Autor: Matthias Hui

6. Oktober

Gehorcht meiner Stimme, so will ich euer Gott sein,
und ihr sollt mein Volk sein.
Jeremia 7,23

Gehorsam passt nicht in den Wortschatz und Tugendkatalog,
den wir zur Bewältigung unserer krisendurchtränkten
Gegenwart brauchen. Wollen wir Kinder, die ihren Eltern
(welche mitgeholfen haben, die Welt an den Abgrund zu
steuern) gehorsam sind? Übrigens stelle ich mir manchmal
auch die umgekehrte Frage: Wollen wir wirklich Eltern sein,
die ihren Kindern kaum widersprechen und ihnen vorauseilend
Stein um Stein aus dem Weg räumen?
Im Grossen stehen uns die schrecklichen Konsequenzen
eines blinden, ausweglosen Gehorsams vor Augen –
längst nicht nur mit Blick auf mordende, vergewaltigende
und selber
tragisch ihr Leben opfernde russische Soldaten.
«Jeden Tag», sagt Dorothee Sölle über Jesus, «habe ich
Angst, dass er umsonst gestorben ist, weil er in unseren
Kirchen
verscharrt ist, weil wir seine Revolution verraten
haben in Gehorsam und Angst vor den Behörden.»
Gottes Stimme zu gehorchen, verstehe ich nicht als eine
der Formen von Gehorsam gegenüber Autoritäten. Sondern
als das pure Gegenteil. Als Ermutigung zum Ungehorsam,
wenn Friede, Gerechtigkeit und die Schöpfung bedroht sind.
Als Bekräftigung des Regenbogen-Bündnisses für das Leben,
wenn die Würde von Menschen, von Kindern und Eltern,
von Tieren und aller Kreatur auf dem Spiel steht.

Von: Matthias Hui

5. Oktober

Alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten,
die durch Jesus geschahen.
Lukas 13,17

Einen Satz lang ist im Lukasevangelium alles in Butter.
Schlichtweg alles Volk freute sich angeblich über alles
Grossartige, was Jesus tat. Wir brauchen sie, diese Momente
der gemeinsamen Identifikation mit dem Guten, diese Stunden
der kollektiven Freude. Mein Schwiegervater erzählte
vom Tag, als der Krieg zu Ende war und Menschen in der
Altstadt zusammen tanzten; eine Kellnerin riss ihn, den Jüngling,
einfach mit. Oder: Mich beeindruckte die solidarische
Verbundenheit, die ausgelassene Freude, die mir dieses Jahr
am feministischen Streik von Zehntausenden schönen, entschiedenen
Menschen entgegenkam.
Aber die Beschreibung solcher Eintracht vermag Lukas im
Bibeltext nur diesen Satz lang durchzuhalten. Sie ist Wunschvorstellung,
Utopie, flüchtige Erfahrung, vielleicht nur rasch
zusammengekleisterte Gemeinsamkeit. Im Satz davor ist
von «allen Gegnern» von Jesus die Rede, die nicht tolerieren
wollten, dass er am Sabbat Menschen aufrichtete. Und
am Ende des Kapitels ist von Jerusalem als Ort des Leidens
die Rede. Bald wird sich dieses «alles Volk» resigniert, duckmäuserisch
und kleingläubig verzogen haben.
Dazwischen steht immerhin der Satz, der das Reich Gottes
mit einem kleinen Senfkorn vergleicht – aber halt nicht mit
einem grossen, revolutionären Volksfest.

