Schlagwort: Esther Hürlimann

8. April

Christus hat euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fussstapfen. 1. Petrus 2,21

Werde ich nach meinen Vorbildern gefragt, so trifft diese Frage voll ins Schwarze. Denn mein Leben ist voller Menschen, die mich inspirieren, motivieren und in mir etwas wecken, das ich ebenfalls erreichen und zum Blühen bringen möchte. Oder bei denen ich einen Umgang mit dem Leben beobachte, den ich als klug und nachahmenswert empfinde. Mehrheitlich handelt es sich um Menschen aus meinem persönlichen Umfeld: meine Grossmutter, die sich in einer beruflichen Männerdomäne einen Namen schuf. Meine Eltern, die sich so manchen gesellschaftlichen Konventionen entzogen und doch sozial engagiert sind. Dann natürlich Lehrerinnen und Lehrer, die mich mit ihrer Faszination für ihr Fachgebiet begeisterten und förderten.

Sicher gibt es auch Menschen des öffentlichen Lebens, die mich in ihren Bann ziehen. Interessanterweise habe ich mich noch nie gefragt: worin mir Christus ein Vorbild sein könnte. Vielleicht ist er einfach zu gross, zu weit entfernt oder zu abstrakt? Oder weil ich mir ein Leben mit Jesus als Vorbild zu demütig, ja unterwürfig und etwas freudlos vorstelle? Vielleicht aber auch, weil ich mir bisher meine Vorbilder zu sehr im äusseren Leben gesucht und mich nie gefragt habe, wo sich in meinem Inneren verborgene Spuren befinden, die zu einem ganz eigenen Vorbild führen könnten? Wieso also heute nicht einmal nach Fussstapfen suchen, die hin zu meiner eigenen Essenz führen, worin ich für mich selbst Inspiration und damit vielleicht auch für andere Vorbild sein könnte?

Von: Esther Hürlimann

31. März

Ich will die Finsternis vor ihnen her zum Licht machen und das Höckrige zur Ebene. Jesaja 42,16

Ostern! Kein Tag im christlichen Kalenderjahr ist von so wuchtiger Bedeutung. Die Auferstehung Jesu ist die Essenz unseres Glaubens. Und jedes Jahr habe ich das Gefühl, die barocken Fanfaren des Oster-Oratoriums ein wenig auch in unserer säkularen Welt klingen zu hören. Ich empfinde an diesem Tag jeweils eine festliche Verbundenheit mit meiner christlichen Identität. Die ganze Fülle ist da: Erlösung, Verwandlung, Glück, Liebe. Finsternis wird zu Licht. Höckriges wird zur Ebene. Jedes Leid hat ein Ende. Alles wird gut!

Doch schleichen sich in diesen wundervollen österlichen Lobgesang auf all die kraftvollen Dinge unseres Glaubens auch Wolken voller Rätsel. Wie die ratlosen Angehörigen vor dem leeren Grab frage ich mich angetrieben von unserer glaubensfernen Vernunft: Vielleicht war die Folterung am Kreuz gar nicht das Lebensende von Jesus von Nazareth? Waren da nicht doch heimliche Retter im Spiel, die den vermeintlichen Messias lebend ins Ausland schmuggelten? Das leere Grab nur eine raffinierte Inszenierung?

Anerkenne ich Ostern als Moment, in dem ich ganz bewusst meinen christlichen Glauben feiern möchte, so lege ich an diesem Tag all diese Fragen für einmal in ein symbolisches Grab. Ich probiere es, dieses Wunder der Auferstehung auf mich wirken zu lassen, sodass Unerkanntes und Verborgenes aufleben kann. Das tolle Jesajawort ebnet dafür den Weg, um finstere Wolken und höckrige Böden zu passieren und diese Verwandlung zu neuem Sein in uns zu feiern.

Von: Esther Hürlimann

30. März

Der Herr macht sich auf, dass er sich euer erbarme. Jesaja 30,18

Gott rettet, die aufs falsche Pferd setzten. Gott erbarmt sich über die, die lieber eine Versicherung zu viel abschliessen. Er erbarmt sich über jene, die Vertrauen durch Kontrolle ersetzen, Gutmütigkeit mit erhöhter Alarmbereitschaft vertauschen und ihren eigenen Lebensraum beschneiden, um sich sicherer zu fühlen.

Noch ist Gott nicht da. Er ist erst daran, sich aufzumachen. Es braucht noch ein wenig Geduld, bis sein Erbarmen Früchte trägt in meinem bedrohten Alltag.

