Autor: Matthias Hui

6. August

Gott, wenn ich mich zu Bette lege, so denke ich an
dich, wenn ich wach liege, sinne ich über dich nach.

Psalm 63,7

Wenn Krieg ist in Kharkiv, in Khan Younis, und die Menschen
trotz drohenden Bomben Schlaf suchen, wenn die Feinde
einem «nach dem Leben trachten», wie es in den nächsten
Versen des Psalms heisst, kann in der Verzweiflung und in
tiefer Nacht vielleicht nur noch Gott einen tröstend an der
Hand halten oder schützend unter die Flügel nehmen. Auch
diese Bilder des helfenden Gottes finden sich im Psalm.
Auch wenn kein Krieg ist, verfolgen mich spätabends im
Bett manchmal schwere Gedanken, treibt mich etwas um,
das mich noch nicht loslassen und einschlafen lässt. Denn:
Sich dem Schlaf, der Nacht, den Träumen, der Regeneration
zu ergeben, bedingt, sich fallenlassen zu können. Ob wir
wirklich aufgefangen werden, ob wir tatsächlich wieder aufstehen
können, wissen wir nie mit Sicherheit. Ein bekanntes
Schlaflied drückt es so aus: «Guten Abend, gut’ Nacht, mit
Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlüpf unter die Deck.
Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.»
Schlafen hat – nicht nur im Krieg, dann ist der Zusammenhang
aber brutal klar – immer mit dem Kreis von Leben und
Sterben zu tun. Deshalb gefällt mir, auch in diesem Lied, die
Wendung so sehr, wenn wir wünschen oder beobachten,
dass ein Mensch, ein Kind «selig» schläft. In diesem Sinn:
Eine behütete nächste Nacht!

Von: Matthias Hui

5. August

Als Jesus vorüberging, sah er Levi, den Sohn
des Alphäus, am Zoll sitzen und sprach zu ihm: Folge
mir nach! Und er stand auf und folgte ihm nach.

Markus 2,14

Wenn sich Christ:innen – also wir – untereinander in Bubbles
gemütlich einrichten, wenn sich in einem Bibel- oder
Gesprächskreis alle bestens verstehen, weil sie sowieso ähnliche
Lebenshintergründe haben, und wenn im Kirchgemeindehaus
alles schön ist und gepflegt und sauber, kann das
vielleicht im Moment guttun. Aber es könnte auch sein, dass
etwas nicht stimmt. Beziehungsweise es stimmt halt nicht
unbedingt mit der Art von Gemeinschaft überein, die Jesus
sucht. Er durchkreuzt das Ziel von Leben in der homogenen
Wohlfühlbubble. Er nimmt die Outlaws, die Menschen
ausserhalb der Norm, mit auf den Weg.
Die steuereintreibenden Zöllner gehörten damals dazu, die
«Sünder:innen» generell. Mit ihnen setzt er sich an einen
Tisch. Mit ihnen schafft er Gemeinschaft.
Der Theaterregisseur Milo Rau – er hat auf den ausbeuterischen
Tomatenplantagen Süditaliens den Jesusfilm «Das
neue Evangelium» gedreht – schreibt in «Die Rückeroberung
der Zukunft»: «Man versucht an sich selbst zu heilen,
was nur draussen in der Welt zu heilen wäre, wenn überhaupt.
» Es gibt keine Reinheit im Dreck unserer Existenz.
Sich im Chaos dieser Welt gemütliche Oasen zu schaffen –
ohne diese Levis – ist ein eher Hoffnungs-loses Unterfangen.

