Schlagwort: Felix Reich

31. Januar

Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes. Lukas 1,46–47

Kunstvoll verdichtet Lukas im Magnificat, worum es im Evangelium geht. Zuerst beschreibt Maria ihre persönliche Situation und hebt an zum reinen Gotteslob. Doch bei sich selbst bleibt sie nicht stehen und nimmt sogleich das Kollektiv in den Blick. Noch vor der Geburt Jesu formulieren Elisabeth und Maria das erste christliche Glaubensbekenntnis.
Maria erzählt von einem Gott, der barmherzig ist und sich auf die Seite der Schwachen und Ausgestossenen stellt, der die Hungrigen sättigen und die Kranken heilen will. Von einem Gott aber auch, der die Macht der Mächtigen bricht, den Hochmut bekämpft und die Gier der Reichen anprangert. Und von einem Gott, der die von seinem Geist erfüllten Menschen dazu anstiften will, selbst die Gegensätze zwischen Arm und Reich, Unten und Oben auszugleichen und das Unrecht zu bekämpfen, Gemeinschaft zu stiften, wo Spaltung und Einsamkeit herrschen.
Es sind die roten Fäden des Glaubens, die im Magnificat zusammenlaufen und miteinander verknüpft werden: der Trost, den Jesus zuspricht, und die Nachfolge, zu der seine frohe Botschaft aufruft.

Von: Felix Reich

30. Januar

Da brachten Männer einen Gelähmten auf einer
Trage herbei. Sie wollten ihn in das Haus bringen und vor Jesus niederlegen.
Lukas 5,18

Wenn ich die Stelle lese, sehe ich die Bilder von Kees de Kort. Oft sass ich als Kind im Flur, wo das bis zur Decke reichende Regal mit den Bilderbüchern stand, und blätterte mich durch biblische Geschichten. Ich sehe, wie die Freunde den Gelähmten durch das Dach zu Jesus hinunterlassen. Wie der Geheilte aufsteht, seine Matte nimmt und geht. Die Geschichte handelt vom Wunder der Heilung, von dem ich schon als Kind wusste, dass es sich selten so einstellt wie im Bilderbuch.
Wunder, die ich erlebe, sind flüchtig. Momente, in denen in einem Menschen eine aufrichtende Kraft spürbar wird mitten in der Angst, eine lichtvolle Begegnung möglich wird im Meer des Vergessens, die im Herzen aufbewahrt bleibt, obwohl das Gedächtnis längst nichts mehr festzuhalten vermag.
Vielleicht lässt sich die Erzählung vom Geheilten ja auch vor dem Hintergrund solch kleiner Wunder lesen: Ich nehme sie wahr im Wissen, dass sie keine dauerhafte Linderung bringen, und dennoch in der Hoffnung, dass sie noch leuchten, wenn die Verzweiflung alles verdunkelt. Und so will ich nach dem nächsten Wundermoment den Mut finden zu sagen: «Unglaubliches haben wir heute gesehen.» (Lukas 5,26)

Von: Felix Reich

29. Dezember

Erfüllt ist die Zeit, und nahe gekommen das Reich Gottes. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! Markus 1,15

Wir leben in apokalyptischen Zeiten. Krieg, Klimakatastrophe und die ungerechte Verteilung des Wohlstands nähren die Angst, dass die Zeit sich zwar nicht erfüllt hat, aber dass sie abgelaufen ist. Nicht etwa, weil Gott die Welt untergehen lässt, sondern weil der Mensch dazu fähig geworden ist, die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören. Ein Gedanke, der biblischen Autoren, die sich oft in einer Endzeit oder zumindest in einer Zeitenwende wähnen, völlig fremd ist.

