HERR, du erforschst mich und kennst mich. Ich sitze
oder stehe auf, so weisst du es; du verstehst meine Gedanken
von ferne» (Verse 1 und 2).
«Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äussersten
Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und
deine Rechte mich halten.» (Verse 9 und 10)
Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Diese
Gewissheit kann uns tragen, uns Mut geben, auf unserem
Lebensweg einiges zu wagen, was nicht vorgegeben, aber
kühn ist. Natürlich sollten wir dafür Rechenschaft ablegen,
wie Paulus schreibt; aber Gottes Gnade begleitet uns auch
dabei. So verstehe ich auch die schöne diesjährige Jahreslosung:
«Du bist ein Gott, der mich sieht.»

Von: Elisabeth Raiser

24. Februar

Ich will mit euch einen ewigen Bund schliessen. Jesaja 55,3

«Ich will mit euch einen dauerhaften Bund schliessen, zuverlässige
Zuwendung, die ich David erwies» (BigS). Dies ist
nach dem Bund mit Noah, dem Bund mit Abraham, dem
mit David nun ein weiterer Bundesschluss mit dem Volk
Israel. Und es ist nicht der letzte! Das ganze erste Testament
lebt von diesen Bundesschlüssen zwischen Gott und dem
Volk Israel, also einer menschlichen Gemeinschaft, die sich,
wie wir auch oft lesen, nicht unbedingt an die Regeln und
Verabredungen dieser Bundesschlüsse hält. Aber Gott wird
nicht müde, das Versprechen der besonderen Gnade und
Zuwendung zu wiederholen.
Der «Kluge» (Wörterbuch der deutschen Sprache) bestätigt,
dass das Substantiv Bund mit dem Verb binden zusammenhängt.
Damit auch mit dem Wort Band: Es bedeutet
eine feste Bindung – und das heisst zugleich eine gegenseitige
Verpflichtung und Verantwortung. Nun braucht Gott
wohl nicht unsere Verantwortung für ihn – und ich fand es
daher immer genial, dass die gegenseitige Verantwortung in
dem Bund mit Gott im täglichen Leben konkretisiert wird
durch die gegenseitige Verantwortung für die Mitmenschen.
Meine Eltern haben sich bei ihrer Verlobung eine «Bundesgenossenschaft
» zugesprochen! Sie hat trotz mancher Krise
ein Leben lang gehalten. Jede und jeder von uns lebt das
unterschiedlich; aber wir alle erfahren, wie sehr dies unser
Leben trägt. Dafür: Danke!

Von: Elisabeth Raiser

23. Februar

Erlöse uns von dem Bösen. Matthäus 6,13

Am Ende von jedem Gottesdienst und oft zu Hause abends
oder morgens beten wir – und ich denke, das gilt für die
meisten der Bolderntext-Leserinnen und -Leser – das «Vater
unser» und dabei auch diese Bitte: «Erlöse uns von dem
Bösen.» Mich bewegt dabei oft die Frage: Was ist das nun,
das Böse? Es sollte ja mit konkreten Inhalten gefüllt sein – als
umfassender Begriff bleibt es leicht eine Floskel, die natürlich
stimmt, aber in ihrer Allgemeinheit von mir und meinem
eigenen Anteil an diesem Bösen fortgeschoben werden
kann. Natürlich kann das Böse uns von aussen bedrohen, im
Streit, im Krieg, bei jeder Gewalttat, bei Betrug oder bei Neid
und Eifersucht und in vielen anderen Gewändern. Aber Neid
und Eifersucht zum Beispiel können auch in mir wachsen,
ebenso Kleinlichkeit, Rechthaberei, Starrsinn. Und bei all
diesen unguten Gefühlen und Haltungen bin ich selbst herausgefordert,
sie zu erkennen, sie ernst zu nehmen und abzubauen.
Meiner Erfahrung nach hilft ein Gebet, das ganz gut
hinzubekommen. Vielleicht weil ich diese inneren Gefühle
durch das Gebet benenne, sie vor mich hinstelle und Gott
anvertraue. Sie verlieren dadurch ihre Gewalt über mich.
So verstehe ich auch das Wort «erlöse» – als Bitte, unsere
Selbstbezogenheit zu lösen, dieses «incurvatus in se», von
dem Luther spricht.
«Erlöse uns von dem Bösen» – was bedeutet dies für Sie?

