Autor: Matthias Hui

5. Juni

Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus
Jesus, so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in
ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid,
und voller Dankbarkeit.
Kolosser 2,6–7


Kennen Sie Menschen, die Ihnen eine Idee davon geben,
was es bedeuten kann, «verwurzelt und gegründet» in Jesus
Christus zu leben – weit über ein frommes Lippenbekenntnis,
über den abstrakten Begriff «Nachfolge» hinaus?
Kürzlich ist ein Bekannter von mir gestorben. Sein Ethos
fand er in der Bergpredigt. Über seinem Pult hing ein Plädoyer
von Martin Luther King Jr. für Feindesliebe, weil nur diese
Liebe die Welt wirklich transformieren könne. Ueli, so hiess
mein Bekannter, machte ernst mit der aktiven Gewaltfreiheit.
Er verweigerte den Militärdienst. Unzählige Menschen
lernten in Seminaren bei ihm Methoden schöpferischer
Gewaltfreiheit kennen. In Aktionen gegen Waffenschauen,
in der Anti-AKW-Bewegung, in Netzwerken mit Geflüchteten
setzte er manches um. Inspiriert von Mahatma Gandhi
pflegte er einen einfachen Lebensstil und hielt manuelle
Arbeit hoch – so als regelmässiger Bergheuer.
Er hat sehr beharrlich und treu versucht, sein Leben in der
Bergpredigt zu verwurzeln. Der bärtige Friedensarbeiter hat
längst nicht alles geschafft.
Auf jeden Fall: Für Lebensentwürfe und Glaubensspuren
von Menschen wie Ueli bin ich voller Dankbarkeit.

Von: Matthias Hui

6. April

Nach dem Ende der Flut sprach Gott: Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. 1. Mose 8,22

Das war die Verheissung nach der Katastrophe. Vielen Menschen
ist heute ein Lebensgefühl vor der Sintflut viel näher –
in einer Welt, in der das Gleichgewicht von Nahrungsmittelproduktion
und Sattwerden, von milden Sommern und
schneereichen Wintern in unseren Breitengraden völlig
durcheinandergeraten ist. Die Berner Rapperin Alwa Alibi
findet für den Gemütszustand vieler junger Menschen eine
Sprache. «Wir haben echt keine Chance! Diese Ohnmacht.»
Sie singt dagegen an: «Chum mir schlö e Schiibe ii hüt Nacht,
dass me o hie gseht, dass aues i Schärbe liigt.» Sie will eine
Scheibe einschlagen, damit sich auch bei uns niemand mehr
darüber hinwegtäuschen könne, dass alles in Scherben liege.
Mit ihrer Musik will sie ihre Emotionen zurückgewinnen, ihr
Inneres ordnen, wie sie sagt. Sie findet kleine Anknüpfungspunkte
für Hoffnung gegenüber «Diktatoren, Nationalismus
und Wirtschaftsbossen, die die Welt kaputtmachen»:
im Zwischenmenschlichen, in der Liebe, in der viel grösser
werdenden Sensibilität für wild durcheinander wirbelnde
Geschlechterfragen. – Ich frage mich beim Musikhören: Was
macht eigentlich Gottes Regenbogen als Zeichen, dass nie
wieder eine Sintflut kommen soll, mit mir?

Von: Matthias Hui

5. April

Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus:
Obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, auf dass ihr durch seine Armut reich würdet. 2. Korinther 8,9

