Autor: Esther Hürlimann

8. August

Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld,
Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit.

Galater 5,22–23

Kürzlich hörte ich ein Interview mit der deutschen Fernsehmoderatorin
Sandra Maischberger. Ich mag es, wie sie in
ihrer wöchentlichen Talkshow scharfsinnig den Polit- und
Geistesgrössen auf den Zahn fühlt und beharrlich-souverän
mit gegensätzlichen Meinungen jongliert. Daher war ich
neugierig, in diesem persönlichen Gespräch mehr über sie als
Mensch zu erfahren. Berührt und irgendwie überrascht hat
mich, als sie zum Schluss des Interviews sagte, dass sie nach
über dreissig Jahren Austritt wieder der Kirche beigetreten
sei. Auf die Frage, weshalb, antwortete sie sinngemäss: weil
sie erst jetzt realisiere, wie sehr die Kirche sie in ihrer geistigen
Haltung positiv geprägt habe.
Daran musste ich bei diesem starken Paulusvers an die Galater
denken, der uns an die Essenz des christlichen Glaubens
erinnert: Es sind weder Gebote noch Rituale, weder Gebete
noch Glaubenssätze, welche die christliche Identität ausmachen,
sondern es ist eine innere Haltung: die «Frucht des Geistes
». Paulus nennt verschiedene Qualitäten, die uns selbst,
vor allem aber auch unser Zusammenleben betreffen. Wenn
wir «Keuschheit» durch «Bescheidenheit» ersetzen, passt
das etwas besser in die heutige Zeit. Lassen wir uns heute
die Frucht einer göttlich beseelten Geistesvielfalt im Mund
zergehen und teilen wir etwas davon mit unseren Nächsten.

Von: Esther Hürlimann

31. Juli

Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für
uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.
Römer 5,8

Wenn ich die Frage, welches Buch ich mit auf die einsame
Insel mitnehmen würde, mit «die Bibel» beantworte, stosse
ich in der Regel auf Unverständnis: Wie kannst du die darin
vertretene Moral denn gut finden?! Wie kannst du dich mit
einer religiösen Doktrin identifizieren, in deren Namen so
viel Leid angerichtet wurde?! Die Bibel hat in meinem mehrheitlich
säkularen Umfeld kein gutes Image, was ich mit Blick
auf die nicht sehr ruhmhafte Kirchengeschichte nachvollziehen
kann. Und auch die Aktualität lässt uns erschaudern,
wenn wir sehen, wozu Fanatiker aller Religionen fähig sind.
So sehr ich das Unbehagen allem Religiösen gegenüber
verstehe, so sehr bin ich eine Verfechterin im Aushalten
meiner eigenen Ambivalenz gegenüber der Bibel und ihren
Botschaften. In diesem Spannungsfeld lese ich den Vers aus
dem Paulusbrief an die Römer. Logisch, niemand mag sich
heute noch als «Sünder» verstehen. Doch statt mich davon
abstossen zu lassen, wälze ich dieses befremdliche Wort in
mir und stelle mir Paulus vor, der von der Bedingungslosigkeit
der göttlichen Liebe redet. Trotz unserer Fehlbarkeit
haben wir Anspruch auf Wertschätzung. Trotz unserem
Unvermögen stehen uns Türen offen. Trotz unserem ramponierten
Selbstwertgefühl dürfen wir auf Verständnis, Zuwendung,
ja Liebe hoffen. Obwohl uns gerade diese gewaltige
Botschaft nicht einfach auf dem Serviertablett geboten wird:
Dafür mag ich die Bibel.

Von: Esther Hürlimann

8. Juni

Paulus schreibt: Obwohl meine leibliche Schwäche
euch eine Anfechtung war, habt ihr mich nicht
verachtet oder vor mir ausgespuckt, sondern mich
wie einen Engel Gottes aufgenommen, ja wie
Christus Jesus.
Galater 4,14

