Monat: Oktober 2022

11. Oktober

Sieh nun herab von deiner heiligen Wohnung, vom Himmel, und segne dein Volk Israel. 5. Mose 26,15

Israel – ein Reizwort, das Kaskaden von Assoziationen au löst, positive, negative, ratlose. Darüber zu schreiben, gleicht dem Gang durch ein Minenfeld: Wie ist das nun mit der Kirche und Israel? Darf man die Kirche das «neue Israel» nennen? Oder kommt sie nicht viel eher wie eine jüngere Schwester zur Familie hinzu, und wie ist dann das Verhältnis der Geschwister? Dann die antijüdischen Passagen in manchen Werken der Kirchenmusik: scharf bei Bach, etwas verdeckter bei Schütz, interessanterweise nicht bei Mendelssohn. Vom politischen Minenfeld, dem modernen Staat Israel, ganz zu schweigen – da bleibt oft nur ratlose Besorgnis.
Aber da ist die hebräische Bibel mit ihrem Reichtum, ihrer Vielfalt und ihren inneren Spannungen, manchmal fremd und verwirrend, manchmal nahe und vertraut, und die Grundlage, ohne die Jesus von Nazareth schlicht nicht zu verstehen ist. So ist es angebracht, bei unserem Losungswort die negativen und verwirrenden Gedanken für einmal auszublenden und den Lehrtext mitklingen zu lassen:
«zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines Volkes Israel» – unerreicht eindrucksvoll in Musik gesetzt von Felix Mendelssohn in seiner Motette über das Simeonslied, «Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren» – unbedingt anhören oder nach Möglichkeit einmal mitsingen!

Von Andreas Marti

10. Oktober

Ihr scheint als Lichter in der Welt, dadurch dass ihr festhaltet am Wort des Lebens. Philipper 2,15–16

Einmal war ich an einem Sommerabend im Tessin unterwegs. Plötzlich sah ich an einem Hang unterhalb der Strasse viele Glühwürmchen. Sie verzauberten ein simples Grasbord in eine zauberhafte Fläche, auf der viele kleine Körper ein pulsierendes Licht von sich gaben. Es war ruhig, kein Sirren, keine Explosion, kein Rauch, nichts störte dieses leise Leuchten.
Sonst ist Licht immer etwas, das irgendwie sinnvoll auf den Menschen zugeschnitten und zweckdienlich ist, hier aber glimmten diese Glühwürmchen einfach friedlich und scheinbar absichtslos vor sich hin.
Doch halt, ich mache mich gerade kundig: So romantisch ist es auch wieder nicht – je heller ein Glühwürmchen leuchtet, desto grösser sind die Chancen, einen Partner zu finden. Und nach der Paarung kommt der Tod.
Selbst ein Licht in der Welt sein zu können, ist eine schöne Vorstellung. Bei Paulus nähren diese Menschen ihr Licht, ihr Leuchten durch das «Wort des Lebens», auch durch ihren Gehorsam. Ihrem Leuchten liegt also eine Haltung, eine Entscheidung zum Glauben zugrunde.
Bei mir ist es etwas anders: Mein Leuchten entsteht, wenn ich geliebt und verstanden werde, wenn ich sein kann, wie ich bin, wenn ich gut in etwas bin. Ist das vereinbar mit dem, was in der Losung steht?

Von Katharina Metzger

9. Oktober

Der HERR sprach zu Mose: Ich will ihnen einen Propheten, wie du bist, erwecken aus ihren Brüdern und meine Worte in seinen Mund geben. 5. Mose 18,18