«O du armer Tropf!» Arm dran zu sein, setzt unsere
Umgangssprache oft nicht mit materieller Not gleich. Auch
die Bibel lesen wir gerne auf diese Art: Armut – zum Beispiel
die der «geistig Armen» – und Reichtum – etwa das
«Leben in Fülle» – verlagern wir schwupps auf die symbolische
Ebene. Dann scheinen solche Sätze uns auch etwas
anzugehen, wenn wir nicht von sozialer Ungleichheit und
Prekarität betroffen sind oder auf der anderen Seite nicht im
Luxus schwelgen. Paulus spricht aber im Brief an die Korinther
nicht in schöngeistigen Bildern. Er redet konkret von
Besitz und Überfluss, von Mangel und Ausgleich. Jesus sieht
bei Lukas seine Aufgabe darin, den Armen das Evangelium zu
bringen, die Gefangenen zu befreien und die Zerschlagenen
aufzurichten. Und die lateinamerikanische Kirche traf vor
Jahren ihre biblische Option für die Armen.
Bin ich jetzt doch der arme Tropf, weil ich nicht arm bin
und in diesen Texten scheinbar gar nicht vorkomme? Oder
könnte ich das Leben – auch mein Leben – mit den Augen
der alleinerziehenden Mutter mit ganz wenig Geld in meinem
Quartier, der geflüchteten Familie im Nothilfezentrum
im Nachbardorf besser verstehen? Oder gar gemeinsam verändern
– «auf dass wir alle reich würden»?

Von: Matthias Hui

6. Februar

Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann
es ergründen? Ich, der HERR, kann das Herz ergründen
und die Nieren prüfen und gebe einem jeden nach
seinem Tun.
Jeremia 17,9–10

Hand aufs Herz: Vertrauen Sie darauf, dass Sie und Ihre Lieben
immer etwa das bekommen, was Sie brauchen, um gut
zu leben? Trauen Sie Gott zu, dafür zu sorgen? Oder doch
eher Ihrem Bankkonto, Ihren Erbschaften, Ihren Versicherungen,
Ihren beruflichen Erfolgen und ein wenig Vitamin B?
Meint Jeremia mit «Gott gibt einem jeden nach seinem
Tun», wir müssten uns unser Wohlergehen verdienen?
Wenn ich den ganzen Abschnitt lese, ist klar: Holzweg! Jeremia
warnt vor dem Glauben an materielle Absicherung in
Ego-Manier. Bei ihm sagt Gott: «Dein Vermögen, all deine
Schätze gebe ich dem Raub preis.» Gott will nicht unsere
Leistungsfähigkeit und Markttauglichkeit testen. Menschen
auf Herz und Nieren zu prüfen, heisst, ihre seelischen und
ethischen Motive zum Handeln zu kennen, ihr Gewissen und
ihre Gefühle zu ergründen.
Könnte es sein, dass die Herz-und-Nieren-Frage nicht lautet:
Wie habe ich die Sicherheit, dass ich immer bekomme,
was ich brauche? Sondern: Wie werde ich sicher, dass ich
gebe, was andere brauchen? Darüber nachzudenken, kann
ziemlich an die Nieren gehen.

Von: Matthias Hui

5. Februar

Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie
ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und
euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn
nicht viel kostbarer als sie?
Matthäus 6,26

Manchmal macht mich unser Land wütend und traurig. Für
geflüchtete oder für arme Menschen gibt es wenig Solidarität
auf Augenhöhe. Es fehlt an Mechanismen zur gerechten
Verteilung von Lebenschancen, Geld und Zukunftshoffnung.
Es fehlt an Bewusstsein, dass im Leben eben nicht allen die
Voraussetzungen geschenkt sind, säen, ernten und vorsorgen
zu können.
Aber auf gewisse Dinge bin ich stolz: so auf die schweizerische
AHV, die Alters- und Hinterlassenenversicherung. Die
Scheune, in der gesammelt wird, was dann unter allen über
65-Jährigen verteilt werden kann, wird von jenen gefüllt, die
das Glück haben, arbeiten beziehungsweise andere gegen
Geld arbeiten lassen zu können. Die AHV macht ein klein
wenig erfahrbar, was solidarisches Leben meint: Niemand
braucht sich um das eigene Leben und den morgigen Tag
zu sorgen. Alle tragen zur Sorge für das Ganze bei, und zum
Ganzen zählen auch die Vögel am Himmel und die Lilien
auf dem Feld. In der frommen Sprache von Matthäus heisst
der Versuch kollektiver Fürsorge: trachten nach dem Reich
Gottes.

