Schlagwort: Elisabeth Raiser

24. Februar

Paulus schreibt: Ich weiss aber:
Wenn ich zu euch komme, werde ich mit dem
vollen Segen Christi kommen.
Römer 15,29

«Von euch aus will ich dann nach Spanien ziehen», so heisst es direkt davor. Dazu wird es nicht kommen: Paulus gelangt zwar nach Rom in die dortige Gemeinde und predigt dort. Aber er kam als Gefangener nach Rom und sollte dort vor ein kaiserliches Gericht gestellt werden. Die historische Forschung geht davon aus, dass er im Zuge der Christenverfolgung um das Jahr 60 n. Chr. den Märtyrertod gestorben ist. Seine in unserem heutigen Vers ausgesprochene Hoffnung, dass er die römische Gemeinde mit dem vollen Segen Christi besuchen würde, hat sich anders erfüllt, als Paulus es ursprünglich wohl gemeint hat.
Lag der Segen vielleicht in seinem Märtyrertod? Er wurde und wird ja als Märtyrer verehrt, und das Zeugnis der Märtyrer hatte eine sehr weit reichende Wirkung! Für den Glauben zu sterben, ist bewundernswert und eine sehr grosse Sache! Mir erscheint sie auch unheimlich, weil sie im Lauf der Geschichte so oft missbraucht wurde und zu Gewalt und grausamen Kriegen geführt hat. Denken wir nur an die Kreuzzüge. Dennoch glaube ich an den Segen, von dem Paulus spricht. Wer weiss, ob wir im Norden Europas sonst je von Jesus gehört hätten. Das ist eine andere lange Geschichte mit vielen guten, aber auch schrecklichen Zügen. Aber: Mich erfüllt grosse Dankbarkeit dafür, dass ich Jesus und seine Botschaft kennenlernen durfte. Ein Segen!

Von: Elisabeth Raiser

23. Februar

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Psalm 22,2

In diesen Tagen – ich schreibe dies Mitte Oktober 2023, der Terrorangriff der Hamas auf Israel ist gerade eine Woche her, und die Bodenoffensive der israelischen Armee in den Gazestreifen steht bevor –, in diesen Tagen kann ich bei diesem Schrei des Psalmisten nur an all die unglücklichen und unschuldigen Opfer dieses schrecklichen neuerlichen Kriegs denken. Ob sie sich in ihrer Not, bei der Trauer um die getöteten oder verschleppten Verwandten und Freunde oder auf der Flucht oder im Bunker oder in ihrer Angst mit diesem Ruf an Gott wenden? Vielleicht. Wenn ich an sie denke, kann ich nicht anders, als mich in ihre Lage zu versetzen und für sie diese Klage auszusprechen. Ich denke dabei auch an Jesus Christus, der am Kreuz diese Worte ausrief. Es ist sein Ruf in Todesnot und Todesangst, in der er sich an die Seite von verzweifelten, um ihr Leben bangenden und kämpfenden Menschen stellt.
Manchmal erscheint den Verzweifelnden unerwartet ein Engel in Menschengestalt, der ihnen ein Dach über dem Kopf, eine Mahlzeit, einen helfenden Arm gibt oder sie einfach begleitet und stützt. Das sind die Momente, in denen die Zuversicht auf Gottes Hilfe die Oberhand gewinnt (vgl. die Verse 23–32). Die Engel kommen ja oft unerwartet zu uns. Wir können nur beten, dass sie die Notleidenden finden und ihnen Rettung und neue Hoffnung bringen!

Von: Elisabeth Raiser

24. Dezember

Siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir. Jesaja 60,2

«Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker.» Wir leben in einer Zeit, in der diese Aussage uns sehr realistisch vorkommt: die vielen lang andauernden, nicht lösbar scheinenden kriegerischen Konflikte, die wachsende Schere zwischen armen und reichen Menschen, der spürbare Klimawandel mit seinen Wetterextremen: All das passt in diese Beschreibung aus dem 60. Kapitel des Buches Jesaja.
Die «Herrlichkeit des HERRN», die dieses Dunkel auflöst, erscheint uns in dem kleinen, zarten, noch sehr schutzbedürftigen Kind, dessen Geburt wir heute Nacht feiern. In «Herrlichkeit» steckt die Vorstellung von «Herr». Als ein Herr kam Jesus nun wirklich nicht zur Welt – er kam und blieb verletzlich, aber er brachte ein Licht, von dem wir leben. Es erhellt die Dunkelheit mit seinen Strahlen der Hoffnung und der Liebe. So erschliesst sich mir dieser zweite Jesajavers im 60. Kapitel durch den ersten: «Mache dich auf, werde Licht, denn dein Licht kommt.» Den Hirten erschien dieses Licht mitten in der Nacht – und sie eilten alsbald zum Stall, um das neugeborene Kind zu sehen und sein Licht in ihre manchmal so dunklen Nächte bei den Schafen mitzunehmen. Wir hoffen so sehr, dieses Leuchten auch in unsere Tage mitzunehmen. Möge es so kommen!

