Autor: Matthias Hui

6. August

Denk daran, wie du die Botschaft empfangen und  gehört hast, bewahre sie und kehre um!    Offenbarung 3,3

«Jetzt müssen wir umkehren, das wird sonst gefährlich.» Ich erinnere mich, wie mein Vater den Abbruch einer Wanderung über Alpweiden begründete. Schwarze Gewitterwolken waren im Anzug. Schade. Wir mussten unser Ziel, einen Gipfel, aufgeben. Zurück auf demselben Pfad an den Ausgangspunkt unten im Tal.

Wenn in der Bibel vom Umkehren die Rede ist, ist die Katastrophe da, der eingeschlagene Weg führte an den Abgrund oder schon darüber hinaus. In höchster Not und Gefahr ist der mögliche Anfang einer neuen Route sichtbar.

Die jüdische Religionsphilosophin Margarete Susman sprach oft von Umkehr. Die waghalsige Umkehr zu Gott, und das ist die Teschuwa, ist keine Rückkehr unter das sichere Dach, wo man immer war. No return. Susman sprach nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen Millionen Toten und zerstörten Illusionen von Umkehr. Und nach dem Zweiten Weltkrieg erst recht. Die alte Ordnung liegt in Trümmern. Alles, wirklich alles, muss bis ins Innerste umgeschaffen, neugestaltet, revolutioniert werden. Das ist die Botschaft.

Als wir in den 1970er-Jahren als Familie am Wandern waren, war für mich als Schweizer Bub die Welt völlig in Ordnung. So sehe ich sie heute nicht mehr. Es donnert und blitzt. Die Welt steht in Flammen, die Erde ist überhitzt. Jetzt müssen wir umkehren.

Von Matthias Hui

5. August

Mit meinem Gott kann ich über Mauern  springen. Psalm 18,30

Der fröhliche Vers wurde 1989 während der friedlichen Revolution in der DDR oft zitiert. Mit dem Mauerfall schien in Europa Krieg überwunden. Der kalte war weg,  der heisse in weiter Ferne, und die Angst vor dem Atomkrieg verflog. Aber dann verpassten es die Mächtigen, gemeinsam Hand anzulegen beim Bau eines gemeinsamen Hauses, dem Plan für Europa, der ursprünglich aus Russland kam. Kapitalistische Strukturen wurden von Westen her über den Kontinent gezogen, und damit florierten neben funkelnden Verheissungen und funktionierenden Geschäften auch Ungleichheit und Korruption.

Und der Krieg wurde bald wieder Realität: in Ex-Jugoslawien, in Tschetschenien, in Georgien – oder mit europäischer Beihilfe und mit Wegsehen im Irak, in Afghanistan,  in Syrien und anderswo. Wir wollten das alles aber nicht als Kapitel europäischer Geschichte verstehen.

Jetzt geht es nicht mehr anders. Wir sehen die Zerstörung und den Tod in der Ukraine. Wir sehen die Repression und die Diktatur in Russland. Wir sehen die Aufrüstung im Westen. Wir begegnen den geflüchteten Menschen.

Hat die – biblische – Vision des gerechten Friedens ausgedient? Hat der Pazifismus versagt? Kaum. Solche Konzepte wurden gar nie ausprobiert auf unserem Kontinent.

Fromme Wünsche – wie es jener einst war, dass die Mauer fallen könnte?

Von Matthias Hui

6. Juni

Der HERR erforscht alle Herzen und versteht alles Dichten und Trachten der Gedanken.       1. Chronik 28,9

Manchmal verausgaben wir uns Tag und Nacht, um die Welt zu bewahren, zu verändern, zu retten. Und manchmal laufen wir Gefahr, mit engagierter Betriebsamkeit gut dastehen zu wollen – vor uns und vor den anderen. Oder sogar vor Gott. Dabei nehmen auch wir andere Menschen nicht immer für voll und grenzen sie aus. Oder wir müssen merken, dass wir mit unseren so «progressiven», aber festgefahrenen Gedanken Kinder unserer Zeit sind. Und auch mit unserem eigenen Schubladen-, Geld- und Sicherheitsdenken zerstörerische Entwicklungen in Gang halten.

