Autor: Elisabeth Raiser

24. Oktober

In Christus liegen verborgen alle Schätze
der Weisheit und Erkenntnis.
Kolosser 2,3

Gross ist das Geheimnis des Glaubens! So habe ich vergangenen
Dezember meinen Bolderntext begonnen, und das passt
auch zum heutigen Text aus dem Kolosserbrief: In Christus
liegen die Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen.
Sie sind nicht offenbar, wie wir das gerne hätten und wie jede
Predigt versucht, sie ans Tageslicht zu bringen. Das gelingt
manchmal gut, und ich als Zuhörerin gehe dann ganz belebt
und voller Hoffnung auf unserem langen schönen Waldweg
nach Hause und in die nächste Woche.
Die Mystiker haben viel verstanden oder vielmehr erahnt
oder gesehen von den verborgenen Schätzen der Weisheit
und Erkenntnis – und etwas davon spüren auch wir eher
nüchternen Christen beim Schmecken des Brots und Kosten
des Weins beim Abendmahl. Wir nehmen es zu uns «zu
seinem Gedächtnis». Das verbindet uns mit den anderen
im Kreis Stehenden oder Sitzenden und hat zugleich eine
heilende, geheimnisvolle Wirkung auf unsere Seele. Ob wir
damit der Weisheit näherkommen, weiss ich nicht, aber der
Erkenntnis vielleicht, weil wir dabei Jesus nahekommen, uns
sein Leben und Wirken vergegenwärtigen können. Unsere
christlichen Nächstenliebe, unsere Diakonie ist meistens
genau dieser Vergegenwärtigung zu verdanken. Verborgen
und zugleich wirksam!

Von: Elisabeth Raiser

23. Oktober

Er ist ein lebendiger Gott, der ewig bleibt,
und sein Reich ist unvergänglich.
Daniel 6,27

Das Buch Daniel handelt von dramatischen Ereignissen
in Babylon, wohin das Volk Israel ins Exil geführt worden
war. Viele von uns kennen das Gedicht von Heinrich Heine

«Belsazar»: In der biblischen Vorlage für dieses Gedicht
deutet der Jude Daniel die bei dem ausgelassenen Fest des
Königs plötzlich erscheinende geheimnisvolle Flammenschrift
mit den Worten «Mene Tekel» als ein Urteil Gottes
und prophezeit den Untergang Belsazars, der dann auch
eintritt. Und es geht ebenso märchenhaft weiter: Unter dem
Nachfolger Belsazars Darius wird Daniel Opfer einer Intrige,
die den König dazu bringt, jeden mit dem Tod zu bestrafen,
der sich an eine andere Gottheit als an ihn mit Bitten oder im
Gebet wendet. Der fromme Daniel wird bei seinen Gebeten
entdeckt und zur Strafe in die Löwengrube geworfen. Gott
bewahrt ihn vor dem Tod, und das ist für Darius der Beweis,
dass dieser Gott der Juden der lebendige Gott ist, dessen
Reich unvergänglich ist.
Für uns, für mich ein schwieriger Beweis! Gott greift erfahrungsgemäss
ja gerade nicht in die Geschicke der Menschheit
ein; vielleicht ein Grund für viele, nicht mehr an Gott
zu glauben. Seine/ihre Wirkung erlebe ich – wie viele von
uns – vielmehr innerlich, entsprechend dem Gleichnis Jesu
als ein Samenkorn, das zu einem grossen Baum werden kann
und uns Hoffnung gibt, uns bewegt, leitet und trägt.

Von: Elisabeth Raiser

24. August

Gott hat das Wort dem Volk Israel gesandt und
Frieden verkündigt durch Jesus Christus, welcher ist
Herr über alles.
Apostelgeschichte 10,36

