Monat: Oktober 2023

31. Oktober

Der Sohn sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt
gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht
mehr wert, dass ich dein Sohn heisse. Aber der Vater
sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste
Gewand her und zieht es ihm an.
Lukas 15,21–22

Wir befinden uns mitten im Happy End des Gleichnisses
vom verlorenen Sohn. Dieser ist vor den Erwartungen des
Elternhauses geflohen und steht nun reumütig vor der Tür:
elend, heruntergekommen, von schlechtem Gewissen gepeinigt.
Doch den Vater kümmert dies nicht. Für ihn zählt einzig
die Erleichterung darüber, das verloren geglaubte Kind wieder
vor sich zu haben. In euphorischem Überschwang lässt er den
Junior nett kleiden und richtet ein Fest aus. Kein Wort von
Tadel und Strafe. Pure Freude: Ich bin so froh, bist du wieder da.
Kein biblischer Text beschreibt die Bedingungslosigkeit der
elterlichen Liebe so wunderschön wie diese Szene, die schon
viele Künstlerinnen und Künstler inspirierte. Als beliebter Predigttext
beschreibt er bildhaft das göttliche Erbarmen. Also
alles gut? Nein, denn da gibt es noch den älteren Sohn. Er, der
brav daheimblieb und sich jetzt mitansehen muss, wie der
Ausreisser abgefeiert wird. Dadurch wird er zum eigentlichen
Protagonisten,
weil er uns aufzeigt, dass bedingungslose Liebe
über unserem Gerechtigkeitssinn steht. Diese Liebe unterliegt
nicht einer simplen Logik von Geben und Nehmen nach
menschlichem Ermessen. Daher ist sie oft für uns unergründbar,
sei es im Schmerz oder im Glück. Doch dies auszuhalten,
macht sie umso kostbarer.

Von: Esther Hürlimann

30. Oktober

Das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein
und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit
für immer.
Jesaja 32,17

Gerecht ist die Welt aus biblischer Sicht dann, wenn die
Beziehungen in Ordnung sind. Die Beziehung der Menschen
zu Gott, ihre Beziehungen untereinander, aber auch
die Beziehungen zur Natur. Jesaja sieht eine heile Welt auf die
Menschheit zukommen, in der niemand mehr Angst haben
muss vor Unbesonnenen und Dummen. Sie schaffen nur
Unrecht, reden Unsinn und lassen die Waffen sprechen. 1987
sang Bruce Springsteen: «Wenn ich mich anschaue, sehe ich
nicht den Mann, der ich sein wollte. Irgendwo unterwegs
geriet ich aus der Bahn und seither bewege ich mich ständig
einen Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück.» Springsteen
ist, wie ich, Teil der unheilen Welt. Wer ist schon die,
die sie sein wollte? Es ist Gottes Energie, die die neue Welt
schafft, sagt Jesaja. Jesus nennt die neue Welt «Himmelreich
» oder «Reich Gottes». Sie erscheint, wo das, was Jesaja
ankündigt, für einen Augenblick Wirklichkeit wird. Leider
sind diese heilen Zustände flüchtig und wenn sie vorüber
sind, entsteht der Eindruck, zwei Schritte zurück gemacht
zu haben. Aber es gibt sie. Sie tauchen auf in der Kirche
und anderswo. Und wer einmal erlebt hat, dass Gott da ist,
dass Menschen heil werden und Frieden geschlossen werden
kann, glaubt mit Jesaja, dass eine bessere Welt möglich ist.
Schon heute.

Von: Heiner Schubert

29. Oktober

Der HERR spricht: Wen hast du gescheut und
gefürchtet, dass du treulos wurdest und nicht an
mich dachtest?
Jesaja 57,11

