Schlagwort: Felix Reich

30. November

Euch, die ihr meinen Namen fürchtet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit und Heil unter ihren Flügeln. Maleachi 3,20

Die Sonne der Gerechtigkeit wärmt und verheisst Geborgenheit unter ihren Flügeln, macht heil, was zerbrochen ist. Doch noch leuchtet sie nicht. Das Unrecht des Stärkeren setzt sich durch. Gerissenheit wird belohnt. «Es scheint vergeblich, Gott zu dienen.» (Maleachi 3,14) Die Erfahrung, dass unter die Räder kommt, wer sich dem Frieden und der Versöhnung verschreibt, wendet der biblische Text ins Versprechen, dass Gott nicht vergisst. Und wenn er die Sonne der Gerechtigkeit dann eines Tages aufgehen lässt, wärmt und schützt sie nicht nur die Gerechten, sie versengt auch das Unrecht. Die Unterjochten, die Gott die Treue halten, werden zu Gerichtsvollziehern der Gerechtigkeit: «Und ihr werdet die Ungerechten zertreten, ja sie werden Staub sein unter euren Fusssohlen.» (Maleachi 3,21)
Wird der Begriff der «Ungerechten» nicht auf einzelne Menschen, sondern auf ungerechte Zustände bezogen, erhält die Stelle Aktualität und Brisanz. Mehr noch: Sie wird zur Aufforderung, gegen Ideologien, deren toxischer Kern sich oft
zuerst in einer menschenverachtenden Sprache zeigt, aufzustehen. Die Bibel erzählt davon und nährt die Hoffnung, dass es möglich ist, die Macht der Gewalt zu durchbrechen und Ideologien zu Staub zu zertreten.

von: Felix Reich

1. November

Gedenke der vorigen Zeiten und hab acht auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht. Frage deinen Vater, der wird dir’s verkünden, deine Ältesten, die werden dir’s sagen. 5. Mose 32,7

Das klingt ganz schön konservativ. Und dennoch sprechen mich die Zeilen an, wenn ich sie auf meinen persönlichen Glauben beziehe. Allerdings unter der Bedingung, dass ich die vergessen gegangenen Mütter ergänzen darf.

Biblische Geschichten, wie sie mir meine Mutter erzählte, eröffneten mir den Raum, in dem Geborgenheit wachsen konnte und existenzielle Fragen zur Sprache kamen. Die Weihnachtsgeschichte, die so vertraut klingt, dass sie mir mehr sagt, als ihre Worte bedeuten, verbinde ich bis heute mit der Stimme meines verstorbenen Vaters. Ich weiss nicht, ob ich Glauben als geheimnisvolles Urvertrauen erfahren hätte, wenn ich nicht in gelassener Selbstverständlichkeit und Denkfreiheit darin aufgewachsen wäre.

Seit ich selbst Vater geworden bin, gehöre ich zu den Alten. Ich möchte selbst Lieder und Gebete, die mich als Kind getröstet haben, weitergeben, zwanglos mitgeben als Proviant für das Leben. Und von den Fragen der Kinder herausgefordert zu werden, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ist ein Geschenk. Ja: Die Ältesten sollen es sagen. Doch die Jüngsten sollen fragen und immer wieder hinterfragen.

von: Felix Reich

29. Oktober

Der HERR spricht: Wen hast du gescheut und
gefürchtet, dass du treulos wurdest und nicht an
mich dachtest?
Jesaja 57,11