Von: Matthias Hui

6. August

Voll Mitleid und Erbarmen ist der Herr. Jakobus 5,11

Gott hat viele Namen. Ganz bestimmt zählt «Buchhalterin»
nicht dazu. Gott berechnet nicht, wer wie viel Mitleid zugute
hat. Er zieht nicht Bilanz, wem wie viel Erbarmen zusteht.
Vor Gott sind wir alle gleich. Für alle ist genug da. Aber wir
führen uns dennoch oft als Buchhalter auf. Wir lassen den
einen mehr Mitgefühl zukommen als anderen – weil sie uns
sympathischer sind, vertrauter. Oder weil wir in Rechnung
stellen, dass sie uns schon mal geholfen haben oder wir noch
auf sie angewiesen sein könnten. Die Journalistin Christine
Wiedemann spricht von der «Ökonomie der Empathie». Es
gebe Richtungen, in die Empathie frei fliessen könne, und
andere, wo der Fluss blockiert sei.
Christine Wiedemann will, dass das, was gesellschaftliche
Gruppen in der Geschichte erlitten haben oder in der Gegenwart
erleiden, nicht in Konkurrenz zueinander gestellt wird.
Opferzahlen gehören nicht auf Waagschalen. Zum Beispiel
die Shoah, die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen
und Juden, und die Nakba, die Vertreibung der Palästinenserinnen
und Palästinenser aus ihrem Land. Gott ist voll
Mitleid und Erbarmen: Er will, was Christine Wiedemann
so beschreibt: «eine Welt, in der es keine Hierarchie von
Leiderfahrungen
mehr gibt und keinen Schmerz, der nicht
zählt».

Von: Matthias Hui

5. August

HERR, höre meine Worte, merke auf mein Seufzen!
Vernimm mein Schreien; denn ich will zu dir beten.

Psalm 5,2.3

Wie oft beten Sie? Das schweizerische Bundesamt für Statistik
wollte es vor einiger Zeit ganz genau wissen. 44,8 Prozent
gaben an, dass sie in den letzten zwölf Monaten nicht
gebetet haben. Fast gleich viele Befragte, nämlich 43,4 Prozent,
gaben an, dass sie mindestens einmal im Monat beten,
24,1 Prozent davon täglich. Was bedeutet Ihnen das Gebet?
Wird Ihr Seufzen vernehmbar oder gar Ihr Schreien? Kann
vielleicht zumindest Gott es hören?
Vor zwanzig Jahren ist Dorothee Sölle gestorben. Sie fehlt.
Denn es gibt nicht viele Menschen wie sie, die uns weiterhin
zum Beten ermutigen. Die uns die Schönheit und
die Menschlichkeit, das Dialogische und das Politische des
Betens zeigen. Dorothee Sölle sagte: «Beten bedeutet, nicht
zu verzweifeln. Beten ist Widerspruch gegen den Tod. Es
bedeutet, Wünsche zu haben für uns und unsere Kinder.»
Für die Statistik wäre Dorothee Sölle ein klarer Fall gewesen:
Täglich (…) gott um die gabe der tränen bitten
täglich salz und scham
täglich frei werden
täglich gott
Dorthin möchte ich gerne. Und Sie?

Von: Matthias Hui

6. Juni

Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf
dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und
brachte sie zu dem Menschen. Und der Mensch gab
einem jeden seinen Namen.
1. Mose 2,19.20


Geht es in diesen Sätzen am Anfang der Bibel um den Menschen
und wie ihm die Tiere zugeordnet sind? Oder lesen wir
aus der Bibel auch etwas über Tiere heraus, über ihre Würde,
ihr Leiden, ihr Recht? Bezieht sich Biblisches, wie Gerechtigkeit
und Nächstenliebe, auch auf Tiere?
Wenn der Mensch jedem Tier seinen Namen zuordnet,
um Antilopen, Mücken und Legehühner zu kategorisieren,
zu sezieren und Kosten und Nutzen festzulegen, hat das mit
einem fehlgedeuteten «untertan machen» zu tun.
Wenn der Mensch seinem Büsi und seinem Labrador einen
Namen gibt und diese Individuen nie auf den Fleischmarkt
werfen würde, aber fröhlich Stücke anonymer Schweine grilliert
und in der Bratwurst kein Kalb mit Namen mehr sieht,
ist er auf halbem Weg stecken geblieben.
Wenn der Mensch die Tiere auf dem Felde und die Vögel
unter dem Himmel bestaunt und ihnen einen kollektiven
oder individuellen Namen gibt, um jedes einzelne als einzigartiges
Mitgeschöpf wahrzunehmen, dann ist dies der
Anfang von etwas Neuem – von einem neuen Himmel und
einer neuen Erde, wie es am Schluss der Bibel heisst. Dieser
Bibel, die vielleicht wirklich auch ein Buch für Tiere ist.

