Schlagwort: Elisabeth Raiser

24. April

Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als
die Wächter auf den Morgen. Psalm 130,6

Der 130. Psalm hat die Überschrift «Aus tiefer Not». Es geht
darin um die Vergebung der Sünden sowohl des Einzelnen
wie des Volkes Israel. Und auf diese Vergebung wartet die
Seele. Was hat es mit diesem Warten auf sich? Wir kennen
es in unserer christlichen Tradition in der Adventszeit und
in der Passionszeit – beides klassische Fastenzeiten. Das Fasten
führt zu einer Konzentration, die vorher und nachher
nicht in der gleichen Stärke erreicht wird. Die Freude des
Weihnachtsfestes wie des Osterfestes ist dem gegenüber
überbordend, voller Freigebigkeit, glücklicher Gemeinschaft
und Jubel. Dagegen stelle ich mir das Warten der Seele wie
ein Tief-in-sich-Gehen vor, bei dem wir uns erforschen und
eine Art Rückschau antreten, die uns manchmal vor uns
selbst erschrecken lassen kann. Aber es gibt dabei immer
auch Hoffnung – sozusagen die Umkehr des Blicks!
Die Seele ist unser Zentrum, ich denke, der eigentliche,
tiefere Ort unserer Lebenskraft. Wenn sie auf Erlösung wartet,
ist sie nicht betrübt und unruhig wie im Psalm 130, sie
ist aufmerksam und im besten Sinn gespannt. Ich finde den
Vergleich mit dem Wächter, der auf den Morgen wartet, sehr
schön: Er hält Ausschau nach dem ersten Licht am Horizont –
nach dem Lichtstreifen, der den Tag ankündigt: So ist es auch
mit unserer Seele, die nach dem Licht der Vergebung und
nach neuer Hoffnung Ausschau hält.

Von: Elisabeth Raiser

23. April

Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es
ist alles bloss und aufgedeckt vor den Augen dessen,
dem wir Rechenschaft geben müssen. Hebräer 4,13

Dieser Satz des Paulus ist wohl eine der biblischen Vorlagen
für den Ausspruch, den ich früher in der Sonntagsschule
gehört habe und der in so vielen Familien den Kindern
eingetrichtert worden ist, damit sie sich keine Streiche
und Dummheiten und Lügen leisten, nämlich: «Der liebe
Gott sieht alles.» Das hat bei vielen Kindern ein eher
angsterregendes Gottesbild hinterlassen, das oft bis ins
Erwachsenenalter bestehen bleibt. Dabei gibt es die andere,
tröstliche, bergende Seite dieses «von Gott Gesehenwerdens
», wie sie im Psalm 139 so wunderbar ausgedrückt
wird: «HERR, du erforschst mich und kennst mich. Ich sitze
oder stehe auf, so weisst du es; du verstehst meine Gedanken
von ferne» (Verse 1 und 2).
«Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äussersten
Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und
deine Rechte mich halten.» (Verse 9 und 10)
Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Diese
Gewissheit kann uns tragen, uns Mut geben, auf unserem
Lebensweg einiges zu wagen, was nicht vorgegeben, aber
kühn ist. Natürlich sollten wir dafür Rechenschaft ablegen,
wie Paulus schreibt; aber Gottes Gnade begleitet uns auch
dabei. So verstehe ich auch die schöne diesjährige Jahreslosung:
«Du bist ein Gott, der mich sieht.»

Von: Elisabeth Raiser