Die prophetische Wutrede prangert alles an, was den Menschen
auf die schiefe Bahn bringt. Auf die Aufzählung der
gesellschaftlichen Missstände folgt die Verurteilung der kultischen
Vergehen.
Das schlimmste Verbrechen scheint allerdings die Gottvergessenheit.
Diese Treulosigkeit führt direkt ins schutzlose
Verderben: «Wenn du schreist, sollen die dich retten, die du
dir angesammelt hast; der Wind aber wird sie alle forttragen,
ein Hauch wir sie hinwegnehmen.» (Jesaja 57,13) Unverhofft
schaltet sich nun eine andere Stimme ein. Sie spricht von
einem «Heiligen», der «in der Höhe» wohnt und dennoch
mitten in der Welt präsent ist, «um den Geist der Erniedrigten
zu beleben und das Herz der Zerschlagenen zu beleben»
(Jesaja 57,15). Allerdings erscheint Gott als Tröster und Täter
zugleich. Er legt ein Geständnis ab: «Über die Schuld, über
ihre Habsucht war ich zornig, so dass ich sie geschlagen
habe.» (Jesaja 57,17) Sein Zorn verraucht. Die Abtrünnigkeit
will er «mit Tröstungen vergelten». (Jesaja 57,18)
Der kunstvoll komponierte Text erzählt von einem Gott,
der aus enttäuschter Liebe zornig zu werden schien und
gerade aufgrund dieser Liebe die Türe trotz allem nie
zuschlägt, sondern sich immer wieder neu auf die Menschen
zubewegt.

Von: Felix Reich

30. September

Führt ein Leben frei von Geldgier, begnügt
euch mit dem, was da ist.
Hebräer 13,5

Der Glaube, von dem der Hebräerbrief erzählt, verspricht
Freiheit. Freiheit von der Existenzangst, welche die frühchristlichen
Gemeinden quält, Freiheit vom Ringen um die
eigene religiöse Identität, Freiheit von der Angst, von der
Umwelt angefeindet zu werden. Freiheit aber auch von der
materiellen Sucht nach immer mehr.
Dem Aufruf, sich von der Geldgier zu befreien, würden wohl
alle Menschen folgen wollen, denn als gierig möchte sich
niemand selbst bezeichnen. Doch wichtig ist der zweite Teil
des Satzes, der mehr ist als eine Warnung vor der Gier. Er ist
ein Aufruf zur Genügsamkeit. Im getrosten Vertrauen darauf,
dass «Gott dich niemals preisgeben und dich niemals
verlassen» wird. Eine Genügsamkeit freilich, die man sich
leisten können muss. Es gibt viele Menschen in der Welt, die
sich zwar tatsächlich mit dem begnügen müssen, was da ist,
aber täglich leidvoll erfahren, dass das, was da ist, schlicht
nicht genügt zum Leben.
Das führt zurück zum Satzanfang. Es kann nicht darum
gehen, jene, die wenig haben, klein zu halten. Auch die Gier
muss man sich leisten können. Sie ergreift jene, die eigentlich
längst genug haben, und bringt ganze Finanzsysteme ins
Wanken. Die Gier führt in die Unfreiheit.

Von: Felix Reich

31. August

Unser tägliches Brot gib uns heute. Matthäus 6,11

Genug zu essen zu haben, ist keine Selbstverständlichkeit.
Daran erinnert mich der Vers gleich doppelt. Die Bitte gilt
es jeden Tag zu erneuern. Allein am heutigen Tag, im Jetzt,
genug zum Leben zu haben, scheint genug. Mein Privileg
ist, dass in meiner Bitte Dankbarkeit liegt, weil das tägliche
Brot mein Alltag ist. Ich muss nicht hungrig schlafen
gehen. Eigentlich müsste ich für das tägliche Brot der Anderen
beten.
Es gibt einen Diskurs, der das tägliche Brot zuoberst auf die
Prioritätenliste setzt und ein Recht auf Nahrung postuliert.
Was einleuchtend klingt, kippt für mich allzu oft in einen
utilitaristischen Zynismus. Autoritäre Regierungsformen, die
wirtschaftlich erfolgreich sind, werden damit gerechtfertigt,
dass sie im Kampf gegen den Hunger halt nicht auch noch
auf Minderheiten und Dissidenten Rücksicht nehmen können.
Das tägliche Brot sei wichtiger als die Meinungsfreiheit,
die Menschenrechte werden relativiert.
Ich bin überzeugt, dass sich das Evangelium gegen eine Hitparade
der Menschenrechte wendet. Beim Brot, von dem
das Unservater spricht, denke ich nicht allein ans Essen. Mir
kommt das Brot des Lebens in den Sinn, das beim Abendmahl
geteilt wird. Es umfasst für mich all das, was der Mensch
braucht. Dazu gehört Nahrung, ja, aber ebenso zählen dazu
die Würde und die Freiheit.

