Monat: Oktober 2022

31. Oktober

Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. Römer 12,9

In meiner Kindheit und Jugend in Österreich habe ich viele Erfahrungen gesammelt, was es bedeutet, einer Minderheit anzugehören. Man wird ein bisschen schrullig, weil man ja fast keine Möglichkeiten hat, an der Machtfülle der Mehrheit teilzunehmen. Es war schon ein kleiner Triumph, als Österreichs Protestanten den 31. Oktober, den Reformationstag, als offiziellen Feiertag zugesprochen erhielten. An diesem Tag würden wir uns vorstellen und darstellen. Ab sofort wurde die «feste Burg» im Stehen gesungen, so als ob es sich um eine Nationalhymne handelte. Und in gewissem Sinn war es ja eine Nationalhymne. Wir liebten es auch, uns als eine intellektuelle Elite darzustellen, noch bevor wir wuss- ten, was das Wort «intellektuell» eigentlich bedeutet. Mit all dem hoben wir aber empor, was wir eigentlich vertuschen wollten: Wir waren anders. Und wir redeten über Gleiches auf eine andere Art.

Diese folkloristische Darstellung des Protestantismus wurde schon in der Volksschule zertrümmert. Dafür hat der Pfarrer, der mich konfirmiert hat, gesorgt. Er hat mir klargemacht, dass es auf all die Riten nicht so sehr ankomme. Schön anzusehen, aber nicht wirklich nötig.
Wir könnten ohnehin nichts dazutun, es sei alles Gnade. Ja, aber all die guten Ratschläge? Die verbessern das Klima!

Von Reinhild Traitler

30. Oktober

Jesus sprach zu den Jüngern: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr denn noch keinen Glauben? Markus 4,40

Das Hauptwort in diesem Vers ist das Wörtchen «noch».
«Habt ihr noch keinen Glauben!» Trotz allem, was ihr mit mir erlebt habt. Alle die Wunder, all das Ungewöhnliche, fast wie Zauberei. Aber es ist nicht Zauberei, sondern die feste Überzeugung, dass in der Tiefe unserer Not und unseres Leidens eine Heilung wächst. Dass jemand uns Segen und Geborgensein zuspricht; dass Gott selbst einen Engel schickt, der uns in den Arm nimmt und tröstet und die nächsten Schritte, jene, die wir nicht selbst gehen können, mit uns geht.
Aber wir sind furchtsam. Statt uns seinem starken Arm anzuvertrauen, klagen wir über unsere Schwäche, unsere Angst, unser Unvermögen.
Haben wir denn noch keinen Glauben?

Ich denke, wir haben keinen Glaubens-Selbstbedienungsladen. Gott hilft, Gott schützt. Aber, wie Bonhoeffer einmal gesagt hat, er tut es nicht im Vorhinein. Vertrauen in Gottes Tun entsteht, wenn wir uns Gott anvertrauen. Mit Jesus auf dem Weg zu sein, braucht unser Vertrauen, unser Uns-Anvertrauen.

Erhalte mich auf deinen Stegen und lass mich nicht mehr irre gehen. (Johann Scheffler)

Von Reinhild Traitler

29. Oktober

Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich der Elenden. Jesaja 49,13

Ich spüre eine heitere Gelassenheit, eine beflügelnde Euphorie. Der Anblick des Himmels macht mich lachen, ich kann mich nicht sattsehen an den Bergen mit ihren steilen Felswänden, den sich an den abenteuerlichsten Stellen mit ihren Wurzeln daran festkrallenden Tannen, den weiss schäumenden Wasserfällen. Die Schöpfung jubelt, und ich juble mit ihr. Ein Wort breitet sich in mir aus: Gott.

Das Wort versickert. Es nährt den Boden meines Urvertrauens, für das ich keine Worte finde. Es lässt das zarte Pflänzchen wachsen, das die Menschen Glauben nennen und das sich zeigt als Trost, Getrostsein. Ich hoffe, dass das Pflänzchen Wurzeln schlägt und nicht verdorrt, wenn die Sonne der Angst erbarmungslos vom leeren Himmel brennt und der Sturm der Verlassenheit über die Lebensfelder fegt.

Ich weiss, dass die Verheissung des Propheten weit über mich hinausgeht. Deshalb bete ich für die Menschen, die jetzt nicht wie ich freudig durch die Welt schweben, sondern im Elend sind, von Krankheit und Tod, Krieg und Flucht bedroht, von der Armut gefangen. Und doch mache ich jetzt einen Luftsprung. Denn Fürbitte und Dankgebet gehören auch in diesem wortlosen, intimen Gottesdienst zusammen.