Viele Menschen können nicht «machen» und handeln, wie sie wollen. Ihr Trachten nach einer guten Welt kann genauso stark – und vielleicht genauso wirksam – sein wie das von stets Aktiven. Ältere Menschen, die nicht mehr viel Kraft haben. Menschen mit einer Beeinträchtigung, die sie einschränkt. Menschen, die jeden Tag ums Überleben kämpfen – in einem Armenviertel, in einem Spital, in einem Gefängnis. Andere wollen nicht immer «machen». Menschen, die in kontemplativen Klöstern leben. Stille Künstler*innen. Menschen, die ihren kleinen Acker bestellen.

Der Pfingstmontag ist der Moment für eine Unterbrechung: Was tragen wir im Herzen? Wonach trachten wir? Und was können wir damit machen?

Von Matthias Hui

5. Juni, Pfingsten

Wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.    Römer 8,23–24

So wie die Welt jetzt, an Pfingsten, ist, kann sie nicht bleiben. Beziehungsweise: Wenn sie so bleibt, wie sie ist, geht sie unter in Krieg und Hass und ökologischem Verderben. Woher kommt Rettung? Woher kommt Hoffnung? Naiver Optimismus, dass die autoritären Herrscher dieser Welt durch Einsicht und Kooperation das Feld räumen, dass An-die-Wand-Drücken durch Aufrüstung zu stabilem Frieden führt oder dass wir mit Autos, die mit elektrischer statt mit fossiler Energie betrieben sind, locker die Kurve kriegen, ist fehl am Platz. Es wäre ein Setzen auf den alten Geist des Immer-Mehr, der Konkurrenz, der Ausbeutung von Menschen und der Schöpfung mit Gewalt.

Pfingsten erzählt von einem anderen Geist. Einem Geist und einer Sehnsucht, die schon in den Herzen jener Einlass gefunden haben, die sich innerlich und äusserlich vom alten System verabschiedet haben. Paulus macht diese Erfahrung. Er ringt um Worte und appelliert an die Geduld: «Die Hoffnung, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?» In den Rissen dieser Welt ist Erlösung, ist Befreiung von Krieg und Herrschaft plötzlich schon da. Dort atmet die seufzende Schöpfung und lebt.

Von Matthias Hui

6. April

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!         
Römer 11,33

Erfahrungen des Göttlichen: kein Reichtum, den ich auf meinem Privatkonto verbuchen kann. Gott, so scheint mir immer wieder, ist nur grosses Geheimnis. Das Göttliche ist alles und nichts, ganz gewaltig und ganz fein, sehr konkret und absolut unbeschreiblich. Es berührt und es fehlt. «Die Anhänger der verschiedensten Religionen werden angezogen von diesem X im Herzen der Welt, dem sie Namen wie Allah, Urmutter, der Ewige, Nirwana, das Unerforschliche gegeben haben.» So Dorothee Sölle. Paulus versucht hier, dem Geheimnis des Gottes Israels auf die Spur zu kommen. Ich kann es nicht haben, beweisen, begreifen, ergreifen. Das Göttliche bleibt unerforschlich. Ich kann daran glauben, dass hinter dem Horizont noch etwas kommt. Ich kann mit anderen zusammen ein Stück Hoffnung aufrechterhalten, dass gutes Leben für alle möglich ist. Ich kann versuchen, offen zu bleiben für Liebe, die mir entgegenkommt, mit der ich gar nicht rechnen konnte. Diese Liebe ist dann vielleicht Erfahrung des Göttlichen. Auf meiner eigenen Expedition in rutschigem Gelände.

Der israelische AphoristikerElazar Benyoetz sagt deshalb: Gottes Wege sind unerforschlich, nicht aber der Weg zu ihm.

Von Matthias Hui

5. April

Sie stimmten den Lobpreis an und dankten dem HERRN:
Denn er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewiglich.

Esra 3,11

Wir hören am Radio ein Konzert der 75-jährigen Rocksängerin und Poetin Patti Smith. Mein Sohn fragt bei einem Liedtitel nach: «Was heisst mercy auf Deutsch?» Ich: «Barmherzigkeit». «Und was ist denn Barmherzigkeit?