Apostelgeschichte, Kapitel 10: Der gottesfürchtige Centurio
Cornelius empfängt durch einen Engel die Aufforderung,
nach Simon, genannt Petrus, zu suchen und ihn herbeiholen
zu lassen. Simon Petrus hat fast gleichzeitig einen merkwürdigen
Traum, in dem ihm gezeigt wird, dass es keine Tiere
gibt, die man nicht essen dürfe – und das überträgt er auf die
Völker: Es gibt kein Volk, das nicht der Bekehrung zu Christus
würdig ist. Als er dann zu Cornelius gerufen wird, eilt er zu
ihm – und es gelingt ihm schnell, Cornelius zu überzeugen,
dass es in Christus keinen Unterschied macht, ob jemand
Jude ist oder einem anderen Volk angehört: Jeder und jede
kann zum Glauben an Jesus Christus kommen, «durch
den Gott Frieden verkündigt hat und der der Herr ist über
alles …» Die Botschaft ist: Der Friede, den Christus bringt,
ist ein Friede für alle Völker und zwischen allen Völkern. Legt
die Feindschaft ab! Das geht uns in diesen Kriegszeiten sehr
nah, vor allem da in den vergangenen grossen Kriegen, die
unseren Kontinent heimgesucht haben, wie in dem gegenwärtigen
Krieg Russlands gegen die Ukraine, auf allen Seiten
Christen leben und Kirchen den Krieg unterstützen, damals
und jetzt. Kann sie Jesu Botschaft vom Frieden umstimmen?
Die Hoffnung darauf sollte uns nie verlassen!

Von: Elisabeth Raiser

23. August

Ihr habt schon geschmeckt, dass der Herr freundlich ist. 1. Petrus 2,3

Ihr habt schon geschmeckt! Das ist ein schönes, sinnliches
Bild, und wenn es sich auf die Freundlichkeit Gottes bezieht,
lässt man es sich auf der Zunge zergehen! Mir fällt dabei der
schöne, wahrscheinlich bekannteste Text von Marcel Proust
aus seinem Buch «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit»
ein. Er beschreibt dort auf zwei Seiten, wie der Verzehr einer
Madeleine (ein in Frankreich verbreitetes Teegebäck), die er
in den Tee tunkt, plötzlich die Erinnerung an ein tiefes Erlebnis
in seiner Kindheit wachruft, in dem Proust den wahren
Sinn des Lebens zu erhaschen meint. Auch damals tauchte
er, als er krank war, eine Madeleine in eine Tasse Tee und
schmeckte sie – und das erfüllte ihn mit dem Empfinden,
eine in ihm verborgene Wahrheit zu schmecken, ohne sie
fassen zu können. Die Sinne, hier der Geschmackssinn, wissen
oft mehr als unser Geist!
Und so ist es mit der Freundlichkeit Gottes. Wir schmecken
sie – wie könnten wir sie mit dem Verstand fassen? Mit
Hilfe der Theologie? Mit unseren ethischen Überzeugungen?
Sie helfen uns, uns dieser Wahrheit anzunähern. Aber das
Geheimnis der Freundlichkeit Gottes, seiner immerwährenden
Gegenwart in uns – das ist eine innere Erfahrung, die uns
immer, auch entgegen allem Augenschein, hoffen lässt und
die wir mit dem Verstand nicht fassen, die wir aber fühlen,
vielleicht schmecken können. Gott sei Dank!

Von: Elisabeth Raiser

24. Juni

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR
von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe
üben und demütig sein vor deinem Gott.
Micha 6,8

Das 6. Kapitel des Propheten Micha liest sich wie eine
Gerichtssitzung. Gott ruft das Volk Israel zur Rechenschaft
und es endet mit der Androhung einer ziemlich deftigen
Bestrafung. Der Grund sind, wie so oft, die vielen Lügen und
Falschreden der Mächtigen, die schamlose Bereicherung der
Reichen. Dazwischengeschoben ist die Frage: Soll ich, der
Angeklagte, etwa meinen Sohn opfern, um Gott zu besänftigen?
Oder soll ich Kälber als Brandopfer bringen? Darauf
antwortet Micha ganz einfach, in meinen eigenen Worten:
Du weisst doch ganz genau, was gut ist und das Leben fördert
und damit gottgefällig ist: Halte einfach Gottes Gebote
und begegne deinen Mitmenschen mit Liebe. Wozu sonst
hast du diese Weisungen fürs Leben erhalten?
Es klingt so einfach – und ist offenbar doch so schwer. Die
Versuchungen des Reichtums und der Macht sind offensichtlich
grösser und mächtiger als die guten Lebensregeln,
die wir in Gottes Wort und Gottes Geboten hören.
Das gilt in mancher Hinsicht auch heute und ist offensichtlich
in der menschlichen Natur angelegt. Versuchungen des
Teufels nannte man das früher. Um ihnen zu widerstehen,
sind diese uralten Weisungen Gottes noch immer ein eindrückliches
ethisches Bollwerk. Und wir tun gut daran, uns
danach zu richten.

