Ich wandle in weitem Raum; denn ich suche deine Befehle.              Psalm 119,45

«Ich wandle in weitem Raum; denn ich suche deine Befehle» – anstelle von «Ich wandle fröhlich, denn ich suche deine Befehle»: Beide Formulierungen stammen aus der Lutherbibel; die zweite von 1985, die erste von 2017. Sie suggerieren unterschiedliche Vorstellungen. Fröhlich wandern ist nur einfach schön. In weitem Raum aber kann ich ausschreiten und kann und muss auch etwas wagen. Gefahren können mir begegnen; um ihnen zu begegnen, brauche ich die Stütze von guten, von Gottes Weisungen.

Und nach denen macht sich der Beter, die Beterin auf die Suche. Fast alle 176 Verse dieses längsten Psalms sind eine solche Suche, unterbrochen durch immer wiederkehrende Liebeserklärungen an diese Weisungen, die ein Schutz vor Gefahren, Verfolgung und Bedrängnis und eine Hilfe zum erfüllten Leben sind.

Ganz zum Schluss, im allerletzten Vers, kehrt sich die Sicht um und endet in der eigentlichen Bitte: «Ich irre umher wie ein verlorenes Schaf. Suche mich, die ich zu dir gehöre! Ja, deine Gebote vergesse ich nicht.» Dies scheint mir der Kern dieses langen Gebets: Wir wollen uns finden lassen von Gott. Wie beim Versteckspiel! Wenn wir dazu nicht bereit sind, kommt es nur auf unsere eigene kleine Kraft an, und die versagt so oft in den schwierigen Zeiten unseres Lebens. Wenn wir uns aber von Gott finden lassen, sind wir gerettet und können im weiten Raum getrost ausschreiten.

Von Elisabeth Raiser