Von: Matthias Hui

5. Juni

Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus
Jesus, so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in
ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid,
und voller Dankbarkeit.
Kolosser 2,6–7


Kennen Sie Menschen, die Ihnen eine Idee davon geben,
was es bedeuten kann, «verwurzelt und gegründet» in Jesus
Christus zu leben – weit über ein frommes Lippenbekenntnis,
über den abstrakten Begriff «Nachfolge» hinaus?
Kürzlich ist ein Bekannter von mir gestorben. Sein Ethos
fand er in der Bergpredigt. Über seinem Pult hing ein Plädoyer
von Martin Luther King Jr. für Feindesliebe, weil nur diese
Liebe die Welt wirklich transformieren könne. Ueli, so hiess
mein Bekannter, machte ernst mit der aktiven Gewaltfreiheit.
Er verweigerte den Militärdienst. Unzählige Menschen
lernten in Seminaren bei ihm Methoden schöpferischer
Gewaltfreiheit kennen. In Aktionen gegen Waffenschauen,
in der Anti-AKW-Bewegung, in Netzwerken mit Geflüchteten
setzte er manches um. Inspiriert von Mahatma Gandhi
pflegte er einen einfachen Lebensstil und hielt manuelle
Arbeit hoch – so als regelmässiger Bergheuer.
Er hat sehr beharrlich und treu versucht, sein Leben in der
Bergpredigt zu verwurzeln. Der bärtige Friedensarbeiter hat
längst nicht alles geschafft.
Auf jeden Fall: Für Lebensentwürfe und Glaubensspuren
von Menschen wie Ueli bin ich voller Dankbarkeit.

Von: Matthias Hui

6. April

Nach dem Ende der Flut sprach Gott: Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. 1. Mose 8,22

Das war die Verheissung nach der Katastrophe. Vielen Menschen
ist heute ein Lebensgefühl vor der Sintflut viel näher –
in einer Welt, in der das Gleichgewicht von Nahrungsmittelproduktion
und Sattwerden, von milden Sommern und
schneereichen Wintern in unseren Breitengraden völlig
durcheinandergeraten ist. Die Berner Rapperin Alwa Alibi
findet für den Gemütszustand vieler junger Menschen eine
Sprache. «Wir haben echt keine Chance! Diese Ohnmacht.»
Sie singt dagegen an: «Chum mir schlö e Schiibe ii hüt Nacht,
dass me o hie gseht, dass aues i Schärbe liigt.» Sie will eine
Scheibe einschlagen, damit sich auch bei uns niemand mehr
darüber hinwegtäuschen könne, dass alles in Scherben liege.
Mit ihrer Musik will sie ihre Emotionen zurückgewinnen, ihr
Inneres ordnen, wie sie sagt. Sie findet kleine Anknüpfungspunkte
für Hoffnung gegenüber «Diktatoren, Nationalismus
und Wirtschaftsbossen, die die Welt kaputtmachen»:
im Zwischenmenschlichen, in der Liebe, in der viel grösser
werdenden Sensibilität für wild durcheinander wirbelnde
Geschlechterfragen. – Ich frage mich beim Musikhören: Was
macht eigentlich Gottes Regenbogen als Zeichen, dass nie
wieder eine Sintflut kommen soll, mit mir?

Von: Matthias Hui

5. April

Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus:
Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet. 2. Korinther 8,9