Von: Elisabeth Raiser

23. Juni

Jesus zog umher in ganz Galiläa, lehrte in
ihren Synagogen und predigte das Evangelium
von dem Reich und heilte alle Krankheiten
und alle Gebrechen im Volk.
Matthäus 4,23

Diese kurze Beschreibung von Jesu Wanderung durch Galiläa
erscheint mir schon wie eine Vorwegnahme des Reiches
Gottes, von dem Jesus predigt. Wir bitten im Vaterunser
noch zweitausend Jahre später um das Kommen des Reiches
Gottes. Und da stellen sich uns ja oft die Fragen: Wo ist es, wo
bleibt es, gibt es schon Anzeichen seiner Verwirklichung, lebt
es vielleicht schon mitten unter uns? Wir spüren es manchmal,
aber es entgleitet uns auch immer wieder. Der, während
ich schreibe, noch immer wütende Krieg in der Ukraine ist
ein solches Entgleiten, aber auch viele andere menschengemachte
Katastrophen.
Und doch gibt es die grosse Hilfsbereitschaft für die Opfer,
die oft mit grossem Mut, Fantasie, unendlicher Nächstenliebe
und oft einer wahren Aufopferung der Helfenden verbunden
ist. Das erscheint mir immer wieder wie ein Zipfel
des Reiches Gottes. Es ist offensichtlich in uns Menschen
schon angelegt und es kann sich entfalten.
Jeder Schritt zum Frieden, der auch nur ein Menschenleben
rettet, gehört, denke ich, auch zu diesem Zipfel des
Reiches Gottes.
Ich stelle mir Jesu Wanderung durch Galiläa dankbar und
voller Hoffnung vor meinem inneren Auge vor. Mit dieser
dankbaren Hoffnung möchte ich den heutigen Tag beginnen.

Von: Elisabeth Raiser

24. April

Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als
die Wächter auf den Morgen. Psalm 130,6

Der 130. Psalm hat die Überschrift «Aus tiefer Not». Es geht
darin um die Vergebung der Sünden sowohl des Einzelnen
wie des Volkes Israel. Und auf diese Vergebung wartet die
Seele. Was hat es mit diesem Warten auf sich? Wir kennen
es in unserer christlichen Tradition in der Adventszeit und
in der Passionszeit – beides klassische Fastenzeiten. Das Fasten
führt zu einer Konzentration, die vorher und nachher
nicht in der gleichen Stärke erreicht wird. Die Freude des
Weihnachtsfestes wie des Osterfestes ist dem gegenüber
überbordend, voller Freigebigkeit, glücklicher Gemeinschaft
und Jubel. Dagegen stelle ich mir das Warten der Seele wie
ein Tief-in-sich-Gehen vor, bei dem wir uns erforschen und
eine Art Rückschau antreten, die uns manchmal vor uns
selbst erschrecken lassen kann. Aber es gibt dabei immer
auch Hoffnung – sozusagen die Umkehr des Blicks!
Die Seele ist unser Zentrum, ich denke, der eigentliche,
tiefere Ort unserer Lebenskraft. Wenn sie auf Erlösung wartet,
ist sie nicht betrübt und unruhig wie im Psalm 130, sie
ist aufmerksam und im besten Sinn gespannt. Ich finde den
Vergleich mit dem Wächter, der auf den Morgen wartet, sehr
schön: Er hält Ausschau nach dem ersten Licht am Horizont –
nach dem Lichtstreifen, der den Tag ankündigt: So ist es auch
mit unserer Seele, die nach dem Licht der Vergebung und
nach neuer Hoffnung Ausschau hält.

Von: Elisabeth Raiser

23. April

Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es
ist alles bloss und aufgedeckt vor den Augen dessen,
dem wir Rechenschaft geben müssen. Hebräer 4,13

