Autor: Elisabeth Raiser

1. Januar

Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?  Psalm 42,3

«Der du allein der Ewge heisst und Anfang, Ziel und Mitte weisst im Fluge unsrer Zeiten: bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten.» Jochen Klepper schrieb diesen Vers 1938, und er steht im Losungsbüchlein unter der Losung und dem Lehrtext. Seine Bitte und seine Hoffnung sprach er zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland aus; sie waren dringend und wurden immer dringender in den darauffolgenden Kriegsjahren. Klepper hat den Krieg nicht überlebt; er nahm sich zusammen mit seiner jüdischen Frau das Leben, die er anders vor dem Abtransport in eines der Vernichtungslager nicht schützen konnte. Ein zutiefst tragisches Schicksal eines Menschen, für den das «sicher Schreiten» der Gang in den selbstgewählten Tod war.

Das vergangene Jahr hat uns mit Krieg und Zerstörung in der Ukraine, mit der Inflation und den plötzlich so hohen Energiepreisen viele Sorgen bereitet. Der Psalm 42 ist ein in grosser Not geschriebener Hilferuf an Gott – und zugleich ein Trostpsalm: «Was betrübst du dich, meine Seele und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.» Daran lasst uns festhalten in diesem neuen Jahr!

Von Elisabeth Raiser

24. Oktober

Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. 1. Johannes 1,9

Mir fällt zu diesem Satz alsbald die Geschichte vom verlorenen Sohn ein. Die Freude über seine Umkehr ist bei dem Vater so gross, dass er ihn ohne Vorleistung und Busse in die Arme schliesst. Ein Herzenstrost für uns alle ist der Schluss des Gleichnisses mit der Aufforderung an den älteren Bruder, doch fröhlich zu sein, denn «dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden». Wir sind selig, wenn wir wiedergefunden werden, auch wenn wir Unrecht getan haben. Ich glaube, die Einsicht in dieses Unrecht ist die Folge des Gefundenwerdens und nicht die Bedingung dafür.
Jesus erzählt zuvor zwei weitere Gleichnisse: das vom verlorenen Schaf und das von der verlorenen Münze. Weder das Schaf noch die Münze tun Busse, bevor sie gefunden werden – sie sind einfach fort und werden gesucht und gefunden. Und dann ist die Freude gross!
Es sind Gleichnisse für die Liebe Gottes, die bedingungslos ist und die uns gerade darum zurückholt aus unseren Irrwegen. Ich glaube fest daran, dass Gott uns Verlorene sucht. Wir sind doch ein wenig wie Kinder, die sich verstecken und gefunden werden wollen. Kennt ihr den Jubel, wenn das geschieht?

Gott, ich bin dankbar, wenn du mich (wieder) findest!

Von Elisabeth Raiser

23. Oktober

Wer aber sich vertieft in das vollkommene Gesetz der Freiheit und dabei beharrt und ist nicht ein vergess- licher Hörer, sondern ein Täter, der wird selig sein in seinem Tun. Jakobus 1,25

Jakobus gibt uns in diesem Abschnitt reichlich Gelegenheit, über das Zusammenspiel von aufmerksamem Hören von Gottes Wort und der daraus folgenden Handlung nachzudenken. Es begegnet uns wohl allen immer wieder, dass wir von einer guten Idee oder einer weisen Einsicht hören, ohne dass für uns daraus eine Tat, eine gute und sinnvolle Handlung folgt. Der Grund dafür ist nicht der mangelnde gute Wille, sondern die Schwierigkeit, aus einer Erkenntnis die richtige Tat zu folgern. Entweder es fehlt uns an Fantasie, oder wir scheitern an unserem Zweifel, ob wir das, was wir uns vorgenommen haben, auch durchführen können.

In einem früheren Vers aus demselben Kapitel heisst es:
«… nehmt an das Wort Gottes mit Sanftmut, das in euch gepflanzt ist und Kraft hat, eure Seelen selig zu machen.» Ich glaube, hier liegt das Geheimnis: Wenn wir Bibelworte lesen und hören, so haben sie oft eine Kraft, die uns von selbst nicht zuwächst. Sie können uns auch in der tiefsten Verzweiflung trösten, uns Mut machen, uns dankbar werden lassen – und daraus kann eine Handlung entstehen, die aus dem Herzen kommt – wie von einer inneren geheimnisvollen Führung geleitet. Es ist die Kraft der göttlichen Poesie.

Von Elisabeth Raiser

24. August

Ich wandle in weitem Raum; denn ich suche deine Befehle.              Psalm 119,45

«Ich wandle in weitem Raum; denn ich suche deine Befehle» – anstelle von «Ich wandle fröhlich, denn ich suche deine Befehle»: Beide Formulierungen stammen aus der Lutherbibel; die zweite von 1985, die erste von 2017. Sie suggerieren unterschiedliche Vorstellungen. Fröhlich wandern ist nur einfach schön. In weitem Raum aber kann ich ausschreiten und kann und muss auch etwas wagen. Gefahren können mir begegnen; um ihnen zu begegnen, brauche ich die Stütze von guten, von Gottes Weisungen.