«O du armer Tropf!» Arm dran zu sein, setzt unsere
Umgangssprache oft nicht mit materieller Not gleich. Auch
die Bibel lesen wir gerne auf diese Art: Armut – zum Beispiel
die der «geistig Armen» – und Reichtum – etwa das
«Leben in Fülle» – verlagern wir schwupps auf die symbolische
Ebene. Dann scheinen solche Sätze uns auch etwas
anzugehen, wenn wir nicht von sozialer Ungleichheit und
Prekarität betroffen sind oder auf der anderen Seite nicht im
Luxus schwelgen. Paulus spricht aber im Brief an die Korinther
nicht in schöngeistigen Bildern. Er redet konkret von
Besitz und Überfluss, von Mangel und Ausgleich. Jesus sieht
bei Lukas seine Aufgabe darin, den Armen das Evangelium zu
bringen, die Gefangenen zu befreien und die Zerschlagenen
aufzurichten. Und die lateinamerikanische Kirche traf vor
Jahren ihre biblische Option für die Armen.
Bin ich jetzt doch der arme Tropf, weil ich nicht arm bin
und in diesen Texten scheinbar gar nicht vorkomme? Oder
könnte ich das Leben – auch mein Leben – mit den Augen
der alleinerziehenden Mutter mit ganz wenig Geld in meinem
Quartier, der geflüchteten Familie im Nothilfezentrum
im Nachbardorf besser verstehen? Oder gar gemeinsam verändern
– «auf dass wir alle reich würden»?

Von: Matthias Hui

6. Februar

Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann
es ergründen? Ich, der HERR, kann das Herz ergründen
und die Nieren prüfen und gebe einem jeden nach
seinem Tun.
Jeremia 17,9–10

Hand aufs Herz: Vertrauen Sie darauf, dass Sie und Ihre Lieben
immer etwa das bekommen, was Sie brauchen, um gut
zu leben? Trauen Sie Gott zu, dafür zu sorgen? Oder doch
eher Ihrem Bankkonto, Ihren Erbschaften, Ihren Versicherungen,
Ihren beruflichen Erfolgen und ein wenig Vitamin B?
Meint Jeremia mit «Gott gibt einem jeden nach seinem
Tun», wir müssten uns unser Wohlergehen verdienen?
Wenn ich den ganzen Abschnitt lese, ist klar: Holzweg! Jeremia
warnt vor dem Glauben an materielle Absicherung in
Ego-Manier. Bei ihm sagt Gott: «Dein Vermögen, all deine
Schätze gebe ich dem Raub preis.» Gott will nicht unsere
Leistungsfähigkeit und Markttauglichkeit testen. Menschen
auf Herz und Nieren zu prüfen, heisst, ihre seelischen und
ethischen Motive zum Handeln zu kennen, ihr Gewissen und
ihre Gefühle zu ergründen.
Könnte es sein, dass die Herz-und-Nieren-Frage nicht lautet:
Wie habe ich die Sicherheit, dass ich immer bekomme,
was ich brauche? Sondern: Wie werde ich sicher, dass ich
gebe, was andere brauchen? Darüber nachzudenken, kann
ziemlich an die Nieren gehen.

Von: Matthias Hui

5. Februar

Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie
ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und
euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn
nicht viel kostbarer als sie?
Matthäus 6,26

Manchmal macht mich unser Land wütend und traurig. Für
geflüchtete oder für arme Menschen gibt es wenig Solidarität
auf Augenhöhe. Es fehlt an Mechanismen zur gerechten
Verteilung von Lebenschancen, Geld und Zukunftshoffnung.
Es fehlt an Bewusstsein, dass im Leben eben nicht allen die
Voraussetzungen geschenkt sind, säen, ernten und vorsorgen
zu können.
Aber auf gewisse Dinge bin ich stolz: so auf die schweizerische
AHV, die Alters- und Hinterlassenenversicherung. Die
Scheune, in der gesammelt wird, was dann unter allen über
65-Jährigen verteilt werden kann, wird von jenen gefüllt, die
das Glück haben, arbeiten beziehungsweise andere gegen
Geld arbeiten lassen zu können. Die AHV macht ein klein
wenig erfahrbar, was solidarisches Leben meint: Niemand
braucht sich um das eigene Leben und den morgigen Tag
zu sorgen. Alle tragen zur Sorge für das Ganze bei, und zum
Ganzen zählen auch die Vögel am Himmel und die Lilien
auf dem Feld. In der frommen Sprache von Matthäus heisst
der Versuch kollektiver Fürsorge: trachten nach dem Reich
Gottes.

Von: Matthias Hui