Dann ist ein Prophet also so etwas wie eine Brücke zwischen Gott und seinem Volk? Einer, der dem Volk Gott und seine Weisungen verständlich machen kann und soll? – Braucht es das?, fragt sich die Bewohnerin des 21. Jahrhunderts. Sollte Gott nicht einfach etwas sich selbstverständlich Offenbarendes sein?
Ein Griff ins Bücherregal: der – wie ich meine – geniale Comic «Persepolis» von Marjane Satrapi über die Islamische Revolution im Iran. Sie zeichnet sich, noch vor der Revolution, als kleines Mädchen, das schon mit sechs Jahren weiss, was es werden will: Prophetin. Jeden Abend führt sie im Bett lange Gespräche mit Gott. Es sind wunderbare Bilder, die sie auch geborgen in den Armen ihres göttlich-väterlichen Freundes zeigen. Ihr Name: «Himmlisches Licht». Ihr Antrieb: Wohlstand und Glück für alle; vor allem ihre Grossmutter soll von ihren bösen Knien erlöst werden. Die Grossmutter fragt, wie sie das denn anstellen wolle. Und «Himmlisches Licht» antwortet, das Leiden werde einfach verboten, es sei nämlich das 6. Gebot in ihrem Heiligen Buch. – Als sie Kopfschütteln für ihren Berufswunsch erntet, entscheidet sie sich, zwar immer noch Prophetin zu werden, aber heimlich. So will sie «die Gerechtigkeit, die Liebe und der Zorn Gottes» sein. Und Sie?

Von Katharina Metzger

8. Oktober

Viele Propheten und Gerechte haben sich gesehnt, zu sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört und haben es nicht gehört.
Matthäus 13,17

Glauben ist ein dehnbarer Begriff. Jede und jeder von uns bringt die eigene Erfahrung ins Spiel. Für mich bedeutet Glauben nicht etwas Statisches, sondern eher eine unaufhörliche Auseinandersetzung mit einer Sehnsucht, einem Sehnen nach etwas, das wir umso schmerzhafter spüren, je mehr es uns mangelt. Es ist da, und gleichzeitig fehlt es. Es ist wie ein kaltes Feuer, das entzündet werden möchte, aber es brennt ja schon!
Es brennt, aber es wärmt noch nicht.
Wir warten noch auf die Erfüllung dieser immerwährenden Sehnsucht, die Menschen seit jeher mit sich getragen haben und für die sie keinen Namen oder vielleicht überwältigend viele Namen haben. Aus diesem Gefühl der Sehnsucht nach Verbundensein haben viele Prophetinnen und Propheten grosse Kraft und Inspiration für ihr Leben geschöpft.

Sehnsucht weist in die Zukunft: Sie verbirgt und enthüllt gleichzeitig: Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Und doch zeigt es sich schon überall, wie die Schönheit eines gerade erst geborenen Menschenkindes. Wenn die Geduld gross genug sein wird, sehen und hören die Prophetinnen und Propheten schlussendlich doch etwas im Durcheinander verschiedener Geräusche.

Von Reinhild Traitler

7. Oktober

Sein Zorn währet einen Augenblick und lebenslang seine Gnade. Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens ist Freude. Psalm 30,6

In meiner Familie gab es eine gewisse Häufung von Mitgliedern, die in Sekundenschnelle auf 180 Grad «steigen» konnten. Das machte sich dann auf unterschiedliche Art bemerkbar. Die einen schimpften so laut, dass auch die Nachbarn etwas davon hatten; die anderen «fäulten» – so nannten wir es, wenn dieser oder jener so richtig wütend wurde, aber nichts sagte. Es gab einen Champion im Versprühen von leisem Zorn. Er verschwand an ruhige Orte und schwieg, gelegentlich drei, vier Tage oder auch fünf, dann war alles wieder gut. Nicht für mich allerdings, weil ich öfter nicht einmal wusste, warum er auf einmal auf Tauchstation war. Trotzdem haben wir immer wieder «Frieden geschlossen», mit allen! Der Zorn währt einen Augenblick und lebenslang seine Gnade. Wie oft habe ich diesen Vers gebetet und war dankbar, dass er da in der Bibel steht, fett gedruckt im 30. Psalm, dass er mich tröstet, wenn ich mal da und dort ein Wort in
die falsche Kehle gekriegt habe.
Wie wunderbar es doch ist: Auf das Weinen folgt die Freude.
Lebenslang ist mir Gottes Gnade zugesagt. «Und des Morgens ist Freude!»