Dass es nicht so weitergehen kann und Umkehr nottut, gehört zu den Einsichten, die in jedem Klimabericht nachzulesen sind. Anders als in apokalyptischen Texten in der Bibel, wo die Katastrophe als Durchgangsstation zum Heil verstanden wird und die Gerechten auf Rettung hoffen dürfen, trifft die Klimakatastrophe allerdings zuerst jene, die sie am wenigsten verursacht haben.
Der biblische Ruf hat nichts an Dringlichkeit verloren. Den Glauben daran, dass Verzicht und Rücksichtnahme möglich und Ausbeutung und Gewalt keine Naturgesetze sind, hat die Welt nötiger denn je. Überall, wo dieser Glaube in die Tat umgesetzt wird, scheint etwas vom Reich Gottes auf. Und in solchen Momenten leuchtet die Hoffnung auf, dass das Reich Gottes so nahe ist, wie es das Evangelium verheisst.

von: Felix Reich

30. November

Euch, die ihr meinen Namen fürchtet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit und Heil unter ihren Flügeln. Maleachi 3,20

Die Sonne der Gerechtigkeit wärmt und verheisst Geborgenheit unter ihren Flügeln, macht heil, was zerbrochen ist. Doch noch leuchtet sie nicht. Das Unrecht des Stärkeren setzt sich durch. Gerissenheit wird belohnt. «Es scheint vergeblich, Gott zu dienen.» (Maleachi 3,14) Die Erfahrung, dass unter die Räder kommt, wer sich dem Frieden und der Versöhnung verschreibt, wendet der biblische Text ins Versprechen, dass Gott nicht vergisst. Und wenn er die Sonne der Gerechtigkeit dann eines Tages aufgehen lässt, wärmt und schützt sie nicht nur die Gerechten, sie versengt auch das Unrecht. Die Unterjochten, die Gott die Treue halten, werden zu Gerichtsvollziehern der Gerechtigkeit: «Und ihr werdet die Ungerechten zertreten, ja sie werden Staub sein unter euren Fusssohlen.» (Maleachi 3,21)
Wird der Begriff der «Ungerechten» nicht auf einzelne Menschen, sondern auf ungerechte Zustände bezogen, erhält die Stelle Aktualität und Brisanz. Mehr noch: Sie wird zur Aufforderung, gegen Ideologien, deren toxischer Kern sich oft
zuerst in einer menschenverachtenden Sprache zeigt, aufzustehen. Die Bibel erzählt davon und nährt die Hoffnung, dass es möglich ist, die Macht der Gewalt zu durchbrechen und Ideologien zu Staub zu zertreten.

von: Felix Reich

1. November

Gedenke der vorigen Zeiten und hab acht auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht. Frage deinen Vater, der wird dir’s verkünden, deine Ältesten, die werden dir’s sagen. 5. Mose 32,7

Das klingt ganz schön konservativ. Und dennoch sprechen mich die Zeilen an, wenn ich sie auf meinen persönlichen Glauben beziehe. Allerdings unter der Bedingung, dass ich die vergessen gegangenen Mütter ergänzen darf.

Biblische Geschichten, wie sie mir meine Mutter erzählte, eröffneten mir den Raum, in dem Geborgenheit wachsen konnte und existenzielle Fragen zur Sprache kamen. Die Weihnachtsgeschichte, die so vertraut klingt, dass sie mir mehr sagt, als ihre Worte bedeuten, verbinde ich bis heute mit der Stimme meines verstorbenen Vaters. Ich weiss nicht, ob ich Glauben als geheimnisvolles Urvertrauen erfahren hätte, wenn ich nicht in gelassener Selbstverständlichkeit und Denkfreiheit darin aufgewachsen wäre.

Seit ich selbst Vater geworden bin, gehöre ich zu den Alten. Ich möchte selbst Lieder und Gebete, die mich als Kind getröstet haben, weitergeben, zwanglos mitgeben als Proviant für das Leben. Und von den Fragen der Kinder herausgefordert zu werden, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ist ein Geschenk. Ja: Die Ältesten sollen es sagen. Doch die Jüngsten sollen fragen und immer wieder hinterfragen.

von: Felix Reich

29. Oktober

Der HERR spricht: Wen hast du gescheut und
gefürchtet, dass du treulos wurdest und nicht an
mich dachtest?
Jesaja 57,11

