Der HERR spricht: Wen hast du gescheut und
gefürchtet, dass du treulos wurdest und nicht an
mich dachtest?
Jesaja 57,11

Die prophetische Wutrede prangert alles an, was den Menschen
auf die schiefe Bahn bringt. Auf die Aufzählung der
gesellschaftlichen Missstände folgt die Verurteilung der kultischen
Vergehen.
Das schlimmste Verbrechen scheint allerdings die Gottvergessenheit.
Diese Treulosigkeit führt direkt ins schutzlose
Verderben: «Wenn du schreist, sollen die dich retten, die du
dir angesammelt hast; der Wind aber wird sie alle forttragen,
ein Hauch wir sie hinwegnehmen.» (Jesaja 57,13) Unverhofft
schaltet sich nun eine andere Stimme ein. Sie spricht von
einem «Heiligen», der «in der Höhe» wohnt und dennoch
mitten in der Welt präsent ist, «um den Geist der Erniedrigten
zu beleben und das Herz der Zerschlagenen zu beleben»
(Jesaja 57,15). Allerdings erscheint Gott als Tröster und Täter
zugleich. Er legt ein Geständnis ab: «Über die Schuld, über
ihre Habsucht war ich zornig, so dass ich sie geschlagen
habe.» (Jesaja 57,17) Sein Zorn verraucht. Die Abtrünnigkeit
will er «mit Tröstungen vergelten». (Jesaja 57,18)
Der kunstvoll komponierte Text erzählt von einem Gott,
der aus enttäuschter Liebe zornig zu werden schien und
gerade aufgrund dieser Liebe die Türe trotz allem nie
zuschlägt, sondern sich immer wieder neu auf die Menschen
zubewegt.

Von: Felix Reich