Der Text berührt in seiner Menschlichkeit. Paulus tritt hier
als weitgereister Missionar und charismatisches Vorbild vor
seine Gemeinde, doch ist er für alle sichtbar gesundheitlich
angeschlagen. Er schämt sich dafür und wäre auch nicht
erstaunt, wenn das Publikum als Geste der Verachtung vor
ihm auf den Boden spucken würden. Aber nein, sie empfangen
ihn «wie einen Engel Gottes».
Wir könnten nun Paulus unterstellen, dass er diesen Vers
als rhetorischen Kniff einsetzt, um der Gemeinde zu schmeicheln.
So im Sinne von: «Ihr seid ganz tolle Leute, weil ihr
mich nicht an meinem gebrechlichen Zustand, sondern
an meiner Botschaft messt.» Doch auch diese Sichtweise
berührt, denn stellen wir uns Paulus vor, den bewanderten
und gebildeten Apostel, der sehr wohl um sein Charisma
weiss, mit dem er zahlreiche christliche Gemeinden gründete
und Menschen bekehrte: Wie er sich zu seiner eigenen
Fragilität bekennt und seinen Zuhörerinnen und Zuhörern
für ihre Reaktion dankbar ist, führt mich zu einer mir kostbarsten
Essenz unserer christlichen Wurzeln: nämlich mich
täglich so anzunehmen, wie ich bin, und mich auch in meiner
Unvollkommenheit wertzuschätzen. Umgekehrt aber auch
den Mut aufzubringen, für die eigenen Blessuren einzustehen
und darauf zu vertrauen, dass es Menschen gibt, die
mich «wie einen Engel Gottes» aufnehmen.

Von: Esther Hürlimann

31. Mai

Alle, die dem HERRN widerstehen, werden zu ihm
kommen und beschämt werden.
Jesaja 45,24

Kürzlich hörte ich eine bekannte Literaturkritikerin über ein
Buch am Radio sagen: «Was mich am Autor stört, ist seine
religiöse und erbauliche Erzählweise.» Diese beiläufige Kritik
zeigt: Es gehört heute zum guten Ton, sich von allem Religiösen
und seinen Erzähltraditionen zu distanzieren. Der Widerstand
gegen eine Wahrhaftigkeit, die jenseits des Erklärlichen
steht, ist zum Courant normal geworden.
Zum Glück!, dürfen wir einerseits sagen. Vernunftbasiertes
Handeln und Denken ist eine grosse Errungenschaft für
unsere Zivilisation. Verschwörungstheorien und radikale
Religiosität lassen aber auch vermuten, dass wir in unserer
säkularen Gesellschaft das Kind zu sehr mit dem Bad ausgeschüttet
haben. Unsere Zeit erscheint mir in dieser Hinsicht
nicht viel anders als jene von Jesaja. Unsere Scham beim Blick
auf unsere Welt ist vergleichbar mit jener, die der Prophet
damals nannte. Wir Menschen haben in unserem Streben
nach immer mehr Wohlstand und Wachstum die Demut
gegenüber der Schöpfung verloren. In unserer Freude, unser
Leben frei nach unseren eigenen Werten zu gestalten –
zumindest auf unserem Kontinent – haben wir uns jener
religiös-moralischen
Leitlinien entledigt, wie sie die biblischen
Bücher über Generationen schufen. Auch wenn sie in
vielem kein zeitgemässer Kompass mehr sind, so erzählen
sie vom ethischen Anliegen, uns in etwas Übergeordnetes
einzufügen, das dem Wohlergehen unseres Planeten dient.

Von: Esther Hürlimann

8. April

Christus hat euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fussstapfen. 1. Petrus 2,21

Werde ich nach meinen Vorbildern gefragt, so trifft diese Frage voll ins Schwarze. Denn mein Leben ist voller Menschen, die mich inspirieren, motivieren und in mir etwas wecken, das ich ebenfalls erreichen und zum Blühen bringen möchte. Oder bei denen ich einen Umgang mit dem Leben beobachte, den ich als klug und nachahmenswert empfinde. Mehrheitlich handelt es sich um Menschen aus meinem persönlichen Umfeld: meine Grossmutter, die sich in einer beruflichen Männerdomäne einen Namen schuf. Meine Eltern, die sich so manchen gesellschaftlichen Konventionen entzogen und doch sozial engagiert sind. Dann natürlich Lehrerinnen und Lehrer, die mich mit ihrer Faszination für ihr Fachgebiet begeisterten und förderten.

Sicher gibt es auch Menschen des öffentlichen Lebens, die mich in ihren Bann ziehen. Interessanterweise habe ich mich noch nie gefragt: worin mir Christus ein Vorbild sein könnte. Vielleicht ist er einfach zu gross, zu weit entfernt oder zu abstrakt? Oder weil ich mir ein Leben mit Jesus als Vorbild zu demütig, ja unterwürfig und etwas freudlos vorstelle? Vielleicht aber auch, weil ich mir bisher meine Vorbilder zu sehr im äusseren Leben gesucht und mich nie gefragt habe, wo sich in meinem Inneren verborgene Spuren befinden, die zu einem ganz eigenen Vorbild führen könnten? Wieso also heute nicht einmal nach Fussstapfen suchen, die hin zu meiner eigenen Essenz führen, worin ich für mich selbst Inspiration und damit vielleicht auch für andere Vorbild sein könnte?