Die prophetische Wutrede prangert alles an, was den Menschen
auf die schiefe Bahn bringt. Auf die Aufzählung der
gesellschaftlichen Missstände folgt die Verurteilung der kultischen
Vergehen.
Das schlimmste Verbrechen scheint allerdings die Gottvergessenheit.
Diese Treulosigkeit führt direkt ins schutzlose
Verderben: «Wenn du schreist, sollen die dich retten, die du
dir angesammelt hast; der Wind aber wird sie alle forttragen,
ein Hauch wir sie hinwegnehmen.» (Jesaja 57,13) Unverhofft
schaltet sich nun eine andere Stimme ein. Sie spricht von
einem «Heiligen», der «in der Höhe» wohnt und dennoch
mitten in der Welt präsent ist, «um den Geist der Erniedrigten
zu beleben und das Herz der Zerschlagenen zu beleben»
(Jesaja 57,15). Allerdings erscheint Gott als Tröster und Täter
zugleich. Er legt ein Geständnis ab: «Über die Schuld, über
ihre Habsucht war ich zornig, so dass ich sie geschlagen
habe.» (Jesaja 57,17) Sein Zorn verraucht. Die Abtrünnigkeit
will er «mit Tröstungen vergelten». (Jesaja 57,18)
Der kunstvoll komponierte Text erzählt von einem Gott,
der aus enttäuschter Liebe zornig zu werden schien und
gerade aufgrund dieser Liebe die Türe trotz allem nie
zuschlägt, sondern sich immer wieder neu auf die Menschen
zubewegt.

Von: Felix Reich

30. September

Führt ein Leben frei von Geldgier, begnügt
euch mit dem, was da ist.
Hebräer 13,5

Der Glaube, von dem der Hebräerbrief erzählt, verspricht
Freiheit. Freiheit von der Existenzangst, welche die frühchristlichen
Gemeinden quält, Freiheit vom Ringen um die
eigene religiöse Identität, Freiheit von der Angst, von der
Umwelt angefeindet zu werden. Freiheit aber auch von der
materiellen Sucht nach immer mehr.
Dem Aufruf, sich von der Geldgier zu befreien, würden wohl
alle Menschen folgen wollen, denn als gierig möchte sich
niemand selbst bezeichnen. Doch wichtig ist der zweite Teil
des Satzes, der mehr ist als eine Warnung vor der Gier. Er ist
ein Aufruf zur Genügsamkeit. Im getrosten Vertrauen darauf,
dass «Gott dich niemals preisgeben und dich niemals
verlassen» wird. Eine Genügsamkeit freilich, die man sich
leisten können muss. Es gibt viele Menschen in der Welt, die
sich zwar tatsächlich mit dem begnügen müssen, was da ist,
aber täglich leidvoll erfahren, dass das, was da ist, schlicht
nicht genügt zum Leben.
Das führt zurück zum Satzanfang. Es kann nicht darum
gehen, jene, die wenig haben, klein zu halten. Auch die Gier
muss man sich leisten können. Sie ergreift jene, die eigentlich
längst genug haben, und bringt ganze Finanzsysteme ins
Wanken. Die Gier führt in die Unfreiheit.

Von: Felix Reich

31. August

Unser tägliches Brot gib uns heute. Matthäus 6,11

Genug zu essen zu haben, ist keine Selbstverständlichkeit.
Daran erinnert mich der Vers gleich doppelt. Die Bitte gilt
es jeden Tag zu erneuern. Allein am heutigen Tag, im Jetzt,
genug zum Leben zu haben, scheint genug. Mein Privileg
ist, dass in meiner Bitte Dankbarkeit liegt, weil das tägliche
Brot mein Alltag ist. Ich muss nicht hungrig schlafen
gehen. Eigentlich müsste ich für das tägliche Brot der Anderen
beten.
Es gibt einen Diskurs, der das tägliche Brot zuoberst auf die
Prioritätenliste setzt und ein Recht auf Nahrung postuliert.
Was einleuchtend klingt, kippt für mich allzu oft in einen
utilitaristischen Zynismus. Autoritäre Regierungsformen, die
wirtschaftlich erfolgreich sind, werden damit gerechtfertigt,
dass sie im Kampf gegen den Hunger halt nicht auch noch
auf Minderheiten und Dissidenten Rücksicht nehmen können.
Das tägliche Brot sei wichtiger als die Meinungsfreiheit,
die Menschenrechte werden relativiert.
Ich bin überzeugt, dass sich das Evangelium gegen eine Hitparade
der Menschenrechte wendet. Beim Brot, von dem
das Unservater spricht, denke ich nicht allein ans Essen. Mir
kommt das Brot des Lebens in den Sinn, das beim Abendmahl
geteilt wird. Es umfasst für mich all das, was der Mensch
braucht. Dazu gehört Nahrung, ja, aber ebenso zählen dazu
die Würde und die Freiheit.