Die prophetische Wutrede prangert alles an, was den Menschen
auf die schiefe Bahn bringt. Auf die Aufzählung der
gesellschaftlichen Missstände folgt die Verurteilung der kultischen
Vergehen.
Das schlimmste Verbrechen scheint allerdings die Gottvergessenheit.
Diese Treulosigkeit führt direkt ins schutzlose
Verderben: «Wenn du schreist, sollen die dich retten, die du
dir angesammelt hast; der Wind aber wird sie alle forttragen,
ein Hauch wir sie hinwegnehmen.» (Jesaja 57,13) Unverhofft
schaltet sich nun eine andere Stimme ein. Sie spricht von
einem «Heiligen», der «in der Höhe» wohnt und dennoch
mitten in der Welt präsent ist, «um den Geist der Erniedrigten
zu beleben und das Herz der Zerschlagenen zu beleben»
(Jesaja 57,15). Allerdings erscheint Gott als Tröster und Täter
zugleich. Er legt ein Geständnis ab: «Über die Schuld, über
ihre Habsucht war ich zornig, so dass ich sie geschlagen
habe.» (Jesaja 57,17) Sein Zorn verraucht. Die Abtrünnigkeit
will er «mit Tröstungen vergelten». (Jesaja 57,18)
Der kunstvoll komponierte Text erzählt von einem Gott,
der aus enttäuschter Liebe zornig zu werden schien und
gerade aufgrund dieser Liebe die Türe trotz allem nie
zuschlägt, sondern sich immer wieder neu auf die Menschen
zubewegt.

Von: Felix Reich

28. Oktober

Daran erkennen wir, dass wir aus der Wahrheit sind,
und können vor ihm unser Herz überzeugen, dass,
wenn uns unser Herz verdammt, Gott grösser ist als
unser Herz und erkennt alle Dinge.
1. Johannes 3,19–20

Offenes Herz
Verschlossenes Herz
Unser Herz, so lieb und wichtig, so klein. Manchmal pocht
meins wie wild, als wolle es zerspringen, und manchmal
scheint es fast stillzustehen. Es gibt mir den Lebensrhythmus
vor, nach seinem eigenen Takt.
Verstocktes Herz
Weises Herz
Feiges Herz
Unser Herz, so klein es doch ist, knapp 300 Gramm, ein
Muskel
und so gross wie deine Faust, so sehr hat es dich doch
ganz in der Hand, ist unsere wichtigste Instanz, spricht den
Richterspruch: Verliebt. Schuldig. Verdammt.
Unbeschnittenes Herz
Verzagtes Herz
Bebendes Herz
Unser Herz, die Welt in unserer Mitte.
Trauriges Herz
Fröhliches Herz
Gehorsames Herz
Die Bibel kennt sie alle, die Zustände unseres Herzens, wie sie
uns bestimmen und leiten. Und noch eines hofft sie, weiss
sie: dass Gott grösser ist als unser Herz.

Von: Sigrun Welke-Holtmann

27. Oktober

Der HERR ist meines Lebens Kraft;
vor wem sollte mir grauen?
Psalm 27,1

Und warum fühle ich mich dann oft so kraftlos? Was ist,
wenn ich müde und ängstlich, überfordert bin? Bin ich dann
von allen guten Geistern, auch vom Gott selbst verlassen?
Das wäre dann ja eine doppelte Strafe!
Oder verhält ist es sich mit der Lebenskraft eher wie in der
Erzählung von den Wachteln und dem Manna in der Wüste?
Gott gibt mir nicht die Kraft, ein Kraftprotz zu sein, mich
zu produzieren vor anderen, dass ich die anderen ängstige.
Vielmehr gibt sie mir in jeder Lebenslage genau so viel
Kraft, wie ich brauche, um die Herausforderung zu meistern,
zu bestehen, auch wenn mein Gegenüber mir Furcht
einflösst und das Grauen nach mir greift. Und manchmal
ist die Kraft gerade so gross, dass sie zum Überleben reicht.
Aber das ist eigentlich viel.
Ja, ich kann mich an verschiedene Situationen erinnern, in
denen es gerade so gereicht hat und ich eine Menge Kraft
brauchte. Und doch sind es diese Erlebnisse, die mir davon
erzählen, dass ich genügend Kraft bekam. Ich kann meinen
Blick heben, den Tatsachen ins Gesicht schauen, komme, was
da wolle. Allein das gibt schon Kraft, aufrecht zu stehen, mit
erhobenem Haupt anderen zu begegnen.
Gott, schenke mir die Kraft, auf dich zu vertrauen und
gleichzeitig sorgsam mit meinen Kräften umzugehen, sie
nicht zu verschwenden, sondern sie überlegt, gezielt, sinnvoll
einzusetzen.