Und nach denen macht sich der Beter, die Beterin auf die Suche. Fast alle 176 Verse dieses längsten Psalms sind eine solche Suche, unterbrochen durch immer wiederkehrende Liebeserklärungen an diese Weisungen, die ein Schutz vor Gefahren, Verfolgung und Bedrängnis und eine Hilfe zum erfüllten Leben sind.

Ganz zum Schluss, im allerletzten Vers, kehrt sich die Sicht um und endet in der eigentlichen Bitte: «Ich irre umher wie ein verlorenes Schaf. Suche mich, die ich zu dir gehöre! Ja, deine Gebote vergesse ich nicht.» Dies scheint mir der Kern dieses langen Gebets: Wir wollen uns finden lassen von Gott. Wie beim Versteckspiel! Wenn wir dazu nicht bereit sind, kommt es nur auf unsere eigene kleine Kraft an, und die versagt so oft in den schwierigen Zeiten unseres Lebens. Wenn wir uns aber von Gott finden lassen, sind wir gerettet und können im weiten Raum getrost ausschreiten.

Von Elisabeth Raiser

23. August

Wo der Geist des Herrn ist, da ist  Freiheit. 2. Korinther 3,17

Ohne lang nachzudenken, habe ich mich für diesen Satz des Paulus für die kurze Boldernmeditation entschieden; es ist der Lehrtext zu der schönen heutigen Losung: «Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.» (2. Mose 20,2) Er ist unser Trauspruch und hat meinen Mann und mich unser langes gemeinsames Leben hindurch begleitet. Dass Gott der Geist ist, macht es mir möglich, ihn anzurufen und ihn sozusagen in mich hereinzulassen. Der Glaube wurde und wird dadurch immer wieder zu einer inneren Beziehung; Gottes Geist ist eine ständige Kraftquelle, die Mut macht und die Freiheit, die er verheisst, immer wieder neu erkennen und leben lässt. Eine Schutzmauer gegen die Angst und ein Zuspruch im Sinn von: Erkenne deine Freiheit und nutze sie!

Der Textzusammenhang in 2. Korinther 3 ist allerdings problematisch: Paulus setzt sich hier vom Buchstaben der «steinernen Tafeln», also des Gesetzes, und von der «verhüllten Herrlichkeit» des ersten Bundes ab. «Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.» (2. Korinther 3,6b). Das glaube ich nicht – ich halte mich lieber an seine Aussage im Römerbrief (11,18): «Rühmst du dich aber (dem Sinn nach: der Freiheit von Israel), so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel dich trägt.» Ein grosser Dank an diese Wurzel!

Von Elisabeth Raiser

24. Juni

Die Menge fragte Johannes: Was sollen wir tun? Er antwortete aber und sprach zu ihnen: Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat;  und wer Speise hat, tue ebenso.             Lukas 3,10–11

Heute ist Johannistag, und wir denken mit Bewunderung an ihn, den selbstlosen, hellsichtigen Vorläufer Jesu. Seine Antwort auf die Frage der Menge «Was  sollen wir tun?»  ist knapp und eindeutig: «Es kommt aufs Teilen an.» Wir können und sollten uns ehrlich zugeben: Wir brauchen in Wirklichkeit den Überfluss der Güter nicht, sondern wir können teilen, und wenn wir es tun, schadet es uns nicht, sondern bereichert uns. «Was mehr wird, wenn wir teilen» ist ein Buchtitel; lasst uns das auf die eigene Fahne schreiben!

Vor kurzem hörte ich im Radio einen Bericht über die Obdachlosenarbeit in Düsseldorf. Obdachlose sind ja oft   in einer Falle: Sie finden keine Arbeit, weil sie keinen Wohnsitz haben, und sie finden keine Wohnung, weil sie keine Arbeit haben. Es ist ein Teufelskreis! So gibt es in einigen Städten bereits das wohl aus den USA stammende Prinzip des Housing First, das heisst, obdachlosen Menschen wird zunächst in einem von der jeweiligen Organisation angemieteten Wohnblock eine Wohnung kostenlos zur Verfügung gestellt, von wo aus sie sich mit Adresse um eine Arbeit bemühen können. Wenn das geklappt hat, suchen sie sich eine eigene neue Wohnung. Grossartig! Johannes wäre einverstanden!