Von: Felix Reich

30. August

HERR, verdirb dein Volk und dein Erbe nicht,
das du durch deine grosse Kraft erlöst hast!
5. Mose 9,26

Von der Masse ist nichts zu erwarten. Keine Einsicht, keine
Reue, keine Umkehr. Gott muss feststellen, «dass dieses Volk
ein halsstarriges Volk ist» (5. Mose 9,13). Von der verdienten
Strafe kann es nur verschont werden, wenn Mose sich vor
Gott niederwirft wie vor einem König und in der Demutsgeste
vierzig Tage ohne Essen und Trinken verharrt, um Gottes
«Zorn und Grimm» (5. Mose 9,19) zu besänftigen.
Halsstarrig ist die Menschheit geblieben. Obwohl die Zeichen
der Zerstörung sichtbar sind, Gletscher sich zurückziehen
und Extremwettersituationen zunehmen, ist die grüne
Wende kaum mehr als ein Wahlkampfslogan. Ungerechtigkeiten,
die zum Himmel schreien, scheinen zementiert.
Regimes bauen auf Repression, obschon klar ist, dass Angst
eine so schlechte wie fragile Regierungsform ist. Der Mensch
braucht keinen Gott, der ihn zerstört. Das erledigt er selbst.
In Christus ist Gott selbst zum Fürbitter geworden, der die
Spirale der Gewalt durchbrochen hat. Er wollte den Zorn
und Grimm der Menschen besänftigen, blieb hartnäckig
in seiner Liebe. Ich fürchte nicht die Strafe Gottes. Angst
machen mir die Menschen. Und so bete ich, dass Gott den
Willen stärkt, von der Selbstzerstörung abzulassen, und die
Kraft verleiht für das trotzige Festhalten an der Hoffnung.

Von: Felix Reich

29. August

Ich bin der HERR, dein Gott, der dich lehrt,
was dir hilft, und dich leitet auf dem Wege, den
du gehst.
Jesaja 48,17

Ein schöner Satz. Vielleicht der Inbegriff dessen, was es
bedeutet, behütet zu sein und getrost durch das Leben zu
gehen. Da ist eine unsichtbare Kraft, die mich spüren lässt,
was ich brauche, und mir den Weg leuchtet, wenn ich nicht
mehr weiterweiss.
Im Kontext des prophetischen Textes lesen sich die Zeilen
allerdings weniger als Zuspruch denn als Mahnung. Es ist
nicht so, dass Gott auf dem Weg beschützend und unterstützend
hinterhergeht. Er gibt die Richtung vor und hat
den Anspruch voranzugehen. Ausserdem wimmelt es in der
Folge von Menschen, denen der Prophet vorwirft, die falsche
Abzweigung genommen zu haben. Sie werden «keinen
Frieden» (Jesaja 48,22) finden. Nun kippt der Satz vom Trost
in die Bevormundung. Warum brauche ich einen Gott, der
mich lehrt, was mir hilft? Muss ich das nicht selbst wissen?
Es sind die falschen Fragen.
Die Mahnung richtet sich nicht an ein Individuum, in den
Blick nimmt der Prophet ein Kollektiv. Und eine Gemeinschaft
muss sich tatsächlich auf eine Lehre einigen, welche
die Richtung vorgibt. Wer auf Gott hört, findet einen Weg,
auf dem die Schwachen gestützt werden und niemand unter
die Räder kommt.

Von: Felix Reich