Von: Matthias Hui

6. Juni

So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir.
Jesaja 43,5

Gesprächsrunden im Kreis von Freund:innen kippen in
letzter Zeit manchmal in ein Aneinanderreihen schlimmer
politischer und ökologischer Entwicklungen auf unserem
Planeten. Dann wächst das Gefühl von Angst. Angst vor
der Zukunft, auch für unsere Kinder, Angst vor der eigenen
Machtlosigkeit, Angst vor Verzweiflung.
Aber: Wenn wir nicht nur trostlose Fakten aufzählen, sondern
unsere Gefühle dazu teilen, den Schmerz ernst nehmen,
den wir angesichts der gefährdeten Welt, des zerstörten
Lebens empfinden, dann kann etwas in Bewegung geraten.
Wir können uns als ganz kleinen Teil des Ganzen wahrnehmen,
aber nicht mehr isoliert und hilflos: Wir können unsere
Verbundenheit mit allem Lebendigen, unser Eingebettetsein
in Räume und Zeiten und Beziehungen erfahren. So denkt
die Tiefenökologin, Systemforscherin, Umweltaktivistin und
Buddhistin Joanna Macy. Furcht und Ängste werden dann
in etwas Grösserem aufgehoben. Macy nennt es Liebe oder
Dankbarkeit. Sie sieht die Haltung der Dankbarkeit gegenüber
dem Leben mit seinen Herausforderungen und Krisen
als einen zutiefst subversiven Akt. Wenn wir dankbar seien,
liessen wir uns nicht mehr einlullen von den leeren Versprechen
der Konsumgesellschaft, sondern öffneten uns für das,
was wirklich ist, und das, was kommen will.

Von: Matthias Hui

5. Juni

Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen
lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung
vor Gott kundwerden!
Philipper 4,6

In manchen Familien und Beziehungen müssen sich die
Männer nicht sorgen. Die Zutaten für das Abendbrot sind
immer schon da. Der nächste Kindergeburtstagstermin ist
notiert, das Geschenk gekauft. Bei den Grosseltern wird
regelmässig nachgefragt, wie es geht. Aber es ist weniger der
liebe Gott, der alles bedenkt und erledigt. Es ist die Partnerin,
die Mutter der Kinder, die Geliebte, die Frau.
Natürlich ist das überzeichnet. Natürlich sind viele Männer
auf dem Weg, sich zu verändern. Aber viele einfach mal ein
bisschen. Man möchte die tollen beruflichen Aussichten, die
bequemen Gewohnheiten in der eigenen Rolle nicht gleich
aufgeben. Auch wenn viele spüren, dass das alles der eigenen
Gesundheit, dem eigenen Glück nicht wirklich guttut. Dass
die Privilegien ja nicht nur Freiheiten bedeuten, sondern
gleichzeitig ein Gefangensein in engen Mustern. Dass nicht
nur die Sorge um andere zu kurz kommt, sondern auch die
Sorge um sich selbst.
Deshalb sollten (wir) Männer nicht darum beten, dass uns
andere Personen oder der liebe Gott Sorgearbeit abnehmen.
Sondern danken dafür, dass wir uns nicht sorgen müssen,
wir könnten auf dem Weg in neue Beziehungen und
Geschlechterrollen ins Bodenlose abstürzen.

Von: Matthias Hui

6. April

Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Kolosser 3,16

Spannend, dass «wohnen» in der Bibel öfter mal vorkommt. Wie wollen wir wohnen? Das ist nicht nur für mein eigenes Wohlbefinden, sondern für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, ja – angesichts des Verbrauchs von Ressourcen wie Boden oder Energie zum Heizen, Kühlen, Kochen – für das Überleben unseres Planeten entscheidend.
Aber nicht im Zusammenhang mit einem gemütlichen Küchentisch oder dem Bedarf an Sanitäranlagen ist hier vom Wohnen die Rede. Der Kolosserbrief plädiert dafür, dass das Wort Christi in unseren Wohnungen reichlich Platz haben soll. Als Reformierter stelle ich mir beim «Wort Christi» immer auch eine Bibel vor. Aber das Wort Christi ist nichts für die Wohnwand. Es soll Platz finden am Tisch. So, wie in der jüdischen Pessachtradition ein Stuhl frei bleibt für den Propheten Elia, der kommen könnte, um die Ankunft des Messias anzukündigen. Das Wort Christi wohnt mit, wenn wir in der Gemeinschaft voneinander lernen, wenn das Leben gefeiert und wenn gesungen wird. Und es hat einen Ort, wenn alle ein sicheres Dach über dem Kopf haben, und wenn Wohnen sich nicht darin erschöpft, den Schlüssel drehen zu können, um die Welt draussen zu halten.