Von Reinhild Traitler

6. Oktober

Redet einander zu und richtet euch gegenseitig auf, wie ihr es ja tut.
1. Thessalonicher 5,11

Am Schluss des 1. Thessalonicherbriefs beschreibt Paulus handfest, wie das Zusammenleben in Gemeinschaft funktionieren kann. Zentral ist die Hoffnung. Hoffnung, dass es anders kommen wird. Dass es schon jetzt anders geht, als sich aus Enttäuschung mit Drogen zuzudröhnen, in der Konkurrenz aller gegen alle Hass zu kultivieren oder Böses mit Bösem zu vergelten.
Gutes Zusammenleben ist für Paulus Sorgearbeit füreinander, heitere Solidarität. Verbunden mit der Stützung der Schwachen und der Ermutigung der Verzagten, mit dem Ringen um Frieden im Kleinen. Dazu kommt die kritische Prüfung der Verhältnisse: Wo gibt es Potenzial für Veränderung? Fundament ist Dankbarkeit – auch gegenüber Gott und seiner Sorge um das Leben.
Ich kenne Familien und Wohngemeinschaften, die einigermassen so funktionieren, Altersheime, Unternehmen, Quartiergemeinschaften, Vereine, die sich an solchen Visionen messen lassen. Kürzlich habe ich einen Mann erzählen gehört von seiner Gefängniszeit während der argentinischen Militärdiktatur. Im Kollektiv übten Menschen über Jahre Widerstand und Solidarität ein. Sie entwickelten eine faszinierende Kultur, sich gegenseitig immer wieder aufzurichten, um weder verrückt zu werden noch langsam zu sterben. Eine Kultur des gemeinsamen Lebens.

Von Matthias Hui

5. Oktober

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schliessen. Jeremia 31,31

Als Kind war ich ein grosser Autofan. Ich kannte jedes Modell und war traurig, dass meine Eltern zuerst keinen und später nur einen kleinen roten Wagen besassen – keinen BMW oder Volvo wie die Nachbarn. Heute lebe ich glücklich ohne Auto. Wie fast alle meiner jetzigen Nachbar*innen. (Natürlich freue ich mich, wenn ich meine Mutter ab und zu mit einem – roten! – Mobilityfahrzeug ausfahren kann. Sogar der kleine Autofreund sitzt dann mit am Steuer.)

Aber mit den Autos und Flugzeugen, mit Heizungen und Klimaanlagen, mit dem Fleisch- und Betonkonsum haben wir die Erde ausgebeutet und geschändet. Das Klima ist ausser Rand und Band geraten. Das Wirtschaftssystem entreisst dem Boden noch immer alle Schätze, die es kann, und schifft sie dem, der zahlt, heran. Öl, Kohle und Gas alimentieren die Motoren des Fortschritts immer noch weiter und schaffen ständig noch mehr Erhitzung und Krieg. Aber das imperial-fossile Zeitalter kommt an ein Ende. Zu spät? Ist die Welt am Ende? Nähert sie sich ihrem Untergang?
Gibt es in dieser Sintflut, in der viele längst stecken oder darin untergehen, das Angebot eines neuen Bundes für das Leben? Woher kommt Hilfe? Gratis? Für wen? Und wird die seufzende, zerstörte Schöpfung geheilt werden?

Von Matthias Hui

4. Oktober

Der HERR schafft Recht den Waisen und Witwen und hat Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben. 5. Mose 10,18–19