Von: Elisabeth Raiser

Mittelteil Januar / Februar

Was von der Versammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen
bleibt und Hoffnung schenkt
:


Vom 31. August bis 8. September 2022 kamen in Karlsruhe
Menschen aus allen Erdteilen zusammen, um miteinander
Gottesdienst zu feiern, über die Kraft des Evangeliums nachzudenken
und die Zukunft zu gestalten. Auch verschiedene
Bolderntexte-Autorinnen und -Autoren nahmen an der Versammlung
teil. Sie erzählen hier von einem persönlichen
Erlebnis, das sie ermutigt hat und sie in Erinnerung begleiten
wird.


Der Geist des Pfingstfests ist lebendig
Von: Barbara Robra
Viertausend Menschen aus aller Welt strömen in das grosse
Zelt im Zentrum des Karlsruher Messegeländes. An diesem
luftigen Ort unter freiem Himmel spüren wir den Geist Gottes,
der uns in aller Verschiedenheit verbindet. Wenn Tag
für Tag Menschen aus 120 Ländern das Gebet, das Jesus uns
gelehrt hat, in ihrer Muttersprache zur gleichen Zeit laut
beten – dann ist das ein Pfingstwunder.
Wenn Menschen aus Israel und Palästina, aus Russland
und der Ukraine, wenn Katholiken, Orthodoxe, Reformierte,
Lutheraner, Anglikaner, Muslime, Juden, Buddhisten,
Pfingstler, Evangelikale miteinander reden und miteinander
Mittelteil
beten – dann ist der Geist des Pfingstfests lebendig. Hier
wird geweint, unfassbares Leid geteilt und mitgeteilt. Hier
wird gelacht, Freude und Hoffnung werden weitergegeben.
Sich öffnen, zuhören, eigene Urteile und Vorurteile hinterfragen,
das Gespräch suchen, gemeinsam die nächsten Schritte
wagen – das prägt diese Vollversammlung.
Junge Menschen, Frauen, Indigene und Menschen mit
Behinderungen haben sich zu Vorversammlungen in Karlsruhe
getroffen. Ihre Analyse und ihre Botschaft sind klar
und scharf: Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Wir dürfen
nicht zulassen, dass weiterhin Menschen sinnlos in Kriegen
getötet werden, Menschen von elementaren Lebensgrundlagen
ausgeschlossen sind. Wir fordern Teilhabe aller statt
Bereicherung weniger. Wir wollen Kommunikation und
Kooperation statt Konfrontation. Wir brauchen Taten und
nicht nur Worte. Das lese ich in den Dokumenten, die die
Vollversammlung verabschiedet hat.

Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt –
und sie integriert!

Von: Gert Rüppell
Es war atemberaubend, was Fadi El Halabi und Karen Abou
Nader im Plenum zu Gerechtigkeit und Menschenwürde auf
die Bühne brachten. Beide stammen aus dem Libanon. Er ein
Psychotherapeut, schwerbehindert im Rollstuhl, Vorsitzender
der Regionalen Ökumenischen Vereinigung der Behinderten
(EDAN), Karen arbeitet als internationale Tänzerin
und Choreographin. Beide boten im Plenum einen gemeinsamen
Tanz (Rollstuhl / Ballett) an, der einem den Atem stocken
liess und dessen Schönheit und Grazie zugleich an die
enormen Möglichkeiten und die Gaben verwies, die behinderte
Menschen in unsere Gemeinschaft einbringen.
Wie viele Menschen sind weiterhin behindert und werden
nicht genügend zur Kenntnis genommen? Die Schwerbehinderten
möglicherweise schon, aber die psychisch Schwerkranken,
die Epileptiker und Neurobehinderten? Werden
sie nicht weiterhin ausgegrenzt, auch wenn sie so viele Möglichkeiten
anzubieten haben? Das 4. Plenum in Karlsruhe hat
mich an diesem Punkt zum Nachdenken gebracht, ebenso
wie die Resolution der EDAN-Vorversammlung, die auf eine
Ausweitung des Behindertenbegriffs und eine erweiterte
Behindertenintegration in unseren Gemeinden verweist.
Inwiefern hängen Versöhnung und Integration zusammen?
Mögen die vielen Kirchenvertreterinnen und -vertreter dies
als Mitbringsel in ihren Gemeinden umsetzen.