Von: Esther Hürlimann

31. März

Ich will die Finsternis vor ihnen her zum Licht machen und das Höckrige zur Ebene. Jesaja 42,16

Ostern! Kein Tag im christlichen Kalenderjahr ist von so wuchtiger Bedeutung. Die Auferstehung Jesu ist die Essenz unseres Glaubens. Und jedes Jahr habe ich das Gefühl, die barocken Fanfaren des Oster-Oratoriums ein wenig auch in unserer säkularen Welt klingen zu hören. Ich empfinde an diesem Tag jeweils eine festliche Verbundenheit mit meiner christlichen Identität. Die ganze Fülle ist da: Erlösung, Verwandlung, Glück, Liebe. Finsternis wird zu Licht. Höckriges wird zur Ebene. Jedes Leid hat ein Ende. Alles wird gut!

Doch schleichen sich in diesen wundervollen österlichen Lobgesang auf all die kraftvollen Dinge unseres Glaubens auch Wolken voller Rätsel. Wie die ratlosen Angehörigen vor dem leeren Grab frage ich mich angetrieben von unserer glaubensfernen Vernunft: Vielleicht war die Folterung am Kreuz gar nicht das Lebensende von Jesus von Nazareth? Waren da nicht doch heimliche Retter im Spiel, die den vermeintlichen Messias lebend ins Ausland schmuggelten? Das leere Grab nur eine raffinierte Inszenierung?

Anerkenne ich Ostern als Moment, in dem ich ganz bewusst meinen christlichen Glauben feiern möchte, so lege ich an diesem Tag all diese Fragen für einmal in ein symbolisches Grab. Ich probiere es, dieses Wunder der Auferstehung auf mich wirken zu lassen, sodass Unerkanntes und Verborgenes aufleben kann. Das tolle Jesajawort ebnet dafür den Weg, um finstere Wolken und höckrige Böden zu passieren und diese Verwandlung zu neuem Sein in uns zu feiern.

Von: Esther Hürlimann

30. März

Der Herr macht sich auf, dass er sich euer erbarme. Jesaja 30,18

Gott rettet, die aufs falsche Pferd setzten. Gott erbarmt sich über die, die lieber eine Versicherung zu viel abschliessen. Er erbarmt sich über jene, die Vertrauen durch Kontrolle ersetzen, Gutmütigkeit mit erhöhter Alarmbereitschaft vertauschen und ihren eigenen Lebensraum beschneiden, um sich sicherer zu fühlen.

Noch ist Gott nicht da. Er ist erst daran, sich aufzumachen. Es braucht noch ein wenig Geduld, bis sein Erbarmen Früchte trägt in meinem bedrohten Alltag.

Sein Erbarmen brauche ich in der Tat, in meinem hasenfüssigen Leben und meiner Unfähigkeit, zu wissen, was übermorgen ist. Jesaja schreibt, als zöge mir Gott meinen schönen Teppich unter den Füssen weg, der mir Sicherheit gibt und den Bereich abgrenzt, den ich gerade noch so zu überschauen vermag. Gott lockt mich ins Weite, indem er mir die Vergeblichkeit meiner Bemühungen vor Augen führt, das, was zählt, wirklich im Griff zu haben. Selbstverständlich hoffe ich, die mir anvertrauten beruflichen Aufgaben zur Zufriedenheit der Auftraggeberin zu erfüllen. Es geht bei dem, was Gott mir mit Hilfe von Jesaja ausrichtet, um das grosse Ganze; das, worauf ich setze und wonach ich mich richte. Jesaja bewahrt mich davor, zu klein zu denken von Gott und zu kleinräumig vom Leben, das er mir anvertraute. Ich soll es nicht kaputtsorgen. Darum hoffe ich sehr, dass er heute rechtzeitig eintrifft.