Von: Matthias Hui

5. April

Ich will gedenken an meinen Bund, den ich mit dir geschlossen habe zur Zeit deiner Jugend, und will mit dir einen ewigen Bund aufrichten. Hesekiel 16,60

«Der Bund». Er liegt jeden Tag auf dem Frühstückstisch unserer Wohngemeinschaft. Eine traditionsreiche Schweizer Tageszeitung, die sich auf die Gründung des Bundesstaates bezieht und in der Bundeshauptstadt erscheint. Bei «Bund» denke ich zuerst an den föderalistischen Zusammenschluss, in dem wir leben, und nicht an den Bund, den Gott nach der Bibel mit den Menschen geschlossen hat. Hat der Zeitungstitel nichts mit der göttlichen Zusage zu tun? Immerhin steht in der Präambel der schweizerischen Bundesverfassung «Im Namen Gottes des Allmächtigen», und das deutsche Grundgesetz spricht am Anfang von der «Verantwortung vor Gott und den Menschen». Das mag in einer säkularen Gesellschaft überlebt sein. Aber in der schweizerischen Präambel steht eben auch, dass «die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen», und im deutschen Grundgesetz ist das Recht auf Widerstand festgeschrieben für den Fall, dass Demokratie, Sozialstaat und Rechtsstaat zerstört werden könnten. Das Versprechen auf ein gutes, gerechtes Leben für alle ist da. Die Verfassung erinnert uns daran. Und die Bibel ermutigt uns, auch in dürftigen Zeiten, in denen Mächtige Leben vernichten, den Glauben daran und die Arbeit dafür nicht aufzugeben.

Von: Matthias Hui

5. Februar

Wir glauben doch, dass wir durch die Gnade des
Herrn Jesus gerettet werden.
Apostelgeschichte 15,11

Wir. Welches Wir ist gemeint? In der Apostelgeschichte geht es um die Frage, ob es eine exklusive Gruppe ist, die «gerettet» wird, die Beschnittenen mit Anschluss an das jüdische Volk. Oder gilt die frohe Botschaft der Liebe und der Befreiung, ausgehend vom Gott der Juden, allen Menschen, die sie nötig haben? Gott «hat zwischen uns und ihnen keinen Unterschied gemacht», er gewinnt «aus allen Völkern ein Volk». Diesen Glauben verkündigen die Apostel. Ihr Wir ist inklusiv. Es ist ein neues Wir.
Vom «neuen Wir» spricht heutzutage die Eidgenössische Migrationskommission. In einer von Migration geprägten Gesellschaft könne es keine exklusive Leitkultur geben, der sich alle unterzuordnen hätten. Die Schweiz oder auch Deutschland seien Migrationsgesellschaften, Migration sei Normalität, ihre Vielfalt alltägliche Realität. Das erfordere ein vielstimmiges Wir-Gefühl, das möglichst vielen Menschen Anerkennung und Zugehörigkeit ermögliche.
Schon in der Apostelgeschichte ging der Streit über die Frage, ob es eine einheitliche Leitkultur für alle brauche. Die Apostel lehnten das ab – unter Berufung auf Moses und die Propheten. Deshalb: Wer heute die «christliche Leitkultur» oder die «jüdisch-christliche Leitkultur» gegen die anderen durchsetzen möchte, muss eines wissen: Diese Leitkultur ist gegen Leitkulturen. Sie schafft ein neues Wir.

Von: Matthias Hui

6. Dezember

Die Tage deiner Trauer werden ein Ende haben. Jesaja 60,20

Ein lieber Mensch stirbt. Manchmal macht alles keinen Sinn mehr. Manchmal ist lange kein Trost spürbar. Und doch ist die Verheissung einfach da: «Die Tage deiner Trauer werden ein Ende haben.» Jetzt ist Finsternis, Gewalt, Verheerung, Zusammenbruch, wie es bei Jesaja heisst. Aber Gott wird unser Licht sein, es wird Gerechtigkeit einkehren für alle. Aber wann denn, wann? Bei Jesaja sagt Gott: Es wird «überraschend» kommen, «zu seiner Zeit».
Vor einem halben Jahr ist in Costa Rica der Ökonom und Befreiungstheologe Franz Josef Hinkelammert gestorben. Nicht überraschend, im Alter von 92 Jahren. Die Zurückgebliebenen tröstet ein reiches Leben und Werk.
Hinkelammert hat sich immer wieder mit Jesajas Utopien beschäftigt. Und mit jenen, die sagen, das seien Illusionen, der Mensch sei schlecht und zum Konkurrenzkampf verdammt. Franz Josef Hinkelammert entgegnete den Antiutopisten, die er von der Sowjetunion bis Chile erlebte und erforschte: «Wer nicht den Himmel auf Erden schaffen will, der schafft die Hölle auf Erden.» Was er als wahren Humanismus sah: das, was nicht ist, zu denken. Versuchen, auf dem Weg, der eigentlich unmöglich ist, konkret zu gehen. An einer Gesellschaft, in der alle, die Natur eingeschlossen, Platz haben, zu bauen. Dann haben die Tage, an denen nichts ist als Trauer über die Ausweglosigkeit des Lebens, ein Ende.