Den Fremden zu lieben, weil man selbst als Fremdling in Ägypten gelebt hat, ist hier keine ethische Verhaltensanweiung, sondern Ausdruck der Gottesehrung. Den heutigen Versen voraus geht Vers 17: «Denn der HERR, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der grosse, starke und furchtbare Gott, der kein Ansehen der Person kennt und keine Bestechung annimmt …» Und ihnen folgt zusammenfassend Vers 20: «Den HERRN, deinen Gott, sollst du fürchten, ihm sollst du dienen, an ihm festhalten und bei seinem Namen schwören…» Fremde, Flüchtlinge nicht zu lieben und aufzunehmen, kann es gar nicht geben, wo an Gott als die einzige Wahrheit geglaubt wird – das wird hier gesagt! Indem ich tue, was in den heutigen Versen steht, zeige ich meinen Gottesglauben. Mache ich deutlich, woher meine Lebenskraft kommt. Entscheidend ist das Verbum «lieben»: Es umfasst das ganze breite Spektrum meiner Zuwendungsmöglichkeiten, also dasselbe, was ich Gott gegenüber zum Ausdruck bringe. So, wie Gott sich jenen zuwendet, die viel verloren haben, den Waisen und Witwen. Diese wahrgenommene und gespürte Zuwendung kann ich abbilden, wenn ich jene liebe, die ebenfalls viel verloren haben auf ihrem Weg; mein Lieben kann Leben bewirken …

Von Hans Strub

3. Oktober

Weh dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe unter irdenen Scherben! Spricht denn der Ton zu seinem Töpfer: «Was machst du?» Jesaja 45,9

Gott ist einziger Gott, und er ist Gott der Geschichte. Diese Grundüberzeugung des Propheten Jesaja wird in diesen Kapiteln ausführlich und eindringlich ausgedrückt. Gott allein entscheidet, wie sich die Weltgeschichte entwickelt. Es ist Gott allein anheimgestellt, wen er auswählt zur Durchsetzung seines Willens. Hier ist es gar eine ausländische Macht, der Perserkönig Kyros. Dass wirklich dieser fremde König den Willen des alleinigen Gottes ausführt, wurde von vielen in Israel vehement bestritten. Solche Kritik steht uns nicht zu, sagt Jesaja – genauso wenig wie es dem Ton zustehen könnte, dem Töpfer Anweisungen zu geben. Denn, so führt Jesaja weiter aus, dieser unser Gott hat alles geschaffen, auch die Finsternis, auch das Unheil (Verse 7–8, in 12–13 gar in der Ich-Form). Das ist unser ganzer Glaube, er umfasst unser gesamtes Sein in dieser Welt, nicht nur die schönen und guten Momente! Daran können wir uns in dunklen und schweren Zeiten festhalten und wissen, dass Gott da auch ist. Karl Barth hat 1940 (!) geschrieben: Darum, an der Wahrheit, dass Gott Einer ist, wird das Dritte Reich Adolf Hitlers zu Schanden werden. Dieser Glaube kann uns in diesen Tagen Kraft und Hoffnung geben, denn vor diesem Gott wird auch heutiger Machthunger zusammenfallen.

Von Hans Strub

2. Oktober

Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. Lukas 12,15

Sehen wir uns also vor. Und hüten wir uns. Vor jeder Art von Habgier. Hüten wir uns. Vor dieser Gier, mehr haben zu wollen. Vor dieser Gier, durch Haben mehr sein zu wollen. Hüten wir uns. Vor der Gier, immer recht haben zu wollen. Vor der Gier, stets gut dastehen zu wollen. Vor der Gier, stets das Richtige sagen zu wollen. Stets das Richtige tun zu wollen. Stets das Richtige essen zu wollen. Hüten wir uns.

Sehen wir uns also vor. Und hüten wir uns. Denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. Niemand lebt davon, dass er mehr hat als andere. Niemand lebt davon, dass er mehr ist als andere. Sie lebt nicht davon, dass sie vielleicht recht hat. Er lebt nicht davon, dass er besser dasteht als andere. Sie lebt nicht davon, dass sie manchmal die richtigen Worte findet. Er lebt nicht davon, dass er tut und macht. Sie lebt nicht davon, dass sie sich gesund ernährt.

Sehen wir uns also vor. Und hüten wir uns. Denn niemand lebt davon, dass er mehr hat als andere. Dass er mehr ist als andere. Füllen wir unsere Scheunen nicht mit Scheinen. Der Schein trügt. Sehen wir uns vor. Und hüten wir uns. Niemand lebt aus sich allein. Kein Einziger. Keine. Niemand.

Von Ruth Näf Bernhard