Sein Erbarmen brauche ich in der Tat, in meinem hasenfüssigen Leben und meiner Unfähigkeit, zu wissen, was übermorgen ist. Jesaja schreibt, als zöge mir Gott meinen schönen Teppich unter den Füssen weg, der mir Sicherheit gibt und den Bereich abgrenzt, den ich gerade noch so zu überschauen vermag. Gott lockt mich ins Weite, indem er mir die Vergeblichkeit meiner Bemühungen vor Augen führt, das, was zählt, wirklich im Griff zu haben. Selbstverständlich hoffe ich, die mir anvertrauten beruflichen Aufgaben zur Zufriedenheit der Auftraggeberin zu erfüllen. Es geht bei dem, was Gott mir mit Hilfe von Jesaja ausrichtet, um das grosse Ganze; das, worauf ich setze und wonach ich mich richte. Jesaja bewahrt mich davor, zu klein zu denken von Gott und zu kleinräumig vom Leben, das er mir anvertraute. Ich soll es nicht kaputtsorgen. Darum hoffe ich sehr, dass er heute rechtzeitig eintrifft.

Von: Esther Hürlimann

8. Februar

Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. Klagelieder 3,26

Gäbe es in der Bibel Ironie, würden wir diesen Text aufs Erste vielleicht mit einem leicht hämischen Grinsen lesen. Was soll denn daran «köstlich» sein, geduldig und hoffend auf Hilfe zu warten!? Will uns da jemand auf den Arm nehmen?
So bleibt ein Stirnrunzeln, und ich drehe und wende den Satz in mir, um einen Sinn darin zu erkennen. Doch wie so oft in der Bibel erschliesst sich dieser Sinn mir erst, wenn ich von mir wegdenke und -fühle. Verbinde ich für mich persönlich das Wort «köstlich» doch mit Genuss und Sinnesfreude, das allem gilt, was sich mir gegenwärtig und konkret manifestiert, gehören Geduld und Hoffnung hingegen in eine ganz andere Sphäre.
Sind wir dazu aufgefordert, geduldig und hoffnungsvoll zu sein, gleicht das eher einem Vakuum. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen und ganz allein mit unserem Selbstvertrauen, bis etwas konkret wird, worauf wir warten oder sogar bangen. In der Geduld und Hoffnung begegnen wir auf intensive Weise uns selbst – mit allen Wunden und Wünschen; mit all unseren Stärken und Schwächen. So betrachtet, lese ich diesen kurzen Vers plötzlich als eine Ermunterung, mich selbst in der Schwebe des Ungewissen und Abwartens auszukosten und in meiner inneren Leere ganz ohne Ablenkung und Bewertung etwas zu schwelgen. Das nehme ich mir für heute vor.

Von: Esther Hürlimann

31. Dezember

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit grosser Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Jesaja 54,7

Wir befinden uns am Ende eines Jahres. Die Bezeichnung «Silvester» geht zwar auf den Namen eines Papstes zurück, doch der kalendarisch letzte Tag im Jahr hat keinen Bezug zur Bibel. Dennoch erleben viele Menschen den Jahreswechsel als einen Moment von besonderer Sinnhaftigkeit, ja Spiritualität. Das vergangene Jahr wird auf seine Höhe- und Tiefpunkte nochmals aufgerollt, für das neue Jahr formulieren wir Vorsätze, die wir mit Horoskopen oder anderen Prognosen in Einklang bringen. In all diesem Tun spiegelt sich der Wunsch, unser eigenes Leben in diesem Moment des Übergangs in einem grösseren Ganzen geborgen zu wissen.
Wie passend ist dazu der heutige Losungstext. Selbst in unserer säkularen Welt, die eher auf das menschliche Handeln baut als auf Gottvertrauen, klingt dieses «mit grosser Barmherzigkeit will ich dich sammeln» wie Musik für unsere Ohren. Wenn wir heute um Mitternacht in Gesellschaft oder einfach nur für uns allein den Glockenschlag hören, werden wir diesen kurzen Augenblick des Verlassenseins fühlen, der uns bewusst macht, dass wir in den grossen Übergängen des Lebens allein sind. Um uns sogleich mit Korkenknallen, Feuerwerksgewitter und Glockengeläut wachzurütteln: Wir sind umfangen von Gemeinschaft und einer universellen Kraft. In diesem Sinn wünsche ich uns allen heute Abend einen Augenblick des Loslassens im Vertrauen auf eine grosse Barmherzigkeit, die uns für einen Neubeginn sammelt und begleitet.