von: Matthias Hui

5. Dezember

Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Kindschaft empfingen. Galater 4,4–5

Haben Sie schon ein paar Geschichten parat, um sie an Weihnachten zu erzählen? Wenn nicht, bleiben noch drei Wochen, vielleicht um Kinderbücher aufzustöbern – im eigenen Fundus, in einer Bibliothek oder Buchhandlung –, an denen sich bestimmt nicht nur Kleine erfreuen würden. Es gibt so viele farbige, fantasievolle Weihnachtsgeschichten. Die einen spielen im verschneiten Småland, die anderen im Bethlehem von heute. Mal übernimmt ein heiliger Strohsack die Hauptrolle, mal sind es ein paar kleine Sternsucherinnen, ein andermal ein Fuchs und seine Freunde.
Oder lesen Sie an Heiligabend aus der Bibel vor? Dann aber wohl kaum aus dem Galaterbrief. Paulus fasst hier die Weihnachtsgeschichte verdichtet in einen einzigen Satz. Wenn wir das so bringen, gibt es unter dem Christbaum lange Gesichter. Wie geben wir das weiter, unseren Kindern, unseren Freund:innen? Auf welche Weise können wir von der Zeit erzählen, die erfüllt ist? In welche Geschichte könnte die «Frau» eingebettet sein, wenn sie nicht «Jungfrau» ist? Wie vermitteln wir, dass Jesus selbstverständlich jüdisch war? Und mit was für Erzählungen und Illustrationen werden die Liebe und die Sorge, die Freiheit und die Hoffnung auf Zukunft, die im Bild der «Kindschaft» liegen, konkret?

von: Matthias Hui

6. Oktober

Gehorcht meiner Stimme, so will ich euer Gott sein,
und ihr sollt mein Volk sein.
Jeremia 7,23

Gehorsam passt nicht in den Wortschatz und Tugendkatalog,
den wir zur Bewältigung unserer krisendurchtränkten
Gegenwart brauchen. Wollen wir Kinder, die ihren Eltern
(welche mitgeholfen haben, die Welt an den Abgrund zu
steuern) gehorsam sind? Übrigens stelle ich mir manchmal
auch die umgekehrte Frage: Wollen wir wirklich Eltern sein,
die ihren Kindern kaum widersprechen und ihnen vorauseilend
Stein um Stein aus dem Weg räumen?
Im Grossen stehen uns die schrecklichen Konsequenzen
eines blinden, ausweglosen Gehorsams vor Augen –
längst nicht nur mit Blick auf mordende, vergewaltigende
und selber
tragisch ihr Leben opfernde russische Soldaten.
«Jeden Tag», sagt Dorothee Sölle über Jesus, «habe ich
Angst, dass er umsonst gestorben ist, weil er in unseren
Kirchen
verscharrt ist, weil wir seine Revolution verraten
haben in Gehorsam und Angst vor den Behörden.»
Gottes Stimme zu gehorchen, verstehe ich nicht als eine
der Formen von Gehorsam gegenüber Autoritäten. Sondern
als das pure Gegenteil. Als Ermutigung zum Ungehorsam,
wenn Friede, Gerechtigkeit und die Schöpfung bedroht sind.
Als Bekräftigung des Regenbogen-Bündnisses für das Leben,
wenn die Würde von Menschen, von Kindern und Eltern,
von Tieren und aller Kreatur auf dem Spiel steht.

Von: Matthias Hui