Von: Matthias Hui

Mittelteil Januar / Februar

Was von der Versammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen
bleibt und Hoffnung schenkt
:


Vom 31. August bis 8. September 2022 kamen in Karlsruhe
Menschen aus allen Erdteilen zusammen, um miteinander
Gottesdienst zu feiern, über die Kraft des Evangeliums nachzudenken
und die Zukunft zu gestalten. Auch verschiedene
Bolderntexte-Autorinnen und -Autoren nahmen an der Versammlung
teil. Sie erzählen hier von einem persönlichen
Erlebnis, das sie ermutigt hat und sie in Erinnerung begleiten
wird.


Der Geist des Pfingstfests ist lebendig
Von: Barbara Robra
Viertausend Menschen aus aller Welt strömen in das grosse
Zelt im Zentrum des Karlsruher Messegeländes. An diesem
luftigen Ort unter freiem Himmel spüren wir den Geist Gottes,
der uns in aller Verschiedenheit verbindet. Wenn Tag
für Tag Menschen aus 120 Ländern das Gebet, das Jesus uns
gelehrt hat, in ihrer Muttersprache zur gleichen Zeit laut
beten – dann ist das ein Pfingstwunder.
Wenn Menschen aus Israel und Palästina, aus Russland
und der Ukraine, wenn Katholiken, Orthodoxe, Reformierte,
Lutheraner, Anglikaner, Muslime, Juden, Buddhisten,
Pfingstler, Evangelikale miteinander reden und miteinander
Mittelteil
beten – dann ist der Geist des Pfingstfests lebendig. Hier
wird geweint, unfassbares Leid geteilt und mitgeteilt. Hier
wird gelacht, Freude und Hoffnung werden weitergegeben.
Sich öffnen, zuhören, eigene Urteile und Vorurteile hinterfragen,
das Gespräch suchen, gemeinsam die nächsten Schritte
wagen – das prägt diese Vollversammlung.
Junge Menschen, Frauen, Indigene und Menschen mit
Behinderungen haben sich zu Vorversammlungen in Karlsruhe
getroffen. Ihre Analyse und ihre Botschaft sind klar
und scharf: Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Wir dürfen
nicht zulassen, dass weiterhin Menschen sinnlos in Kriegen
getötet werden, Menschen von elementaren Lebensgrundlagen
ausgeschlossen sind. Wir fordern Teilhabe aller statt
Bereicherung weniger. Wir wollen Kommunikation und
Kooperation statt Konfrontation. Wir brauchen Taten und
nicht nur Worte. Das lese ich in den Dokumenten, die die
Vollversammlung verabschiedet hat.

Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt –
und sie integriert!

Von: Gert Rüppell
Es war atemberaubend, was Fadi El Halabi und Karen Abou
Nader im Plenum zu Gerechtigkeit und Menschenwürde auf
die Bühne brachten. Beide stammen aus dem Libanon. Er ein
Psychotherapeut, schwerbehindert im Rollstuhl, Vorsitzender
der Regionalen Ökumenischen Vereinigung der Behinderten
(EDAN), Karen arbeitet als internationale Tänzerin
und Choreographin. Beide boten im Plenum einen gemeinsamen
Tanz (Rollstuhl / Ballett) an, der einem den Atem stocken
liess und dessen Schönheit und Grazie zugleich an die
enormen Möglichkeiten und die Gaben verwies, die behinderte
Menschen in unsere Gemeinschaft einbringen.
Wie viele Menschen sind weiterhin behindert und werden
nicht genügend zur Kenntnis genommen? Die Schwerbehinderten
möglicherweise schon, aber die psychisch Schwerkranken,
die Epileptiker und Neurobehinderten? Werden
sie nicht weiterhin ausgegrenzt, auch wenn sie so viele Möglichkeiten
anzubieten haben? Das 4. Plenum in Karlsruhe hat
mich an diesem Punkt zum Nachdenken gebracht, ebenso
wie die Resolution der EDAN-Vorversammlung, die auf eine
Ausweitung des Behindertenbegriffs und eine erweiterte
Behindertenintegration in unseren Gemeinden verweist.
Inwiefern hängen Versöhnung und Integration zusammen?
Mögen die vielen Kirchenvertreterinnen und -vertreter dies
als Mitbringsel in ihren Gemeinden umsetzen.