Von Elisasbeth Raiser

23. Juni

Ruft laut, rühmt und sprecht: HERR, hilf deinem Volk!                                        Jeremia 31,7

Ich schreibe diesen Text am 25. Februar dieses Jahres und bin ganz unter dem Schock des Überfalls Russlands auf die Ukraine. Es gibt Krieg in Europa nach einer langen Friedenszeit von 75 Jahren. «HERR, hilf deinem Volk» – das ist ein Gebet, das wir alle wohl in Gedanken an die Ukraine und ihre Menschen laut oder leise beten. An diesem 25. Februar lautet die Losung: «Der Herr schafft Recht seinem Volk und wird seinen Knechten gnädig sein.» Das ist wie ein zweiter Satz nach dem Hilferuf, und diese Hoffnung liegt nicht nur den Gebeten und Bitten der Ukrainer zugrunde, sondern auch den russischen Friedensdemonstranten in den Strassen von Moskau, von Sankt Petersburg, in so vielen Städten Russlands. Für ihren grossen Mut werden sie geschlagen und verhaftet. «Lass Recht aufblühen, wo Unrecht umgeht. Mach die Gefangenen von der Willkür frei!» Wenn uns die eigenen Worte fehlen, helfen diese Zitate. Ich schreibe sie hier auf, wohl wissend, dass vielleicht und hoffentlich am 23. Juni der Friede und die Freiheit in der Ukraine wieder hergestellt und das ukrainische Volk nicht einfach dem Machtwillen Putins unterworfen ist.

Im 31. Kapitel spricht Gott durch seinen Propheten und verheisst seinem Volk die Rückkehr aus der Gefangenschaft und Unterdrückung. Es sind grosse, tröstliche Worte für das Volk Israel.

Aber sie gelten, denke ich, auch für andere Völker! Amen!

Von Elisabeth Raiser

24. April

Freut euch, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind.
Lukas 10,20

Vor einer Woche haben wir Ostern, das Fest der Auferstehung, gefeiert. Heute ist nun der traditionelle Taufsonntag mit dem schönen Namen Quasimodogeniti (Wie die neugeborenen Kindlein). Die Taufe ist ein Versprechen: Die Kinder werden von Anfang an in ihrem irdischen Leben unter dem Segen Gottes leben, sie bekommen einen Namen, mit dem sie zu IHM gehören, das ist die hoffnungsvolle Zusage. Und dazu sind alle Namen im Himmel geschrieben, keiner ist verloren, und gerade in den schwierigsten Zeiten ist Gott nahe.
Die schöne Geschichte von den Spuren im Sand illustriert das aufs Beste, und so erzähle ich sie – verkürzt – noch einmal nach: «Mir träumte, ich ging mit Gott am Strand entlang und die Bilder meines Lebens waren im Himmel zu sehen. Und bei jedem Bild sah ich zwei Spuren im Sand: meine eigene und die meines Herrn. Als ich nach dem letzten Bild zurücksah, sah ich gerade in den schwierigsten Zeiten meines Lebens nur eine Spur: Oh, deshalb war es so schwer: Du gingst nicht mit mir!
Gott antwortete: Liebes Kind, dort, wo du nur eine Spur siehst, dort habe ich dich getragen! » (Margrit Fishback Powers)

Unsere im Himmel geschriebenen Namen drücken das Gleiche aus, damit wir nicht verzweifeln und nicht verloren gehen. Das ist wahrlich Grund zu Freude.
Von Elisabeth Raiser

23. April

Wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.
Johannes 4,14

Die ganze Geschichte von der Samaritanerin am Brunnen in Johannes 4 ist eine der tröstlichsten und schönsten, auch dramatischsten unter all den Erzählungen von Begegnungen Jesu mit seinen Mitmenschen. Jesus hat ein langes Gespräch mit der Frau geführt – über den Durst, das Stillen des Durstes mit klarem Wasser aus dem Brunnen; das lebendige Wasser, das zu einer Quelle zum ewigen Leben wird. Aber auch über ihre fünf  Männer hat er mit ihr gesprochen. Nun rennt sie aufgeregt in ihre Stadt Sychar und ruft ihre Leute zusammen. «Kommt, seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, ob er nicht der Christus sei!»
Grosse Hoffnung entsteht bei den Menschen. Die Samaritaner haben keine Gemein- schaft mit den Juden, aber sie eilen hinaus, bitten Jesus, noch zwei Tage bei ihnen zu bleiben, und viele von ihnen glauben von da an an ihn, den Christus. Es ist eine sehr menschliche Offenbarungsgeschichte, in der Jesus die Grenze seiner Volkszugehörigkeit überschreitet und seine Botschaft und Gnade ausweitet auf alle Menschen: Alle können vom Wasser zum ewigen Leben trinken. Das lebensbringende Wasser ist ein wunderbares Bild für den Glauben. Und so sagen die Samaritaner schliesslich voller Dankbarkeit von Jesus: «Dieser ist wahrlich der Welt Heiland.»
Von Elisabeth Raiser