Autor: Esther Hürlimann

31. Oktober

Der Sohn sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt
gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht
mehr wert, dass ich dein Sohn heisse. Aber der Vater
sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste
Gewand her und zieht es ihm an.
Lukas 15,21–22

Wir befinden uns mitten im Happy End des Gleichnisses
vom verlorenen Sohn. Dieser ist vor den Erwartungen des
Elternhauses geflohen und steht nun reumütig vor der Tür:
elend, heruntergekommen, von schlechtem Gewissen gepeinigt.
Doch den Vater kümmert dies nicht. Für ihn zählt einzig
die Erleichterung darüber, das verloren geglaubte Kind wieder
vor sich zu haben. In euphorischem Überschwang lässt er den
Junior nett kleiden und richtet ein Fest aus. Kein Wort von
Tadel und Strafe. Pure Freude: Ich bin so froh, bist du wieder da.
Kein biblischer Text beschreibt die Bedingungslosigkeit der
elterlichen Liebe so wunderschön wie diese Szene, die schon
viele Künstlerinnen und Künstler inspirierte. Als beliebter Predigttext
beschreibt er bildhaft das göttliche Erbarmen. Also
alles gut? Nein, denn da gibt es noch den älteren Sohn. Er, der
brav daheimblieb und sich jetzt mitansehen muss, wie der
Ausreisser abgefeiert wird. Dadurch wird er zum eigentlichen
Protagonisten,
weil er uns aufzeigt, dass bedingungslose Liebe
über unserem Gerechtigkeitssinn steht. Diese Liebe unterliegt
nicht einer simplen Logik von Geben und Nehmen nach
menschlichem Ermessen. Daher ist sie oft für uns unergründbar,
sei es im Schmerz oder im Glück. Doch dies auszuhalten,
macht sie umso kostbarer.

Von: Esther Hürlimann

8. Oktober

Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land;
mir ist ein schönes Erbteil geworden.
Psalm 16,6

Wenn das nicht gut klingt: Ich ziehe an der Tombola ein
Los, auf dem steht: «Liebliches Land gewonnen.» Doch
schnell bemerke ich den Haken. Alle anderen um mich
herum erhalten Preise wie «Luxuriöses Chalet in den Bergen,
Villa am Meer mit Swimmingpool, Loftwohnung an
urbaner Toplage …». Ich bin irritiert und frage mich: Habe
ich nun gewonnen oder verloren? Genau so muss sich Levi
vorgekommen sein, als sein Vater Jakob mittels Los sein Land
an seine zwölf Söhne aufteilte, er aber leer ausging. Stattdessen
erhielten Levi und sein Stamm das spirituelle Erbe, als
Priestergeschlecht für alle übrigen Israeliten da zu sein. Kein
Landbesitz für ihn, sondern der Dienst an Gott.
Psalm 16 nimmt mich mit in dieses Erleben von Levi, dessen
unmittelbare Reaktion zwar nicht überliefert ist, der sich an
diesem immateriellen Erbe aber zu freuen scheint. Ein Erbe,
das ebenfalls Zuwendung und Verantwortung bedeutet, denn
auch «liebliches Land» will gehegt und gepflegt werden. Lasst
uns den heutigen Tag so erleben, als hätten wir Levis Los gezogen.
Lasst uns heute nicht nach links und nicht nach rechts
schauen, sondern unser eigenes liebliches Land entdecken und
uns an unseren eigenen inneren Pflanzen erfreuen. Lasst uns
heute auf unser eigenes spirituelles und kulturelles Erbe fokussieren,
das uns am Herzen liegt, und es als liebliches Land erfahren:
ein Raum, der mir Tag für Tag den Boden verleiht, geistig
zu wachsen und meinen Hunger nach Sinnerfahrung zu stillen.

Von: Esther Hürlimann

8. August

Dienet einander, ein jeder mit der Gabe,
die er empfangen hat, als die guten Haushalter
der mancherlei Gnade Gottes.
1. Petrus 4,10