Wenn ich atme, lebt der Planet
Von: Matthias Hui
An der Vollversammlung hörte ich die Geschichte der indigenen
Munduruku-Gemeinschaften in Brasilien. Zwei Vertreterinnen,
die mich sehr beeindruckten, erzählten vom
Kampf gegen gigantische Staudammprojekte, Eisenbahnlinien
und Goldminen am Rio Tapajós, mitten im Amazonasgebiet.
Die Ausbeutung von Bodenschätzen, Energiequellen
und Anbauflächen frisst sich gewaltsam in ihre Lebensräume,
in ihr Gemeinschaftsleben und in ihre Seelen hinein.
Der Sojaanbau grassiert – gigantische Waldflächen werden
für den Fleischverzehr im Globalen Norden gerodet. Es sind
vor allem Frauen, die sich wehren: «Wir werden uns nicht
korrumpieren lassen, wir werden nicht weichen.» Denn, so
sagen sie in spiritueller Sprache: Es geht um alles. Nicht nur
um Menschenrechte, nicht nur um den Regenwald. «Die
Natur sind wir. Unsere Lebensweise ist unsere Umwelt. Wenn
ich atme, lebt der Planet.»
Ökumene wäre, wenn diese Frauen, die sich auch als Christinnen
verstehen, in unseren Kirchen gehört würden. Übrigens
heisst ein überzeugendes Dokument der Vollversamm-
lung «Der lebende Planet: Auf der Suche nach einer gerechten
und nachhaltigen globalen Gemeinschaft».

Apartheid in Israel?
Von: Elisabeth Raiser
Zu den heissen Themen der Vollversammlung gehörte die
spannungsreiche Lage im Nahen Osten.
Ich sehe und höre noch Munther Isaac, den jungen Pfarrer
der Weihnachtskirche in Bethlehem, mit bewegter Stimme
sagen: «Wir befinden uns jenseits, also hinter der Mauer. Die
meisten Israelis sind dort nie gewesen, sie dürfen ja nicht
kommen und kennen unsere Lage nicht. All unsere Appelle
und Bitten haben nichts genützt. Daher fordern wir jetzt,
dass Israel zum Apartheidstaat erklärt wird, damit der Internationale
Strafgerichtshof ermitteln kann.»
Diese engagierte kurze Rede war eine Antwort auf eine Intervention
von mir, bei der ich in einem Workshop des Netzwerks
Kairos Palästina einige Einwände gegen den Begriff
Apartheid für Israel vorgebracht hatte: Er gefährde die Arbeit
der Freiwilligen des ökumenischen Begleitprogramms in
Palästina und Israel (EAPPI) und er führe hier in Deutschland
zu einer unguten Polarisierung der Debatte um den Frieden
im Nahen Osten. Munther Isaacs Erwiderung hat mich sehr
bewegt und lässt mich seither nicht in Ruhe.
Die Vollversammlung selber machte sich den Apartheidbegriff
für Israel nicht ausdrücklich zu eigen, verabschiedete
aber eine Erklärung, dass er im Ökumenischen Rat genau
untersucht und besprochen werden muss. Das ist ein wichtiges
Signal, auch für uns in Deutschland!


Christ’s love moves the world to reconciliation and unity
Von: Annegret Brauch
Im Vorfeld der Vollversammlung hatte ich noch aktiv an der
Bewerbung für Karlsruhe mitgearbeitet, jetzt – seit Monaten
im Ruhestand – konnte ich als Freiwillige im Catering
und als Gastteilnehmerin mit dabei sein – und wurde reich
beschenkt.
Begeistert und tief beeindruckt hat mich, wie klar, respektvoll,
offen und freundlich und voller Vertrauen in die
Verbindung stiftende Liebe Christi Teilnehmende und Gäste
miteinander kommunizierten. Mit welcher Ernsthaftigkeit
und Tiefe mit- und umeinander gerungen wurde, gerade bei
politischen und theologischen Differenzen, um beieinander
zu bleiben, bewegt von Christi Geist der Versöhnung und
seiner Bitte um Einheit (vgl. Johannes 17,21). Reinhild Traitler
hat einmal gesagt:
«Wahrheit als Dialog unter den Verschiedenen, als Prozess,
der unter Umständen nur die Anerkennung der Unvereinbarkeit
der Verschiedenen bringt, ist ein heiliger Raum, weil
dieser Prozess uns verbindet und davor bewahrt, auseinanderzufallen.»
In Karlsruhe wurde diese Wahrheit spürbar.