Das Wort kommt in unserem Alltag kaum vor, es ist geheimnisvoll, klingt auf Deutsch noch altmodischer als im Englischen. Es steht für eine Haltung und für aktive Gesten bedingungsloser Zuwendung, extrem menschlich und Eigenschaft Gottes zugleich.

Ein deutscher Theologe beantwortete kürzlich die Frage, ob Seenotretter*innen barmherzig handeln, brutal abgeklärt: «Die Barmherzigkeit nimmt einseitig für Menschen in Not Stellung, das stimmt. Aber es gibt auch die Gerechtigkeit, und die kann nicht einfach dem Herzen folgen, sondern muss nach Regeln fragen. Die Kirche kann barmherzig sein, der Staat darf das nicht.» Die Antwort verstört mich.

Patti  Smith  spricht   in  einem Schlaflied  anders,  in Bildern,  von der Barmherzigkeit: Dein Vater wartet auf dich / Um dich in seine heilenden Hände zu hüllen / Während der Nachthimmel weint. Ihre Definition: Barmherzigkeit ist der heilende Wind / der flüstert, wenn du schläfst.

Von Matthias Hui

6. Februar

Er wird auftreten und sie weiden in der Kraft des HERRN.                                            Micha 5,3

Vom Messias ist hier die Rede. Aber zuerst eine andere Geschichte: Die jüdische Religionsphilosophin Margarete Susman lebte seit den 1930er-Jahren bis zu ihrem Tod 1966 in einer kleinen Dachwohnung in Zürich. Am 7. Mai 1942 versuchten eine enge Weggefährtin und Susmans Schwester, in die Schweiz zu gelangen. Die Gruppe wurde aufgegriffen. Susman wartete umsonst. Ihre Schwester nahm sich vor Ort das Leben, die anderen wurden ins KZ Theresienstadt deportiert und kamen um.

Und dennoch: Margarete Susman lebte, dort unter dem Dach, stets auf messianische Zukunft hin. Wie Micha. Im Geist der Utopie. Die Katastrophe kann unterbrochen werden. Jeden Moment. Unvermittelt kann der Messias «auftreten», wie Micha in diesem Vers sagt – in der damaligen hoffnungslosen Lage. Dann werden sich Gesetz und Gerechtigkeit durchsetzen, und es wird Friede sein.

In dieser jüdisch-messianischen Tradition war Susman zuhause, für das
20. Jahrhundert prägte sie diese mit ihrem bedeutsamen Werk selber mit. Was sie sagt, ist an uns adressiert: «Die einzige Frage, die von dem himmlischen Richter an eine Seele, die vor ihn tritt, gestellt wird, lautet nach dem Talmud: ‹Hast du gehofft auf das Heil?›»

Wie halten wir Hoffnung aufrecht – wider alle Hoffnung?

Von Matthias Hui

5. Februar

Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.                                                           Galater 4,6–7

Paulus spricht die Galater*innen als Kinder an. Kinder werden gleich geboren, von einer Mutter unter Schmerzen zur Welt gebracht. Vom ersten Moment an kommt jedem kleinen Menschen dieselbe Würde zu. Und im Bild von Paulus haben alle ein und denselben sorgenden Vater.

Kinder kann eigentlich nichts voneinander trennen – keine sprachlichen oder geografischen, keine sozialen oder ökonomischen, keine ethnischen oder religiösen, keine geschlechterbedingten oder körperlichen Barrieren. Bestehende Gräben sind Ausdruck der ungleichen Machtverhältnisse unter Erwachsenen. Kinder, wenn man sie denn lässt, begegnen einander auf Augenhöhe. Sie sind noch nicht Herren und auch keine Knechte – einfach Kinder.

Die Menschen als grosse Kinderschar: Das ist die universale, egalitäre Gemeinschaft, die Paulus vorschwebt. In ihr verwandelt sich der Kampf gegeneinander zum Miteinander, zur Solidarität, zum Fest. Die Galater*innen sollen schon jetzt so in Gemeinschaft leben, dass Ungleichheiten keinen Raum mehr haben. Wie Kinder. Und wir – denselben Geist in unseren Herzen – sollen das auch.

Von Matthia Hui