Von: Esther Hürlimann

8. Dezember

Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Jesaja 43,18–19

Wie schön ist es, aufzuwachen und sich auf den Tag zu freuen. Vielleicht haben wir uns etwas vorgenommen, das wir mit Spannung erwarten. Vielleicht liegt eine Begegnung vor uns, die uns beglückt. Doch nach ein paar Atemzügen kommen uns all die unerledigten Dinge in den Sinn. Ungelöste Probleme, die auf unseren Schultern lasten. Körperliche Beschwerden, die unser Alltagsbefinden beeinträchtigen. Jesaja rennt daher bei uns offene Türen ein mit seinem «Gedenkt nicht an das Frühere». Wie gerne würden wir oft gedankenlos in den Tag hüpfen, als gäbe es kein Gestern. Wie gerne wären wir manchmal geschichtslose Wesen, die nur den Moment geniessen.
Doch leider oder auch zum Glück «funktioniert» unser Denken und Fühlen nicht so. Unser ganzes Wesen lässt uns Tag für Tag spüren, dass wir Gewordene und Geprägte sind – sei es aus eigenem Handeln, aber auch unverschuldet. Wir fühlen uns verantwortlich für uns selbst und für unsere Mitmenschen. Manchmal zu sehr, sodass wir gelähmt, ja hoffnungslos sind. Erst recht in Zeiten, wo neben der persönlichen Last auch globale Themen wie der Klimawandel, die wirtschaftliche Unsicherheit, ja politische Spannungen uns Sorgen machen.
Genau aus dieser unsicheren Stimmung heraus ist Jesajas Aufruf an die Israeliten entstanden. Lassen wir uns heute von diesen prophetischen Worten beflügeln, um «etwas Neues zu schaffen». Und zwar nicht, indem wir das Gestern vergessen, sondern verantwortlich mit ihm umgehen. So hat unser Aufwachen auch etwas von einem «jetzt wächst es auf».

von: Esther Hürlimann

31. Oktober

Der Sohn sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt
gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht
mehr wert, dass ich dein Sohn heisse. Aber der Vater
sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste
Gewand her und zieht es ihm an.
Lukas 15,21–22

Wir befinden uns mitten im Happy End des Gleichnisses
vom verlorenen Sohn. Dieser ist vor den Erwartungen des
Elternhauses geflohen und steht nun reumütig vor der Tür:
elend, heruntergekommen, von schlechtem Gewissen gepeinigt.
Doch den Vater kümmert dies nicht. Für ihn zählt einzig
die Erleichterung darüber, das verloren geglaubte Kind wieder
vor sich zu haben. In euphorischem Überschwang lässt er den
Junior nett kleiden und richtet ein Fest aus. Kein Wort von
Tadel und Strafe. Pure Freude: Ich bin so froh, bist du wieder da.
Kein biblischer Text beschreibt die Bedingungslosigkeit der
elterlichen Liebe so wunderschön wie diese Szene, die schon
viele Künstlerinnen und Künstler inspirierte. Als beliebter Predigttext
beschreibt er bildhaft das göttliche Erbarmen. Also
alles gut? Nein, denn da gibt es noch den älteren Sohn. Er, der
brav daheimblieb und sich jetzt mitansehen muss, wie der
Ausreisser abgefeiert wird. Dadurch wird er zum eigentlichen
Protagonisten,
weil er uns aufzeigt, dass bedingungslose Liebe
über unserem Gerechtigkeitssinn steht. Diese Liebe unterliegt
nicht einer simplen Logik von Geben und Nehmen nach
menschlichem Ermessen. Daher ist sie oft für uns unergründbar,
sei es im Schmerz oder im Glück. Doch dies auszuhalten,
macht sie umso kostbarer.

Von: Esther Hürlimann

8. Oktober

Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land;
mir ist ein schönes Erbteil geworden.
Psalm 16,6