Berührt haben mich die Gottesdienste unterm grossen Zelt:
der Reichtum und die Unterschiedlichkeit der Klänge, Stimmen
und Rhythmen, die sich unter Gottes Geist zu einem
vielstimmig-einigen Lob und Dank zusammenfanden.
Tief bewegt hat mich das Grusswort der Generalsekretärin
von «Religionen für den Frieden», Professorin Azza Karam.
Vielleicht mögen Sie es sich selbst anschauen?!
https://www.youtube.com/watch?v=-Yp8ji2xrns (ab Min. 21)

1. Januar

Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?  Psalm 42,3

«Der du allein der Ewge heisst und Anfang, Ziel und Mitte weisst im Fluge unsrer Zeiten: bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten.» Jochen Klepper schrieb diesen Vers 1938, und er steht im Losungsbüchlein unter der Losung und dem Lehrtext. Seine Bitte und seine Hoffnung sprach er zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland aus; sie waren dringend und wurden immer dringender in den darauffolgenden Kriegsjahren. Klepper hat den Krieg nicht überlebt; er nahm sich zusammen mit seiner jüdischen Frau das Leben, die er anders vor dem Abtransport in eines der Vernichtungslager nicht schützen konnte. Ein zutiefst tragisches Schicksal eines Menschen, für den das «sicher Schreiten» der Gang in den selbstgewählten Tod war.

Das vergangene Jahr hat uns mit Krieg und Zerstörung in der Ukraine, mit der Inflation und den plötzlich so hohen Energiepreisen viele Sorgen bereitet. Der Psalm 42 ist ein in grosser Not geschriebener Hilferuf an Gott – und zugleich ein Trostpsalm: «Was betrübst du dich, meine Seele und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.» Daran lasst uns festhalten in diesem neuen Jahr!

Von Elisabeth Raiser

24. Dezember – Heiliger Abend

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erdenbei den Menschen seines Wohlgefallens.  Lukas 2,14

Wie sehr sehnen wir uns nach dem Frieden, den die Engel jedes Jahr wieder verkünden! So ist dieser Gesang der Engel ein grosser Trost und birgt eine grosse Hoffnung.

Ich frage mich aber schon lange: Ist diese    Formulierung «Friede bei den Menschen seines Wohlgefallens» nicht eine Zusage, die nur den Menschen gilt, die Gott wohl gefallen? Trifft sie nur zu auf die Menschen, die seine Weisungen befolgen, die gut sind – und die andern fallen heraus? Ich habe den Urtext befragt und habe andere Übersetzungen zu Rate gezogen: Die Bibel in gerechter Sprache sagt: «Friede auf Erden bei den Menschen, an denen Gott Freude hat.» Das ist nicht weniger missverständlich. Aber kluge Kommentare haben mich beruhigt: Wörtlich übersetzt heisst der Urtext «und auf der Erde Friede den Menschen des Wohlgefallens», und das bedeutet so viel wie: den Menschen, denn Gott hat Wohlgefallen an ihnen; Gott liebt die Menschen, also auch die, die nicht «gut» sind. Das passt zum Evangelium, zur Nächstenliebe und zur Feindesliebe! Und ich verstehe dies als eine Aufforderung an uns: Haltet Frieden, auch mit denen, die ihr nicht mögt und die euch nicht mögen. Sucht den Frieden auch mit Aggressoren. Wie das geschehen soll, bleibt die grosse Frage. Die Geburt des Kindes und seine Botschaft geben uns Hoffnung, dass es mit seiner Hilfe dennoch gelingt.

Von Elisabeth Raiser

23. Dezember

Gross ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.      1. Timotheus 3,16

Oh ja, gross ist das Geheimnis des Glaubens! Wir hatten kürzlich ein Gespräch in einer Frauengruppe darüber, wen oder was wir uns unter Gott vorstellen, an den alle in der Gruppe glauben und zu dem wir alle beten. Ist Gott ein Er – ist sie eine Sie? Keines von beiden! Aber wer oder was dann? Ein persönlicher Gott, also stellen wir uns eine Person vor, zu der wir sprechen können? Vielleicht. Wir kamen schnell darauf, dass ohne eine Beziehung zwischen Gott und uns der Glaube keinen verstehbaren oder erlebbaren Sinn hat und dass Beten das entscheidende Bindemittel in unserer Beziehung zu Gott ist. Eine junge Frau, die dabei war, schwieg lange, aber plötzlich brach es aus ihr heraus: «Im Katechismus habe ich gehört: Gott musst du dir als Vater vorstellen – oder vielleicht als Mutter. Das kann ich nicht! Mein eigener Vater sagte mir: Nein, Gott ist keine Person, wo sollte die denn sein? Ich denke, Gott ist eine Energie, die wir in uns spüren; die anders, höher ist als wir und die uns belebt. Das kann ich glauben, dieser Kraft kann ich mich anvertrauen.»

Gott und der Glaube an ihn bleiben ein Geheimnis. Die Unaussprechliche, Lebendige, Ewige ist dennoch so nah!

Von Elisabeth Raiser