Ganz ehrlich: Manchmal wünschte ich mir, die hier verwendeten
Bibelverse würden nicht der Luther-Bibel entnommen,
sondern einer Übersetzung, die den Menschen von heute
etwas mehr «aufs Maul schaut». Manchmal bin ich aber
auch verzückt ob ihrer altertümlichen Schönheit, die eine
besondere Poesie und Innigkeit vermittelt. So ergeht es mir
mit der «mancherlei Gnade Gottes».
Gnade ist für uns ja sowieso ein schwer zugänglicher Begriff
geworden, weil wir darin etwas Hierarchisches, ja Gönnerhaftes
lesen. Kein Geben und Nehmen auf Augenhöhe, sondern
eine Gabe von oben herab. So viel sympathischer wirkt
hingegen diese «mancherlei Gnade». Mit dieser simplen,
auch etwas lustig klingenden Zugabe wird dieses göttliche
Wirken auf Erden plötzlich sehr viel leichter und vielseitiger,
ja fröhlicher. Es ist ein bisschen wie ein Konfettiregen, der
vom Himmel fällt und die Menschen in ihrer Buntheit feiern
lässt und sie vereint.
Passend zum Anfang des überhaupt sehr schönen Verses
spiegelt sich in dieser mancherlei Gnade Gottes das
Mancherlei der menschlichen Gaben. Und so bekommt
diese etwas aus der Zeit gefallene Formulierung etwas sehr
Modernes. Niemand ist gleich. Alle Menschen sind einzigartig
und doch in einem göttlichen Mancherlei vereint.

Von: Esther Hürlimann

31. Juli

Jesus spricht zu Nikodemus: Wundere dich nicht,
dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren
werden.
Johannes 3,7

Die Auslegung eines einzelnen Bibelverses ist Faszination
und Herausforderung zugleich. Indem wir den Kontext ausblenden,
können wir uns dafür umso mehr auf dessen Essenz
konzentrieren und der geheimnisvollen Wucht eines einzelnen
Satzes nachgehen. Wir befinden uns hier in einem
Dialog. Jesus hat seinem Gesprächspartner das Wesen seiner
Philosophie erklärt. Dieser reagiert irritiert oder sogar
kritisch. Worauf Jesus so gar nicht «Jesus-like» antwortet:
Hey, hast du dir schon mal überlegt, all das, was du bisher
geglaubt hast, über den Haufen zu werfen und aus einer
komplett neuen Perspektive zu betrachten?
Was Jesus da zu Nikodemus sagt, spricht mich mitsamt seinem
Tonfall an. Unserer Welt täte es aktuell sehr gut, wir
würden einander alarmierter zureden. Wenn ich etwa an
den Klimawandel denke, so wünschte ich mir, Politik und
Wissenschaft würden vermehrt in Imperativen reden und
ihre Stimmen deutlicher erheben – ohne die Hoffnungs-
losigkeit zu triggern. Wie das gehen könnte, zeigt uns Jesus. Im
Bild der neuen Geburt zeigt er uns eine Chance. Kein «Nach
euch die Sintflut!». Kein Heraufbeschwören einer Endzeitstimmung.
Kein panischer Appell zu Aktivismus, sondern einfach:
Ihr müsst euch selbst verändern. Nur wenn wir an eine
stetige Erneuerung unserer selbst glauben und daran Tag für
Tag arbeiten, werden wir neue Wege einschlagen. Dort, wo
es nottut.

Von: Esther Hürlimann

8. Juni

Boas sprach zu Rut: Du bist gekommen zu dem HERRN,
dass du unter seinen Flügeln Zuflucht hättest.
Rut 2,12


Es gibt Sätze in der Bibel, die uns wegen ihrer Weisheit faszinieren
oder weil sie in uns ein Glücksgefühl der Erkenntnis auslösen.
Dann aber gibt es auch Verse, die uns wegen einer sprachlichen
Irritation, ja einem Unverständnis in ihren Bann ziehen.
Bei diesem Ausschnitt aus dem Buch Rut bleibe ich an diesem
Konjunktiv am Schluss haften: «dass du unter seinen Flügeln
Zuflucht hättest.» «Hättest du gerne!» klingt fast zynisch mit.
Du suchst Schutz dort, wo du ihn sowieso nicht findest.
Der Satz lässt sich vermutlich nur eingebettet in die
Geschichte von Rut verstehen. Die junge Witwe kommt in ein
fremdes Land auf der Suche nach einem neuen Mann – ein
kolossal schutzloser, verletzlicher Zustand für Rut. Ihr einziger
Halt ist ihre Schwiegermutter Naomi, die sie begleitet und in
ihrem Gottvertrauen stärkt.
Der Satz fällt in der ersten Begegnung zwischen Rut und
Boas, einem wohlhabenden Bauern. Er erkennt in Rut offenbar
ihr Vertrauen und ihre Hoffnung auf einen Ort, der sie in ihrer
Schutzlosigkeit aufnimmt. Ob es ihm imponiert? Oder ob er es
einfach nur abschätzig kommentiert?
Letztendlich findet Rut ein doppeltes Flügelgespann, das sie
beschützt: eine neue Beziehung und die Integration in eine
neue Gesellschaft. Zudem wird ihre Hoffnung auf eine göttliche
Fügung belohnt, auf die sie trotz eines verunsichernden «Hättest
du gerne!» vertraute.
Dass Rut später zur Stammmutter der Israeliten wird und
jährlich im jüdischen Erntefest Schawuot gefeiert wird, sollte
uns ermutigen, an das Unmögliche zu glauben und dabei auch
ein zynisches «Hättest du gerne!» zu überhören.

