Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als
die Wächter auf den Morgen. Psalm 130,6

Der 130. Psalm hat die Überschrift «Aus tiefer Not». Es geht
darin um die Vergebung der Sünden sowohl des Einzelnen
wie des Volkes Israel. Und auf diese Vergebung wartet die
Seele. Was hat es mit diesem Warten auf sich? Wir kennen
es in unserer christlichen Tradition in der Adventszeit und
in der Passionszeit – beides klassische Fastenzeiten. Das Fasten
führt zu einer Konzentration, die vorher und nachher
nicht in der gleichen Stärke erreicht wird. Die Freude des
Weihnachtsfestes wie des Osterfestes ist dem gegenüber
überbordend, voller Freigebigkeit, glücklicher Gemeinschaft
und Jubel. Dagegen stelle ich mir das Warten der Seele wie
ein Tief-in-sich-Gehen vor, bei dem wir uns erforschen und
eine Art Rückschau antreten, die uns manchmal vor uns
selbst erschrecken lassen kann. Aber es gibt dabei immer
auch Hoffnung – sozusagen die Umkehr des Blicks!
Die Seele ist unser Zentrum, ich denke, der eigentliche,
tiefere Ort unserer Lebenskraft. Wenn sie auf Erlösung wartet,
ist sie nicht betrübt und unruhig wie im Psalm 130, sie
ist aufmerksam und im besten Sinn gespannt. Ich finde den
Vergleich mit dem Wächter, der auf den Morgen wartet, sehr
schön: Er hält Ausschau nach dem ersten Licht am Horizont –
nach dem Lichtstreifen, der den Tag ankündigt: So ist es auch
mit unserer Seele, die nach dem Licht der Vergebung und
nach neuer Hoffnung Ausschau hält.

Von: Elisabeth Raiser