von: Elisabeth Raiser

23. Dezember

So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. Römer 13,10

Ich bin sehr dankbar, in einer Demokratie zu leben, deren Wahrzeichen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung von der exekutiven Gewalt, von der «Obrigkeit», ist. Bei Paulus steht im 13. Kapitel des Römerbriefs vor diesem Vers 10 ein langer Absatz über den notwendigen Gehorsam gegenüber der Obrigkeit.
Paulus ging davon aus, dass die Regierung von Gott eingesetzt und daher gut ist. Diesen Glauben haben wir verloren; die Regierung wird von uns, dem vom «Volk» gewählten Parlament, eingesetzt. Nicht mehr ein Gottesgnadentum, sondern das unabhängige Recht ist der Garant einer lebensfreundlichen Ordnung.
Für Paulus ist dieser Garant die Liebe, die Liebe zum Mitmenschen, die Achtsamkeit, Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft ihm und ihr gegenüber. Die Liebe ist für ihn unsere
menschliche Antwort auf die Gnade Gottes, die uns aus der Schuld befreit. Das ist sein Ideal einer menschlichen Gemeinschaft, ein anderes Modell als unsere Rechtsstaatlichkeit, versucht aber wie diese alle Menschen einzubeziehen. Diese Liebe bezieht sich nicht nur auf unsere Nächsten, auf unsere Gruppe, Familie, Ethnie oder Parteifreunde zu der es eine selbstverständliche Bindung gibt – sie bezieht auch den «andern», den Gegner, gar den Feind ein. So begegnen sich Liebe und moderne Rechtsstaatlichkeit. Ich kann Paulus darin gut folgen!

von: Elisabeth Raiser

24. Oktober

In Christus liegen verborgen alle Schätze
der Weisheit und Erkenntnis.
Kolosser 2,3

Gross ist das Geheimnis des Glaubens! So habe ich vergangenen
Dezember meinen Bolderntext begonnen, und das passt
auch zum heutigen Text aus dem Kolosserbrief: In Christus
liegen die Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen.
Sie sind nicht offenbar, wie wir das gerne hätten und wie jede
Predigt versucht, sie ans Tageslicht zu bringen. Das gelingt
manchmal gut, und ich als Zuhörerin gehe dann ganz belebt
und voller Hoffnung auf unserem langen schönen Waldweg
nach Hause und in die nächste Woche.
Die Mystiker haben viel verstanden oder vielmehr erahnt
oder gesehen von den verborgenen Schätzen der Weisheit
und Erkenntnis – und etwas davon spüren auch wir eher
nüchternen Christen beim Schmecken des Brots und Kosten
des Weins beim Abendmahl. Wir nehmen es zu uns «zu
seinem Gedächtnis». Das verbindet uns mit den anderen
im Kreis Stehenden oder Sitzenden und hat zugleich eine
heilende, geheimnisvolle Wirkung auf unsere Seele. Ob wir
damit der Weisheit näherkommen, weiss ich nicht, aber der
Erkenntnis vielleicht, weil wir dabei Jesus nahekommen, uns
sein Leben und Wirken vergegenwärtigen können. Unsere
christlichen Nächstenliebe, unsere Diakonie ist meistens
genau dieser Vergegenwärtigung zu verdanken. Verborgen
und zugleich wirksam!