Von: Esther Hürlimann

31. Mai

Du hast mir meine Klage verwandelt in einen Reigen,
du hast mir den Sack der Trauer ausgezogen und mich
mit Freude gegürtet.
Psalm 30,12


Genau dafür liebe ich die Psalmen: Weil sie einem manchmal so
überbordend euphorisch Worte einflössen können, als wären
sie ein Elixier, um uns glücklich zu machen. Kein Wunder, ist
Psalm 30 Bestandteil des täglichen jüdischen Morgengebets,
des Schacharit. Das tägliche Aufwachen zu verbinden mit der
Hoffnung auf Wandel, Umkehr oder einfach einen Neuanfang,
kann stärker wirken als der erste Espresso oder Fruchtsaft.
Der jüdische Gelehrte Maimonides, der im 17. Jahrhundert
den Vorschlag machte, Psalm 30 in das Morgengebet aufzunehmen,
hatte wohl die suggerierende Kraft dieser Sätze erkannt.
Er empfahl, sie «langsam und mit leidenschaftlichem Optimismus
» zu singen – als Vorbereitung auf alles, was noch kommt.
Wieso also den Tag mal nicht nur mit Koffein oder Vitaminen
beginnen, sondern einem Boost an Optimismus und Begeisterung,
welche Psalm 30 oder andere berührende Verse in uns
wecken?
Ich denke an eines meiner Lieblingslieder: «Morning has broken
» von Cat Stevens. Die erste Strophe dieses Songs hat eine
vergleichbar erweckende Kraft wie Davids Psalm:
Morning has broken like the first morning
Blackbird has spoken like the first bird
Praise for the singing, praise for the morning
Praise for them springing fresh from the world

Der Morgen ist angebrochen, wie der erste Morgen
Die Amsel hat gesprochen, wie der erste Vogel
Gelobt sei ihr Gesang, gelobt sei der Morgen
Gelobt seien sie, wie sie frisch und munter springen.

Von: Esther Hürlimann

14. Mai

Jesus spricht: Meine Schafe hören meine Stimme,
und ich kenne sie und sie folgen mir; und niemand
wird sie aus meiner Hand reissen.
Johannes 10,27.28


Es ist interessant, die Bibel als ein Buch der Beziehungen
zu lesen. Überspitzt gesagt, begegnen wir in den beiden
Testamenten einer unendlich grossen Bibliothek an Ratgeberliteratur,
die uns das Zusammenleben mit anderen Menschen
erklären möchte – mit dem Ziel, dieses so angenehm wie möglich
zu gestalten.
Wenn Jesus in der Bibel spricht, tut er – oder sein Autor – dies
nicht, weil er unser aller Leben zu einer Wohlfühloase machen
möchte. Er tut dies, um die Gesellschaft zu stabilisieren und
einen zivilisierten Umgang der Menschen untereinander zu
fördern – wie das eigentlich alle Religionen tun. Was aber in
diesem Johannes-Vers besonders gut zum Ausdruck kommt
und weshalb wir auch heute die Bibel noch mögen: Wir begegnen
hier immer wieder Menschen, die für das Gemeinwohl
Verantwortung übernehmen – nicht aus Machthunger oder
Prestige, sondern aus Fürsorge.
Das Bild des guten Hirten, aus dessen Perspektive Jesus hier
spricht, mag aus heutiger Sicht vielleicht etwas veraltet sein.
Doch symbolisiert es einen Umgang zwischen einem Menschen
und seinen Tieren, der auch heute noch eine positive Kraft auf
uns ausüben kann. Beide sind aufeinander angewiesen, wenn
auch aus einer ganz unterschiedlichen Position. Der Hirte führt
seine Herde aus Liebe und Kenntnis. Die Schafe folgen ihm aus
Freiheit. Deshalb haben es beide gut.
Dieses Modell einer achtsamen und fürsorglichen Beziehung
kann uns in verschiedenen Situationen des Alltags ein Vorbild
sein, sei es im Umgang mit Menschen in der Familie oder im
Beruf oder auch mit uns selbst.