Von: Felix Reich

30. August

HERR, verdirb dein Volk und dein Erbe nicht,
das du durch deine grosse Kraft erlöst hast!
5. Mose 9,26

Von der Masse ist nichts zu erwarten. Keine Einsicht, keine
Reue, keine Umkehr. Gott muss feststellen, «dass dieses Volk
ein halsstarriges Volk ist» (5. Mose 9,13). Von der verdienten
Strafe kann es nur verschont werden, wenn Mose sich vor
Gott niederwirft wie vor einem König und in der Demutsgeste
vierzig Tage ohne Essen und Trinken verharrt, um Gottes
«Zorn und Grimm» (5. Mose 9,19) zu besänftigen.
Halsstarrig ist die Menschheit geblieben. Obwohl die Zeichen
der Zerstörung sichtbar sind, Gletscher sich zurückziehen
und Extremwettersituationen zunehmen, ist die grüne
Wende kaum mehr als ein Wahlkampfslogan. Ungerechtigkeiten,
die zum Himmel schreien, scheinen zementiert.
Regimes bauen auf Repression, obschon klar ist, dass Angst
eine so schlechte wie fragile Regierungsform ist. Der Mensch
braucht keinen Gott, der ihn zerstört. Das erledigt er selbst.
In Christus ist Gott selbst zum Fürbitter geworden, der die
Spirale der Gewalt durchbrochen hat. Er wollte den Zorn
und Grimm der Menschen besänftigen, blieb hartnäckig
in seiner Liebe. Ich fürchte nicht die Strafe Gottes. Angst
machen mir die Menschen. Und so bete ich, dass Gott den
Willen stärkt, von der Selbstzerstörung abzulassen, und die
Kraft verleiht für das trotzige Festhalten an der Hoffnung.

Von: Felix Reich

29. August

Ich bin der HERR, dein Gott, der dich lehrt,
was dir hilft, und dich leitet auf dem Wege, den
du gehst.
Jesaja 48,17

Ein schöner Satz. Vielleicht der Inbegriff dessen, was es
bedeutet, behütet zu sein und getrost durch das Leben zu
gehen. Da ist eine unsichtbare Kraft, die mich spüren lässt,
was ich brauche, und mir den Weg leuchtet, wenn ich nicht
mehr weiterweiss.
Im Kontext des prophetischen Textes lesen sich die Zeilen
allerdings weniger als Zuspruch denn als Mahnung. Es ist
nicht so, dass Gott auf dem Weg beschützend und unterstützend
hinterhergeht. Er gibt die Richtung vor und hat
den Anspruch voranzugehen. Ausserdem wimmelt es in der
Folge von Menschen, denen der Prophet vorwirft, die falsche
Abzweigung genommen zu haben. Sie werden «keinen
Frieden» (Jesaja 48,22) finden. Nun kippt der Satz vom Trost
in die Bevormundung. Warum brauche ich einen Gott, der
mich lehrt, was mir hilft? Muss ich das nicht selbst wissen?
Es sind die falschen Fragen.
Die Mahnung richtet sich nicht an ein Individuum, in den
Blick nimmt der Prophet ein Kollektiv. Und eine Gemeinschaft
muss sich tatsächlich auf eine Lehre einigen, welche
die Richtung vorgibt. Wer auf Gott hört, findet einen Weg,
auf dem die Schwachen gestützt werden und niemand unter
die Räder kommt.

Von: Felix Reich

30. Juni

Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder
aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht
gern wieder zurechtkäme?
Jeremia 8,4