Von: Elisabeth Raiser

23. Oktober

Er ist ein lebendiger Gott, der ewig bleibt,
und sein Reich ist unvergänglich.
Daniel 6,27

Das Buch Daniel handelt von dramatischen Ereignissen
in Babylon, wohin das Volk Israel ins Exil geführt worden
war. Viele von uns kennen das Gedicht von Heinrich Heine

«Belsazar»: In der biblischen Vorlage für dieses Gedicht
deutet der Jude Daniel die bei dem ausgelassenen Fest des
Königs plötzlich erscheinende geheimnisvolle Flammenschrift
mit den Worten «Mene Tekel» als ein Urteil Gottes
und prophezeit den Untergang Belsazars, der dann auch
eintritt. Und es geht ebenso märchenhaft weiter: Unter dem
Nachfolger Belsazars Darius wird Daniel Opfer einer Intrige,
die den König dazu bringt, jeden mit dem Tod zu bestrafen,
der sich an eine andere Gottheit als an ihn mit Bitten oder im
Gebet wendet. Der fromme Daniel wird bei seinen Gebeten
entdeckt und zur Strafe in die Löwengrube geworfen. Gott
bewahrt ihn vor dem Tod, und das ist für Darius der Beweis,
dass dieser Gott der Juden der lebendige Gott ist, dessen
Reich unvergänglich ist.
Für uns, für mich ein schwieriger Beweis! Gott greift erfahrungsgemäss
ja gerade nicht in die Geschicke der Menschheit
ein; vielleicht ein Grund für viele, nicht mehr an Gott
zu glauben. Seine/ihre Wirkung erlebe ich – wie viele von
uns – vielmehr innerlich, entsprechend dem Gleichnis Jesu
als ein Samenkorn, das zu einem grossen Baum werden kann
und uns Hoffnung gibt, uns bewegt, leitet und trägt.

Von: Elisabeth Raiser

24. August

Gott hat das Wort dem Volk Israel gesandt und
Frieden verkündigt durch Jesus Christus, welcher ist
Herr über alles.
Apostelgeschichte 10,36

Apostelgeschichte, Kapitel 10: Der gottesfürchtige Centurio
Cornelius empfängt durch einen Engel die Aufforderung,
nach Simon, genannt Petrus, zu suchen und ihn herbeiholen
zu lassen. Simon Petrus hat fast gleichzeitig einen merkwürdigen
Traum, in dem ihm gezeigt wird, dass es keine Tiere
gibt, die man nicht essen dürfe – und das überträgt er auf die
Völker: Es gibt kein Volk, das nicht der Bekehrung zu Christus
würdig ist. Als er dann zu Cornelius gerufen wird, eilt er zu
ihm – und es gelingt ihm schnell, Cornelius zu überzeugen,
dass es in Christus keinen Unterschied macht, ob jemand
Jude ist oder einem anderen Volk angehört: Jeder und jede
kann zum Glauben an Jesus Christus kommen, «durch
den Gott Frieden verkündigt hat und der der Herr ist über
alles …» Die Botschaft ist: Der Friede, den Christus bringt,
ist ein Friede für alle Völker und zwischen allen Völkern. Legt
die Feindschaft ab! Das geht uns in diesen Kriegszeiten sehr
nah, vor allem da in den vergangenen grossen Kriegen, die
unseren Kontinent heimgesucht haben, wie in dem gegenwärtigen
Krieg Russlands gegen die Ukraine, auf allen Seiten
Christen leben und Kirchen den Krieg unterstützen, damals
und jetzt. Kann sie Jesu Botschaft vom Frieden umstimmen?
Die Hoffnung darauf sollte uns nie verlassen!