Dieser Satz des Paulus ist wohl eine der biblischen Vorlagen
für den Ausspruch, den ich früher in der Sonntagsschule
gehört habe und der in so vielen Familien den Kindern
eingetrichtert worden ist, damit sie sich keine Streiche
und Dummheiten und Lügen leisten, nämlich: «Der liebe
Gott sieht alles.» Das hat bei vielen Kindern ein eher
angsterregendes Gottesbild hinterlassen, das oft bis ins
Erwachsenenalter bestehen bleibt. Dabei gibt es die andere,
tröstliche, bergende Seite dieses «von Gott Gesehenwerdens
», wie sie im Psalm 139 so wunderbar ausgedrückt
wird: «HERR, du erforschst mich und kennst mich. Ich sitze
oder stehe auf, so weisst du es; du verstehst meine Gedanken
von ferne» (Verse 1 und 2).
«Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äussersten
Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und
deine Rechte mich halten.» (Verse 9 und 10)
Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Diese
Gewissheit kann uns tragen, uns Mut geben, auf unserem
Lebensweg einiges zu wagen, was nicht vorgegeben, aber
kühn ist. Natürlich sollten wir dafür Rechenschaft ablegen,
wie Paulus schreibt; aber Gottes Gnade begleitet uns auch
dabei. So verstehe ich auch die schöne diesjährige Jahreslosung:
«Du bist ein Gott, der mich sieht.»

Von: Elisabeth Raiser

24. Februar

Ich will mit euch einen ewigen Bund schliessen. Jesaja 55,3

«Ich will mit euch einen dauerhaften Bund schliessen, zuverlässige
Zuwendung, die ich David erwies» (BigS). Dies ist
nach dem Bund mit Noah, dem Bund mit Abraham, dem
mit David nun ein weiterer Bundesschluss mit dem Volk
Israel. Und es ist nicht der letzte! Das ganze erste Testament
lebt von diesen Bundesschlüssen zwischen Gott und dem
Volk Israel, also einer menschlichen Gemeinschaft, die sich,
wie wir auch oft lesen, nicht unbedingt an die Regeln und
Verabredungen dieser Bundesschlüsse hält. Aber Gott wird
nicht müde, das Versprechen der besonderen Gnade und
Zuwendung zu wiederholen.
Der «Kluge» (Wörterbuch der deutschen Sprache) bestätigt,
dass das Substantiv Bund mit dem Verb binden zusammenhängt.
Damit auch mit dem Wort Band: Es bedeutet
eine feste Bindung – und das heisst zugleich eine gegenseitige
Verpflichtung und Verantwortung. Nun braucht Gott
wohl nicht unsere Verantwortung für ihn – und ich fand es
daher immer genial, dass die gegenseitige Verantwortung in
dem Bund mit Gott im täglichen Leben konkretisiert wird
durch die gegenseitige Verantwortung für die Mitmenschen.
Meine Eltern haben sich bei ihrer Verlobung eine «Bundesgenossenschaft
» zugesprochen! Sie hat trotz mancher Krise
ein Leben lang gehalten. Jede und jeder von uns lebt das
unterschiedlich; aber wir alle erfahren, wie sehr dies unser
Leben trägt. Dafür: Danke!

Von: Elisabeth Raiser

23. Februar

Erlöse uns von dem Bösen. Matthäus 6,13

Am Ende von jedem Gottesdienst und oft zu Hause abends
oder morgens beten wir – und ich denke, das gilt für die
meisten der Bolderntext-Leserinnen und -Leser – das «Vater
unser» und dabei auch diese Bitte: «Erlöse uns von dem
Bösen.» Mich bewegt dabei oft die Frage: Was ist das nun,
das Böse? Es sollte ja mit konkreten Inhalten gefüllt sein – als
umfassender Begriff bleibt es leicht eine Floskel, die natürlich
stimmt, aber in ihrer Allgemeinheit von mir und meinem
eigenen Anteil an diesem Bösen fortgeschoben werden
kann. Natürlich kann das Böse uns von aussen bedrohen, im
Streit, im Krieg, bei jeder Gewalttat, bei Betrug oder bei Neid
und Eifersucht und in vielen anderen Gewändern. Aber Neid
und Eifersucht zum Beispiel können auch in mir wachsen,
ebenso Kleinlichkeit, Rechthaberei, Starrsinn. Und bei all
diesen unguten Gefühlen und Haltungen bin ich selbst herausgefordert,
sie zu erkennen, sie ernst zu nehmen und abzubauen.
Meiner Erfahrung nach hilft ein Gebet, das ganz gut
hinzubekommen. Vielleicht weil ich diese inneren Gefühle
durch das Gebet benenne, sie vor mich hinstelle und Gott
anvertraue. Sie verlieren dadurch ihre Gewalt über mich.
So verstehe ich auch das Wort «erlöse» – als Bitte, unsere
Selbstbezogenheit zu lösen, dieses «incurvatus in se», von
dem Luther spricht.
«Erlöse uns von dem Bösen» – was bedeutet dies für Sie?

Von: Elisabeth Raiser