Von: Sigrun Welke-Holtmann

26. Oktober

Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr,
dass ich höre, wie Jünger hören.
Jesaja 50,4

Vermutlich ist Ihnen bei diesem Vers auch das bekannte
Morgenlied von Jochen Klepper in den Sinn gekommen.
Er schrieb es 1938. Die Sorge und Angst um das Leben
seiner durch die rassistische Gesetzgebung in Deutschland
bedrohten Familie ist darin «umhüllt» vom tiefen Vertrauen
auf Gottes Zuwendung und Fürsorge. Jede Strophe zeugt
von dieser innigen Zugehörigkeit, die Herz und Sinne, ja das
ganze Leben – und auch den Tod umfasst.
Wem Gott das Ohr weckt, der oder die hört mit Herz und
Sinn. Salomo bittet um ein «hörendes Herz», um zu verstehen,
was gut und böse ist (1. Könige 3,9). Jesus preist
diejenigen selig, die «Gottes Wort hören und bewahren»
(Lukas 11,28), und Jakobus ermahnt: «Seid aber Täter des
Wortes und nicht Hörer allein …» (Jakobus 1,22). Gottes
Wort hören, verstehen und tun gehört nach biblischem Verständnis
zusammen.
Hörend und zugehörig leben vor und mit diesem Gott, der
mich Morgen für Morgen weckt, dass ich mit seinem Wort
den neuen Tag beginne …
Gott will mich früh umhüllen mit seinem Wort und Licht,
verheissen und erfüllen, damit mir nichts gebricht; will vollen
Lohn mir zahlen, fragt nicht, ob ich versag. Sein Wort will
helle strahlen, wie dunkel auch der Tag. (EG 452,5)

Von: Annegret Brauch

25. Oktober

Das Himmelreich gleicht einem Sauerteig, den
eine Frau nahm und unter drei Scheffel Mehl mengte,
bis es ganz durchsäuert war.
Matthäus 13,33

Eine Szene aus dem Alltag: Eine Frau backt Brot; sie nimmt
den Sauerteig und mischt ihn unter drei Scheffel Mehl. Das
ist eine ganze Menge und ist sicher auch für Nachbarn und
Freunde gedacht. Bis der ganze Teig durchsäuert ist, dauert
es. Der Gärungsprozess braucht Zeit und auch die Geduld
der Frau, die eben noch so tatkräftig zupackte.
Interessant ist, dass das Wort, das hier mit untermengen
wiedergegeben
ist, eigentlich verstecken / verbergen bedeutet.
Ich verstehe das so: Das Reich Gottes oder, wie Matthäus
sagt, das Himmelreich ist verborgen im Alltäglichen, in der
Welt, unter uns. Es braucht unsere Aufmerksamkeit und
Geduld, kräftiges Zupacken und Geschehenlassen – wie
beim Sauerteig …
Eigentlich ist es ganz einfach: Jede und jeder weiss, was passiert,
wenn Sauerteig unter Mehl gemengt wird. Und doch
gibt es die, die mit sehenden Augen nicht sehen und mit
hörenden Ohren nicht hören und nicht verstehen (Vers 13).
Wie aufmerksam bin ich heute für Gottes Reich? Welche
Anzeichen werde ich entdecken – oder doch übersehen?
Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme …

Von: Annegret Brauch

24. Oktober

In Christus liegen verborgen alle Schätze
der Weisheit und Erkenntnis.
Kolosser 2,3

Gross ist das Geheimnis des Glaubens! So habe ich vergangenen
Dezember meinen Bolderntext begonnen, und das passt
auch zum heutigen Text aus dem Kolosserbrief: In Christus
liegen die Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen.
Sie sind nicht offenbar, wie wir das gerne hätten und wie jede
Predigt versucht, sie ans Tageslicht zu bringen. Das gelingt
manchmal gut, und ich als Zuhörerin gehe dann ganz belebt
und voller Hoffnung auf unserem langen schönen Waldweg
nach Hause und in die nächste Woche.
Die Mystiker haben viel verstanden oder vielmehr erahnt
oder gesehen von den verborgenen Schätzen der Weisheit
und Erkenntnis – und etwas davon spüren auch wir eher
nüchternen Christen beim Schmecken des Brots und Kosten
des Weins beim Abendmahl. Wir nehmen es zu uns «zu
seinem Gedächtnis». Das verbindet uns mit den anderen
im Kreis Stehenden oder Sitzenden und hat zugleich eine
heilende, geheimnisvolle Wirkung auf unsere Seele. Ob wir
damit der Weisheit näherkommen, weiss ich nicht, aber der
Erkenntnis vielleicht, weil wir dabei Jesus nahekommen, uns
sein Leben und Wirken vergegenwärtigen können. Unsere
christlichen Nächstenliebe, unsere Diakonie ist meistens
genau dieser Vergegenwärtigung zu verdanken. Verborgen
und zugleich wirksam!