Von: Esther Hürlimann

8. April

Christus wurde zwar getötet im Fleisch, lebendig gemacht aber im Geist. So ist er auch zu den Geistern im Gefängnis hinabgefahren und hat ihnen die Botschaft verkündigt. 1. Petrus 3,18–19

Die Kraft biblischer Texte entzieht sich uns heute lebenden
Menschen oft. Seit ihrer Entstehung und Niederschrift
hat sich unser Weltbild stark verändert. Unser Denken und
unser Fühlen sind geleitet von vielen neuen Kenntnissen und
Errungenschaften, die den Brückenschlag zum Glauben der
biblischen Menschen von damals erschweren. Zugleich liegt
darin aber auch ein Reiz. Wir müssen uns innerlich bewegen,
um zu diesem Geschehen eine Brücke zu schlagen und uns
davon berühren zu lassen. Aber auch ihr Befremden kann
eine Faszination auslösen, die sich sperrig oder unnahbar in
unseren Gedanken festsetzt.
Das Geschehen an Ostern gehört für mich seit jeher zu
jenen Geschichten in der Bibel, zu denen ich schwer Zugang
finde. Die Tatsache, dass darin die Essenz des christlichen
Glaubens liegt, lässt mich Jahr für Jahr rätseln, ja zweifeln, wie
sehr sich Menschen über Jahrhunderte in den Sog von Jesu
Tod und Auferstehung in den Bann ziehen liessen und heute
noch lassen. «Tot im Fleisch, lebendig aber im Geist» – der
Karsamstag verkörpert diesen Zweifel wie kein Tag sonst im
Jahr. Die Radikalität des Todes an Karfreitag ist unausweichlich;
die Auferstehung noch nicht greifbar. Dieser Schwebezustand
zwischen Körper und Geist, Leiden und Erlösung,
Abschied und Aufbruch, Gefangenschaft und Befreiung ist
wie eine Metapher für unser Leben. Der Zustand an Karsamstag
kann uns lehren, diese Spannung und Ungesichertheit
auszuhalten: Wir wissen nicht, was kommen wird, und
fühlen uns darin doch geborgen.

Von: Esther Hürlimann

31. März

Die Israeliten schrien zu dem HERRN, und der HERR
erweckte ihnen einen Retter, der sie errettete. Richter 3,9

Immer wieder im Leben kommen wir an persönliche Grenzen,
die uns eine Rettung herbeisehnen lassen: Eine Erkrankung,
ein Schicksalsschlag, eine ausweglos erscheinende
Situation im Alltag vermitteln uns das Gefühl von Ohnmacht
und Verzweiflung. Uns fehlt die Kraft oder einfach
alles in unseren eigenen Möglichkeiten Liegende, um uns
aus dieser Lage selbst rausmanövrieren zu können. Plötzlich
hören wir uns dann ein Stossgebet sagen – einen Hilferuf,
eine Klage – wenn auch mehr zu uns selbst als in Richtung
einer metaphysischen Kraft. Wir, die wir den Glauben an
eine göttliche Rettung ersetzt haben durch Leitsätze wie
«für jedes Problem gibt es eine Lösung», begeben uns dann
reflexartig in eine vernunftgesteuerte Handlungsspirale, die
uns in unserer Gewissheit festigt, selbst Herr der Lage zu sein.
Wir gehen zum Arzt, wir holen uns Hilfe oder Trost bei Menschen,
die uns dafür geeignet scheinen. Wir schicken uns
sozusagen unseren eigenen Retter, der uns Rettung bringt.
Zur Zeit, als das Buch der Richter geschrieben wurde, sahen
die Menschen in Gottes rettender Hand ein Zeichen, dass sie
sich seiner Gunst wieder zuwenden sollen. Vielleicht können
wir diese heute noch in uns wohnende irrationale Hoffnung
auf Rettung in schweren Momenten als ein Zeichen annehmen,
dass nicht alles in unseren Händen liegt. Dass wir die
Dinge ihrem Lauf überlassen müssen, ohne die Hoffnung auf
eine überraschende positive Wendung aufzugeben. Dass wir,
statt in einen Aktivismus zu verfallen, etwas einfach ruhen
lassen. Ist das nicht auch eine Entlastung?

Von: Esther Hürlimann