Wenn ich atme, lebt der Planet
Von: Matthias Hui
An der Vollversammlung hörte ich die Geschichte der indigenen
Munduruku-Gemeinschaften in Brasilien. Zwei Vertreterinnen,
die mich sehr beeindruckten, erzählten vom
Kampf gegen gigantische Staudammprojekte, Eisenbahnlinien
und Goldminen am Rio Tapajós, mitten im Amazonasgebiet.
Die Ausbeutung von Bodenschätzen, Energiequellen
und Anbauflächen frisst sich gewaltsam in ihre Lebensräume,
in ihr Gemeinschaftsleben und in ihre Seelen hinein.
Der Sojaanbau grassiert – gigantische Waldflächen werden
für den Fleischverzehr im Globalen Norden gerodet. Es sind
vor allem Frauen, die sich wehren: «Wir werden uns nicht
korrumpieren lassen, wir werden nicht weichen.» Denn, so
sagen sie in spiritueller Sprache: Es geht um alles. Nicht nur
um Menschenrechte, nicht nur um den Regenwald. «Die
Natur sind wir. Unsere Lebensweise ist unsere Umwelt. Wenn
ich atme, lebt der Planet.»
Ökumene wäre, wenn diese Frauen, die sich auch als Christinnen
verstehen, in unseren Kirchen gehört würden. Übrigens
heisst ein überzeugendes Dokument der Vollversamm-
lung «Der lebende Planet: Auf der Suche nach einer gerechten
und nachhaltigen globalen Gemeinschaft».

Apartheid in Israel?
Von: Elisabeth Raiser
Zu den heissen Themen der Vollversammlung gehörte die
spannungsreiche Lage im Nahen Osten.
Ich sehe und höre noch Munther Isaac, den jungen Pfarrer
der Weihnachtskirche in Bethlehem, mit bewegter Stimme
sagen: «Wir befinden uns jenseits, also hinter der Mauer. Die
meisten Israelis sind dort nie gewesen, sie dürfen ja nicht
kommen und kennen unsere Lage nicht. All unsere Appelle
und Bitten haben nichts genützt. Daher fordern wir jetzt,
dass Israel zum Apartheidstaat erklärt wird, damit der Internationale
Strafgerichtshof ermitteln kann.»
Diese engagierte kurze Rede war eine Antwort auf eine Intervention
von mir, bei der ich in einem Workshop des Netzwerks
Kairos Palästina einige Einwände gegen den Begriff
Apartheid für Israel vorgebracht hatte: Er gefährde die Arbeit
der Freiwilligen des ökumenischen Begleitprogramms in
Palästina und Israel (EAPPI) und er führe hier in Deutschland
zu einer unguten Polarisierung der Debatte um den Frieden
im Nahen Osten. Munther Isaacs Erwiderung hat mich sehr
bewegt und lässt mich seither nicht in Ruhe.
Die Vollversammlung selber machte sich den Apartheidbegriff
für Israel nicht ausdrücklich zu eigen, verabschiedete
aber eine Erklärung, dass er im Ökumenischen Rat genau
untersucht und besprochen werden muss. Das ist ein wichtiges
Signal, auch für uns in Deutschland!