Wenn das nicht gut klingt: Ich ziehe an der Tombola ein
Los, auf dem steht: «Liebliches Land gewonnen.» Doch
schnell bemerke ich den Haken. Alle anderen um mich
herum erhalten Preise wie «Luxuriöses Chalet in den Bergen,
Villa am Meer mit Swimmingpool, Loftwohnung an
urbaner Toplage …». Ich bin irritiert und frage mich: Habe
ich nun gewonnen oder verloren? Genau so muss sich Levi
vorgekommen sein, als sein Vater Jakob mittels Los sein Land
an seine zwölf Söhne aufteilte, er aber leer ausging. Stattdessen
erhielten Levi und sein Stamm das spirituelle Erbe, als
Priestergeschlecht für alle übrigen Israeliten da zu sein. Kein
Landbesitz für ihn, sondern der Dienst an Gott.
Psalm 16 nimmt mich mit in dieses Erleben von Levi, dessen
unmittelbare Reaktion zwar nicht überliefert ist, der sich an
diesem immateriellen Erbe aber zu freuen scheint. Ein Erbe,
das ebenfalls Zuwendung und Verantwortung bedeutet, denn
auch «liebliches Land» will gehegt und gepflegt werden. Lasst
uns den heutigen Tag so erleben, als hätten wir Levis Los gezogen.
Lasst uns heute nicht nach links und nicht nach rechts
schauen, sondern unser eigenes liebliches Land entdecken und
uns an unseren eigenen inneren Pflanzen erfreuen. Lasst uns
heute auf unser eigenes spirituelles und kulturelles Erbe fokussieren,
das uns am Herzen liegt, und es als liebliches Land erfahren:
ein Raum, der mir Tag für Tag den Boden verleiht, geistig
zu wachsen und meinen Hunger nach Sinnerfahrung zu stillen.

Von: Esther Hürlimann

8. August

Dienet einander, ein jeder mit der Gabe,
die er empfangen hat, als die guten Haushalter
der mancherlei Gnade Gottes.
1. Petrus 4,10

Ganz ehrlich: Manchmal wünschte ich mir, die hier verwendeten
Bibelverse würden nicht der Luther-Bibel entnommen,
sondern einer Übersetzung, die den Menschen von heute
etwas mehr «aufs Maul schaut». Manchmal bin ich aber
auch verzückt ob ihrer altertümlichen Schönheit, die eine
besondere Poesie und Innigkeit vermittelt. So ergeht es mir
mit der «mancherlei Gnade Gottes».
Gnade ist für uns ja sowieso ein schwer zugänglicher Begriff
geworden, weil wir darin etwas Hierarchisches, ja Gönnerhaftes
lesen. Kein Geben und Nehmen auf Augenhöhe, sondern
eine Gabe von oben herab. So viel sympathischer wirkt
hingegen diese «mancherlei Gnade». Mit dieser simplen,
auch etwas lustig klingenden Zugabe wird dieses göttliche
Wirken auf Erden plötzlich sehr viel leichter und vielseitiger,
ja fröhlicher. Es ist ein bisschen wie ein Konfettiregen, der
vom Himmel fällt und die Menschen in ihrer Buntheit feiern
lässt und sie vereint.
Passend zum Anfang des überhaupt sehr schönen Verses
spiegelt sich in dieser mancherlei Gnade Gottes das
Mancherlei der menschlichen Gaben. Und so bekommt
diese etwas aus der Zeit gefallene Formulierung etwas sehr
Modernes. Niemand ist gleich. Alle Menschen sind einzigartig
und doch in einem göttlichen Mancherlei vereint.

Von: Esther Hürlimann

31. Juli

Jesus spricht zu Nikodemus: Wundere dich nicht,
dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren
werden.
Johannes 3,7

Die Auslegung eines einzelnen Bibelverses ist Faszination
und Herausforderung zugleich. Indem wir den Kontext ausblenden,
können wir uns dafür umso mehr auf dessen Essenz
konzentrieren und der geheimnisvollen Wucht eines einzelnen
Satzes nachgehen. Wir befinden uns hier in einem
Dialog. Jesus hat seinem Gesprächspartner das Wesen seiner
Philosophie erklärt. Dieser reagiert irritiert oder sogar
kritisch. Worauf Jesus so gar nicht «Jesus-like» antwortet:
Hey, hast du dir schon mal überlegt, all das, was du bisher
geglaubt hast, über den Haufen zu werfen und aus einer
komplett neuen Perspektive zu betrachten?
Was Jesus da zu Nikodemus sagt, spricht mich mitsamt seinem
Tonfall an. Unserer Welt täte es aktuell sehr gut, wir
würden einander alarmierter zureden. Wenn ich etwa an
den Klimawandel denke, so wünschte ich mir, Politik und
Wissenschaft würden vermehrt in Imperativen reden und
ihre Stimmen deutlicher erheben – ohne die Hoffnungs-
losigkeit zu triggern. Wie das gehen könnte, zeigt uns Jesus. Im
Bild der neuen Geburt zeigt er uns eine Chance. Kein «Nach
euch die Sintflut!». Kein Heraufbeschwören einer Endzeitstimmung.
Kein panischer Appell zu Aktivismus, sondern einfach:
Ihr müsst euch selbst verändern. Nur wenn wir an eine
stetige Erneuerung unserer selbst glauben und daran Tag für
Tag arbeiten, werden wir neue Wege einschlagen. Dort, wo
es nottut.

Von: Esther Hürlimann