Von: Esther Hürlimann

8. Februar

Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. Klagelieder 3,26

Gäbe es in der Bibel Ironie, würden wir diesen Text aufs Erste vielleicht mit einem leicht hämischen Grinsen lesen. Was soll denn daran «köstlich» sein, geduldig und hoffend auf Hilfe zu warten!? Will uns da jemand auf den Arm nehmen?
So bleibt ein Stirnrunzeln, und ich drehe und wende den Satz in mir, um einen Sinn darin zu erkennen. Doch wie so oft in der Bibel erschliesst sich dieser Sinn mir erst, wenn ich von mir wegdenke und -fühle. Verbinde ich für mich persönlich das Wort «köstlich» doch mit Genuss und Sinnesfreude, das allem gilt, was sich mir gegenwärtig und konkret manifestiert, gehören Geduld und Hoffnung hingegen in eine ganz andere Sphäre.
Sind wir dazu aufgefordert, geduldig und hoffnungsvoll zu sein, gleicht das eher einem Vakuum. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen und ganz allein mit unserem Selbstvertrauen, bis etwas konkret wird, worauf wir warten oder sogar bangen. In der Geduld und Hoffnung begegnen wir auf intensive Weise uns selbst – mit allen Wunden und Wünschen; mit all unseren Stärken und Schwächen. So betrachtet, lese ich diesen kurzen Vers plötzlich als eine Ermunterung, mich selbst in der Schwebe des Ungewissen und Abwartens auszukosten und in meiner inneren Leere ganz ohne Ablenkung und Bewertung etwas zu schwelgen. Das nehme ich mir für heute vor.

Von: Esther Hürlimann

31. Dezember

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit grosser Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Jesaja 54,7

Wir befinden uns am Ende eines Jahres. Die Bezeichnung «Silvester» geht zwar auf den Namen eines Papstes zurück, doch der kalendarisch letzte Tag im Jahr hat keinen Bezug zur Bibel. Dennoch erleben viele Menschen den Jahreswechsel als einen Moment von besonderer Sinnhaftigkeit, ja Spiritualität. Das vergangene Jahr wird auf seine Höhe- und Tiefpunkte nochmals aufgerollt, für das neue Jahr formulieren wir Vorsätze, die wir mit Horoskopen oder anderen Prognosen in Einklang bringen. In all diesem Tun spiegelt sich der Wunsch, unser eigenes Leben in diesem Moment des Übergangs in einem grösseren Ganzen geborgen zu wissen.
Wie passend ist dazu der heutige Losungstext. Selbst in unserer säkularen Welt, die eher auf das menschliche Handeln baut als auf Gottvertrauen, klingt dieses «mit grosser Barmherzigkeit will ich dich sammeln» wie Musik für unsere Ohren. Wenn wir heute um Mitternacht in Gesellschaft oder einfach nur für uns allein den Glockenschlag hören, werden wir diesen kurzen Augenblick des Verlassenseins fühlen, der uns bewusst macht, dass wir in den grossen Übergängen des Lebens allein sind. Um uns sogleich mit Korkenknallen, Feuerwerksgewitter und Glockengeläut wachzurütteln: Wir sind umfangen von Gemeinschaft und einer universellen Kraft. In diesem Sinn wünsche ich uns allen heute Abend einen Augenblick des Loslassens im Vertrauen auf eine grosse Barmherzigkeit, die uns für einen Neubeginn sammelt und begleitet.

Von: Esther Hürlimann

8. Dezember

Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Jesaja 43,18–19

Wie schön ist es, aufzuwachen und sich auf den Tag zu freuen. Vielleicht haben wir uns etwas vorgenommen, das wir mit Spannung erwarten. Vielleicht liegt eine Begegnung vor uns, die uns beglückt. Doch nach ein paar Atemzügen kommen uns all die unerledigten Dinge in den Sinn. Ungelöste Probleme, die auf unseren Schultern lasten. Körperliche Beschwerden, die unser Alltagsbefinden beeinträchtigen. Jesaja rennt daher bei uns offene Türen ein mit seinem «Gedenkt nicht an das Frühere». Wie gerne würden wir oft gedankenlos in den Tag hüpfen, als gäbe es kein Gestern. Wie gerne wären wir manchmal geschichtslose Wesen, die nur den Moment geniessen.
Doch leider oder auch zum Glück «funktioniert» unser Denken und Fühlen nicht so. Unser ganzes Wesen lässt uns Tag für Tag spüren, dass wir Gewordene und Geprägte sind – sei es aus eigenem Handeln, aber auch unverschuldet. Wir fühlen uns verantwortlich für uns selbst und für unsere Mitmenschen. Manchmal zu sehr, sodass wir gelähmt, ja hoffnungslos sind. Erst recht in Zeiten, wo neben der persönlichen Last auch globale Themen wie der Klimawandel, die wirtschaftliche Unsicherheit, ja politische Spannungen uns Sorgen machen.
Genau aus dieser unsicheren Stimmung heraus ist Jesajas Aufruf an die Israeliten entstanden. Lassen wir uns heute von diesen prophetischen Worten beflügeln, um «etwas Neues zu schaffen». Und zwar nicht, indem wir das Gestern vergessen, sondern verantwortlich mit ihm umgehen. So hat unser Aufwachen auch etwas von einem «jetzt wächst es auf».

von: Esther Hürlimann