Christ’s love moves the world to reconciliation and unity
Von: Annegret Brauch
Im Vorfeld der Vollversammlung hatte ich noch aktiv an der
Bewerbung für Karlsruhe mitgearbeitet, jetzt – seit Monaten
im Ruhestand – konnte ich als Freiwillige im Catering
und als Gastteilnehmerin mit dabei sein – und wurde reich
beschenkt.
Begeistert und tief beeindruckt hat mich, wie klar, respektvoll,
offen und freundlich und voller Vertrauen in die
Verbindung stiftende Liebe Christi Teilnehmende und Gäste
miteinander kommunizierten. Mit welcher Ernsthaftigkeit
und Tiefe mit- und umeinander gerungen wurde, gerade bei
politischen und theologischen Differenzen, um beieinander
zu bleiben, bewegt von Christi Geist der Versöhnung und
seiner Bitte um Einheit (vgl. Johannes 17,21). Reinhild Traitler
hat einmal gesagt:
«Wahrheit als Dialog unter den Verschiedenen, als Prozess,
der unter Umständen nur die Anerkennung der Unvereinbarkeit
der Verschiedenen bringt, ist ein heiliger Raum, weil
dieser Prozess uns verbindet und davor bewahrt, auseinanderzufallen.»
In Karlsruhe wurde diese Wahrheit spürbar.

Berührt haben mich die Gottesdienste unterm grossen Zelt:
der Reichtum und die Unterschiedlichkeit der Klänge, Stimmen
und Rhythmen, die sich unter Gottes Geist zu einem
vielstimmig-einigen Lob und Dank zusammenfanden.
Tief bewegt hat mich das Grusswort der Generalsekretärin
von «Religionen für den Frieden», Professorin Azza Karam.
Vielleicht mögen Sie es sich selbst anschauen?!
https://www.youtube.com/watch?v=-Yp8ji2xrns (ab Min. 21)

6. Dezember

Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheissung, in denen Gerechtigkeit wohnt.      2. Petrus 3,13

An der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Karlsruhe erlebte ich Tag für Tag Menschen, die auf Gerechtigkeit warten. In der Ukraine und im Nahen Osten. Sami in Schweden und Menschen auf Inseln im Süden, die unter der Klimaerhitzung leiden. Frauen und Kinder, die Gewalt erfahren in der Familie oder in der Kirche.

Mir wurde klarer: In Konflikten und Krisen macht es einen entscheidenden Unterschied, ob Kirchen und religiöse Gemeinschaften mit einer Stimme sprechen. Oder einander widersprechen und bekämpfen. Warten wir gemeinsam auf einen neuen Himmel und eine neue Erde? Oder wollen die einen jetzt gar keine Zeit verschwenden mit Warten, weil es ihnen gegenwärtig ja so gut geht? Und die andern glauben sowieso, dass das Neue erst nach dem Tod kommt?

Das Ziel des Ökumenischen Rats der Kirchen ist Einheit. Auch wenn die Kirchen keine grosse Macht mehr haben – oder gerade deshalb? Auch wenn mir klar ist, dass sie ganz verschiedene weltliche Interessen vertreten: Die Welt würde anders aussehen, wenn Christ*innen in Fragen der Gerechtigkeit öfter mit einer Stimme sprächen. Diese Stimme würde gehört. Was könnte eigentlich – frage ich mich beim Warten – mein Beitrag an die Einheit sein?

Von Matthia Hui

5. Dezember

Lehre mich tun nach deinem Wohlgefallen, denn du bist mein Gott; dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn.        Psalm 143,10

Es geht um das Lehren und Lernen. Ist es mit Gott etwa wie in der Schule? An welche Lehrerinnen und Lehrer erinnern Sie sich, von denen Sie in gutem Geist geführt wurden und etwas gelernt haben, das Sie vielleicht noch heute begleitet? Die Kinder in meiner Wohngemeinschaft berichten von Erfahrungen mit engagierten Lehrer*innen – von  Lernprozessen, die kollaborativ und nicht top-down ablaufen.