Ein Volk, das sich abwendet von Gott, sich den falschen
Götzen unterwirft. Die Leidensgeschichte von Gottes Wort
und prophetische Mahnreden, welche die Uneinsichtigkeit
der Menschen beklagen. Kunstvoll erzählt, theologisch dicht
und literarisch klug komponiert, aber aus der Zeit gefallen.
Wirklich? Eigentlich klingt die Tageslosung doch beklemmend
aktuell. Der Prophet Jeremia beklagt den fehlenden
Willen zur Umkehr. Die Gestrauchelten bleiben lieber liegen,
als sich an Gott aus- und aufzurichten. Im Gegensatz zum
Storch am Himmel, zur Taube, zum Mauersegler und zur
Schwalbe, die alle «die Zeit ihrer Heimkehr» einhalten, hat
die Menschen ihr Instinkt, der Sinn für «die Ordnung des
Herrn» (Jeremia 8,7) verlassen.
Durch die Geschichte zieht sich eine blutige Spur des Unrechts
und der Gier, angesichts derer man kein Prophet sein muss,
um sich zu fragen, wo das Bewusstsein dafür auf der Strecke
geblieben ist, was Menschsein eigentlich bedeutet. Und es
bleibt zu hoffen, dass sich weiterhin immer wieder Menschen
finden, die sich nicht abfinden damit, sondern – selbst wenn
sie straucheln – aufstehen für Frieden und Gerechtigkeit, für
die Ordnung Gottes.

Von: Felix Reich

29. Juni

Ich danke unserem Herrn Christus Jesus, der mich stark
gemacht und für treu erachtet hat.
1. Timotheus 1,12

Paulus – oder sein Schüler – redet den Gemeindeleitern ins
Gewissen. Sie sollen sich von jenen abgrenzen, die «keine
Ahnung haben, wovon sie reden und worüber sie so selbstgewiss
urteilen» (1. Timotheus 1,7). Der Apostel ist mit dem
Selbstbewusstsein des Bekehrten gesegnet und hält sich für
stark genug, zu wissen, was wirklich gilt.
Wenn Predigerinnen und Prediger meinen, die Wahrheit
gepachtet zu haben, wird es ungemütlich. Wähnen sich Religionen
auf dem einzig richtigen Weg, lauert die Ideologie.
Ausgerechnet Paulus wird gerne zitiert, um Menschen herabzusetzen.
So bleibt die ihm zugeschriebene Aufforderung,
Frauen müssten schweigen in der Gemeinde, sich unterordnen
(1. Korinther 14,34) auf fatale Weise wirksam. Zugleich
liefert Paulus auch den Schlüssel zur Wahrheit: Ziel sei «die
Liebe, die aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem
Glauben kommt» (1. Timotheus 1,5).
Vielleicht helfen solche Widersprüche, eigene Wahrheiten
zu hinterfragen, ohne die Wahrheit der Liebe und der Hoffnung,
welche die Bibel verkündet und in Erzählungen und
Gleichnissen erfahrbar macht, zu relativieren. Ob Freiheit
und Würde möglich sind oder Diskriminierung und Unrecht
herrschen, ist keine Frage der Kultur. Es ist eine Machtfrage.

Von: Felix Reich

30. April

Als Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er:
Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! 1. Mose 28,16

Jakob hat sich mit einer List den Segen, der seinem älteren
Bruder zugestanden hätte, erschlichen und ist ausgezogen
aus seinem Elternhaus. Die erste Nacht verbringt er unter
freiem Himmel. Im Traum öffnet sich dieser Himmel, und
Jakob sieht die Himmelsleiter. Zuoberst steht Gott persönlich
und schliesst mit dem Betrüger einen Bund: «Und siehe,
ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.»
Ich bin nicht Jakob. Selten erinnere ich mich an meine
Träume und wenn doch, sind es meistens böse Träume,
aus denen ich aufschrecke. Ich habe noch nie den offenen
Himmel gesehen, keine Leiter, keinen Gott. Und dennoch
vertraue ich darauf, dass der Zuspruch Gottes auch mir gilt,
dass ich wie Jakob behütet bin, wo auch immer ich hinziehe.
Und dann gibt es diese Momente, in denen kleine Wunder
geschehen. In einem Gespräch über das unsagbar Traurige
finde ich Worte, die trösten oder zumindest dem Schmerz
eine Sprache geben. In einer Begegnung scheint etwas auf,
das mit Erkenntnis zu tun hat und mich durch einen Tag
hindurch trägt. Ich staune, dass solche Momente sich immer
wieder unverhofft einstellen. Wie Jakob habe ich vergessen,
dass Gott an allen Stätten ist und mich beschenkt. Fürwahr!

Von: Felix Reich