Der Sohn sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt
gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht
mehr wert, dass ich dein Sohn heisse. Aber der Vater
sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste
Gewand her und zieht es ihm an.
Lukas 15,21–22

Wir befinden uns mitten im Happy End des Gleichnisses
vom verlorenen Sohn. Dieser ist vor den Erwartungen des
Elternhauses geflohen und steht nun reumütig vor der Tür:
elend, heruntergekommen, von schlechtem Gewissen gepeinigt.
Doch den Vater kümmert dies nicht. Für ihn zählt einzig
die Erleichterung darüber, das verloren geglaubte Kind wieder
vor sich zu haben. In euphorischem Überschwang lässt er den
Junior nett kleiden und richtet ein Fest aus. Kein Wort von
Tadel und Strafe. Pure Freude: Ich bin so froh, bist du wieder da.
Kein biblischer Text beschreibt die Bedingungslosigkeit der
elterlichen Liebe so wunderschön wie diese Szene, die schon
viele Künstlerinnen und Künstler inspirierte. Als beliebter Predigttext
beschreibt er bildhaft das göttliche Erbarmen. Also
alles gut? Nein, denn da gibt es noch den älteren Sohn. Er, der
brav daheimblieb und sich jetzt mitansehen muss, wie der
Ausreisser abgefeiert wird. Dadurch wird er zum eigentlichen
Protagonisten,
weil er uns aufzeigt, dass bedingungslose Liebe
über unserem Gerechtigkeitssinn steht. Diese Liebe unterliegt
nicht einer simplen Logik von Geben und Nehmen nach
menschlichem Ermessen. Daher ist sie oft für uns unergründbar,
sei es im Schmerz oder im Glück. Doch dies auszuhalten,
macht sie umso kostbarer.

Von: Esther Hürlimann