Von: Elisabeth Raiser

23. Oktober

Er ist ein lebendiger Gott, der ewig bleibt,
und sein Reich ist unvergänglich.
Daniel 6,27

Das Buch Daniel handelt von dramatischen Ereignissen
in Babylon, wohin das Volk Israel ins Exil geführt worden
war. Viele von uns kennen das Gedicht von Heinrich Heine

«Belsazar»: In der biblischen Vorlage für dieses Gedicht
deutet der Jude Daniel die bei dem ausgelassenen Fest des
Königs plötzlich erscheinende geheimnisvolle Flammenschrift
mit den Worten «Mene Tekel» als ein Urteil Gottes
und prophezeit den Untergang Belsazars, der dann auch
eintritt. Und es geht ebenso märchenhaft weiter: Unter dem
Nachfolger Belsazars Darius wird Daniel Opfer einer Intrige,
die den König dazu bringt, jeden mit dem Tod zu bestrafen,
der sich an eine andere Gottheit als an ihn mit Bitten oder im
Gebet wendet. Der fromme Daniel wird bei seinen Gebeten
entdeckt und zur Strafe in die Löwengrube geworfen. Gott
bewahrt ihn vor dem Tod, und das ist für Darius der Beweis,
dass dieser Gott der Juden der lebendige Gott ist, dessen
Reich unvergänglich ist.
Für uns, für mich ein schwieriger Beweis! Gott greift erfahrungsgemäss
ja gerade nicht in die Geschicke der Menschheit
ein; vielleicht ein Grund für viele, nicht mehr an Gott
zu glauben. Seine/ihre Wirkung erlebe ich – wie viele von
uns – vielmehr innerlich, entsprechend dem Gleichnis Jesu
als ein Samenkorn, das zu einem grossen Baum werden kann
und uns Hoffnung gibt, uns bewegt, leitet und trägt.

Von: Elisabeth Raiser

22. Oktober

Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen,
sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen,
damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst.
3. Mose 19,17

Die heutige Losung spricht die Beziehungen zu Menschen
an. Und doch möchte ich sie auch auf Strukturen beziehen,
denn diese lassen mich selber mit all den Verstrickungen
Schuld auf mich laden. Was ist mit den Geldern meiner Pensionskasse?
Es geht nicht um Hass. Vielmehr geht es darum,
eine Haltung einzunehmen, die einen bewussten Umgang
mit unseren Verstrickungen pflegt, diese hinterfragt. Es ist
ja nicht so, dass ich durch das, was ich nicht beeinflussen
kann, Schuld auf mich lade. In unserem Text geht es um ein
individuelles Verhalten. Ich meine aber, dass er uns trotzdem
einlädt, unser Verhalten den Strukturen gegenüber zu reflektieren.
Und so, wie die Losung eine Haltung auch im sozialen
Bereich vorschreibt, so lädt sie uns ein, global zu denken und
mitzuwirken – da, wo wir etwas verändern können. Wir können
zum Beispiel unsere Stimme erheben, wenn wir eingeladen
werden, eine Petition zu unterschreiben, die von Konzernen
mehr Verantwortung verlangt. Könnte das gemeint sein,
wenn der Text sagt, dass wir «den Nächsten» zurechtweisen
sollen? Und noch etwas: Die individuelle Schuld erdrückt
uns. Das braucht zu viel Kraft. Die Mitverantwortung für die
Menschen und die Schöpfung soll uns nicht zur Last werden.
Schenke du die Hoffnung auf Veränderung.

Von: Madeleine Strub-Jaccoud