Aber ab und zu gibt es irritierende Geschichten. Noch immer existieren Mechanismen des Belohnens und Bestrafens. Die einen dürfen am Ende des Jahres ins Kino gehen, mit Geld, das vor allem jene äufnen mussten, die Regeln übertraten. Einzelne Lehrer*innen scheinen wenig fantasievolle Ideen und integrierende Massnahmen in ihrem Repertoire zu haben. Ohne guten Geist kommen Kinder – die dazu eben oft nicht Noah, Mia oder Leon heissen und für die manches noch fremd ist – von einer (vielleicht auch nur ganz minim) schiefen nicht einfach selbstverständlich auf die ebene Bahn. Im Psalm ertönt die Hoffnung, dass Gott jenen hilft, die ihn um Führung bitten. Aber: Anleitung und Begleitung woher, wohin? Der Betende formuliert später ganz konkret: «Führe mich aus der Not.» Wenn das notwendig ist und wenn das gelingt, ist es hohe Schule.

Von Matthias Hui

6. Oktober

Redet einander zu und richtet euch gegenseitig auf, wie ihr es ja tut.
1. Thessalonicher 5,11

Am Schluss des 1. Thessalonicherbriefs beschreibt Paulus handfest, wie das Zusammenleben in Gemeinschaft funktionieren kann. Zentral ist die Hoffnung. Hoffnung, dass es anders kommen wird. Dass es schon jetzt anders geht, als sich aus Enttäuschung mit Drogen zuzudröhnen, in der Konkurrenz aller gegen alle Hass zu kultivieren oder Böses mit Bösem zu vergelten.
Gutes Zusammenleben ist für Paulus Sorgearbeit füreinander, heitere Solidarität. Verbunden mit der Stützung der Schwachen und der Ermutigung der Verzagten, mit dem Ringen um Frieden im Kleinen. Dazu kommt die kritische Prüfung der Verhältnisse: Wo gibt es Potenzial für Veränderung? Fundament ist Dankbarkeit – auch gegenüber Gott und seiner Sorge um das Leben.
Ich kenne Familien und Wohngemeinschaften, die einigermassen so funktionieren, Altersheime, Unternehmen, Quartiergemeinschaften, Vereine, die sich an solchen Visionen messen lassen. Kürzlich habe ich einen Mann erzählen gehört von seiner Gefängniszeit während der argentinischen Militärdiktatur. Im Kollektiv übten Menschen über Jahre Widerstand und Solidarität ein. Sie entwickelten eine faszinierende Kultur, sich gegenseitig immer wieder aufzurichten, um weder verrückt zu werden noch langsam zu sterben. Eine Kultur des gemeinsamen Lebens.

Von Matthias Hui

5. Oktober

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schliessen. Jeremia 31,31

Als Kind war ich ein grosser Autofan. Ich kannte jedes Modell und war traurig, dass meine Eltern zuerst keinen und später nur einen kleinen roten Wagen besassen – keinen BMW oder Volvo wie die Nachbarn. Heute lebe ich glücklich ohne Auto. Wie fast alle meiner jetzigen Nachbar*innen. (Natürlich freue ich mich, wenn ich meine Mutter ab und zu mit einem – roten! – Mobilityfahrzeug ausfahren kann. Sogar der kleine Autofreund sitzt dann mit am Steuer.)

Aber mit den Autos und Flugzeugen, mit Heizungen und Klimaanlagen, mit dem Fleisch- und Betonkonsum haben wir die Erde ausgebeutet und geschändet. Das Klima ist ausser Rand und Band geraten. Das Wirtschaftssystem entreisst dem Boden noch immer alle Schätze, die es kann, und schifft sie dem, der zahlt, heran. Öl, Kohle und Gas alimentieren die Motoren des Fortschritts immer noch weiter und schaffen ständig noch mehr Erhitzung und Krieg. Aber das imperial-fossile Zeitalter kommt an ein Ende. Zu spät? Ist die Welt am Ende? Nähert sie sich ihrem Untergang?
Gibt es in dieser Sintflut, in der viele längst stecken oder darin untergehen, das Angebot eines neuen Bundes für das Leben? Woher kommt Hilfe? Gratis? Für wen? Und wird die seufzende, zerstörte Schöpfung geheilt werden?

Von Matthias Hui