Von: Elisabeth Raiser

23. August

Ihr habt schon geschmeckt, dass der Herr freundlich ist. 1. Petrus 2,3

Ihr habt schon geschmeckt! Das ist ein schönes, sinnliches
Bild, und wenn es sich auf die Freundlichkeit Gottes bezieht,
lässt man es sich auf der Zunge zergehen! Mir fällt dabei der
schöne, wahrscheinlich bekannteste Text von Marcel Proust
aus seinem Buch «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit»
ein. Er beschreibt dort auf zwei Seiten, wie der Verzehr einer
Madeleine (ein in Frankreich verbreitetes Teegebäck), die er
in den Tee tunkt, plötzlich die Erinnerung an ein tiefes Erlebnis
in seiner Kindheit wachruft, in dem Proust den wahren
Sinn des Lebens zu erhaschen meint. Auch damals tauchte
er, als er krank war, eine Madeleine in eine Tasse Tee und
schmeckte sie – und das erfüllte ihn mit dem Empfinden,
eine in ihm verborgene Wahrheit zu schmecken, ohne sie
fassen zu können. Die Sinne, hier der Geschmackssinn, wissen
oft mehr als unser Geist!
Und so ist es mit der Freundlichkeit Gottes. Wir schmecken
sie – wie könnten wir sie mit dem Verstand fassen? Mit
Hilfe der Theologie? Mit unseren ethischen Überzeugungen?
Sie helfen uns, uns dieser Wahrheit anzunähern. Aber das
Geheimnis der Freundlichkeit Gottes, seiner immerwährenden
Gegenwart in uns – das ist eine innere Erfahrung, die uns
immer, auch entgegen allem Augenschein, hoffen lässt und
die wir mit dem Verstand nicht fassen, die wir aber fühlen,
vielleicht schmecken können. Gott sei Dank!

Von: Elisabeth Raiser

24. Juni

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR
von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe
üben und demütig sein vor deinem Gott.
Micha 6,8

Das 6. Kapitel des Propheten Micha liest sich wie eine
Gerichtssitzung. Gott ruft das Volk Israel zur Rechenschaft
und es endet mit der Androhung einer ziemlich deftigen
Bestrafung. Der Grund sind, wie so oft, die vielen Lügen und
Falschreden der Mächtigen, die schamlose Bereicherung der
Reichen. Dazwischengeschoben ist die Frage: Soll ich, der
Angeklagte, etwa meinen Sohn opfern, um Gott zu besänftigen?
Oder soll ich Kälber als Brandopfer bringen? Darauf
antwortet Micha ganz einfach, in meinen eigenen Worten:
Du weisst doch ganz genau, was gut ist und das Leben fördert
und damit gottgefällig ist: Halte einfach Gottes Gebote
und begegne deinen Mitmenschen mit Liebe. Wozu sonst
hast du diese Weisungen fürs Leben erhalten?
Es klingt so einfach – und ist offenbar doch so schwer. Die
Versuchungen des Reichtums und der Macht sind offensichtlich
grösser und mächtiger als die guten Lebensregeln,
die wir in Gottes Wort und Gottes Geboten hören.
Das gilt in mancher Hinsicht auch heute und ist offensichtlich
in der menschlichen Natur angelegt. Versuchungen des
Teufels nannte man das früher. Um ihnen zu widerstehen,
sind diese uralten Weisungen Gottes noch immer ein eindrückliches
ethisches Bollwerk. Und wir tun gut daran, uns
danach zu richten.

Von: Elisabeth Raiser

23. Juni

Jesus zog umher in ganz Galiläa, lehrte in
ihren Synagogen und predigte das Evangelium
von dem Reich und heilte alle Krankheiten
und alle Gebrechen im Volk.
Matthäus 4,23

Diese kurze Beschreibung von Jesu Wanderung durch Galiläa
erscheint mir schon wie eine Vorwegnahme des Reiches
Gottes, von dem Jesus predigt. Wir bitten im Vaterunser
noch zweitausend Jahre später um das Kommen des Reiches
Gottes. Und da stellen sich uns ja oft die Fragen: Wo ist es, wo
bleibt es, gibt es schon Anzeichen seiner Verwirklichung, lebt
es vielleicht schon mitten unter uns? Wir spüren es manchmal,
aber es entgleitet uns auch immer wieder. Der, während
ich schreibe, noch immer wütende Krieg in der Ukraine ist
ein solches Entgleiten, aber auch viele andere menschengemachte
Katastrophen.
Und doch gibt es die grosse Hilfsbereitschaft für die Opfer,
die oft mit grossem Mut, Fantasie, unendlicher Nächstenliebe
und oft einer wahren Aufopferung der Helfenden verbunden
ist. Das erscheint mir immer wieder wie ein Zipfel
des Reiches Gottes. Es ist offensichtlich in uns Menschen
schon angelegt und es kann sich entfalten.
Jeder Schritt zum Frieden, der auch nur ein Menschenleben
rettet, gehört, denke ich, auch zu diesem Zipfel des
Reiches Gottes.
Ich stelle mir Jesu Wanderung durch Galiläa dankbar und
voller Hoffnung vor meinem inneren Auge vor. Mit dieser
dankbaren Hoffnung möchte ich den heutigen Tag beginnen.

Von: Elisabeth Raiser