Von Felix Reich

28. Oktober

Herrlichkeit und Ehre und Frieden allen denen, die das Gute tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.
Römer 2,10–11

Beruhigt mich das, oder eher nicht? Dieser Satz, dass es vor Gott kein Ansehen der Person gibt. Paulus ist sich sicher, dass nicht deine Person, sondern deine Taten, dein Handeln dein Durchkommen im Gericht Gottes bestimmen. Paulus ist sich des gerechten Gerichts Gottes sicher, der einem jeden geben wird nach seinen Werken und eben nicht nach Ansehen der Person.
Und ich sehe Gott – ähnlich der Darstellung der Justitia – mit Augenbinde und Waage vor meinem inneren Auge. Und ja, es beruhigt mich, dass vor Gott nicht das Ansehen einer Person gilt, sondern dass wir vor Gott alle gleich sind, egal, was wir geleistet haben und aus welchem guten Hause wir kommen, egal welchen Titel du hast und welches Auto du fährst.
Und doch merke ich auch einen Stich in meinem Herzen, denn die Binde vor Gottes Augen schmerzt mich, je länger ich sie mir vorstelle. Will ich doch angesehen werden von Gott, sollte ich dereinst vor seinem gerechten Gericht stehen. Denn bin ich nicht mehr als die Summe meiner guten und schlechten Taten? Ist da nicht mehr zwischen uns als eine Waage – geölt und geeicht?
Ich bin mir nicht sicher. Aber ich hoffe auf dich.

Von Sigrun Welke-Holtmann

27. Oktober

So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen,
die ihn lieben und seine Gebote halten.
5. Mose 7,9

Die Liebe steht an erster Stelle. Nicht nur bei uns modernen Menschen und zwischen uns Menschen, sondern schon im Alten Testament, im 5. Buch Mose. Neben allem «Du sollst» und «Du sollst nicht» ist es die Liebe, die die Schrift erfüllt.
«Höre Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.» (5. Mose 6,4) Doch was heisst es, Gott zu lieben? Im Hebräischen wird hier das dasselbe Wort verwendet, wie wenn von der Liebe zwischen Menschen die Rede ist. Doch kann ich Gott wie einen Menschen lieben? Oder liebten sich Menschen im Alten Testament etwa anders als heute? Sicherlich haben sich die Bedeutung und die Vorstellung, die hinter der Liebe stehen, verändert, so, wie sich auch die Menschen verändert haben, zumal die Texte einen völlig anderen kulturellen und zeitlichen Hintergrund haben und man sie nicht einfach so auf sich beziehen kann. Und doch möchte ich dieses Bild nicht einfach abtun als etwas, das nicht mehr in unsere Zeit der romantischen Liebe passt.
Was heisst es, Gott zu lieben? Wie liebe ich heute Gott und wie spüre ich Gottes Treue und Barmherzigkeit? Vielleicht nehmen Sie diese Frage wie ich heute mit in diesen Tag und finden eine eigene Antwort.

Von Sigrun Welke-Holtmann

26. Oktober

Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. Johannes 3,17

Das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus, in dessen Schlussteil unser Vers gehört, ist und bleibt (mir) rätselhaft. Da ist der gelehrte und geachtete Pharisäer Nikodemus, der in der Nacht zu Jesus kommt, um mit ihm über Fragen des Glaubens und des Lebens zu sprechen. Und da ist Jesus, der antwortet und doch nicht wirklich verstanden wird. Nikodemus’ vernünftige Einwände verfangen nicht vor der Botschaft, die Jesus verkündigt: dass Gottes Liebe der Welt Grund und Ziel gibt, dass Gottes Geistkraft in ihr wirksam ist und die Menschen verändert, dass Gott will, dass die Welt gerettet werde …

Die Frage drängt sich auf: Wie ist das zu glauben angesichts von Krieg und Zerstörung, von Hunger und Gewalt, von so viel Lüge und Ungerechtigkeit vor unseren Augen?

Was Nikodemus aus dem Gespräch mitnimmt, bleibt offen. Wie sähe Ihre Antwort aus? – Mein Versuch einer Antwort lautet:
Es ist leicht und schwer zu glauben und zu vertrauen; es ist ein Weg, ein Prozess; es ist ein Gehaltenwerden und ein Festhalten, es ist ein «sich dem Leben in die Arme Werfen».

Von Annegret Brauch

25. Oktober

Der HERR sprach zu Jona: Meinst du, dass du mit Recht zürnst? Jona 4,4

Das Gespräch zwischen Gott und Jona am Schluss des Jonabuches entbehrt, wie ich finde, nicht einer gewissen Komik. Jona ist zornig, will lieber tot sein als leben, weil Gott barmherzig und gütig ist, weil Gott sich von der Umkehr der Menschen in Ninive berühren lässt und die Stadt nicht untergeht, wie zuvor von Jona in Gottes Auftrag angekündigt (Vers 2 f.). Ist es gekränkte Eitelkeit? Ärger über den unnötigen Aufwand der weiten Reise? Jona wirkt komisch in seinem Trotz: Ich wusste es gleich – und jetzt mag ich nicht mehr!

Mir gefällt Gottes Reaktion auf Jona: Meinst du, dass du mit Recht zürnst? Gott sieht Jonas Zorn und übergeht ihn nicht einfach. Gott nimmt Jona als Gesprächspartner ernst und weitet gleichzeitig durch die Episode mit der Staude Jonas Perspektive auf Gottes Handeln (Vers 6 ff.).
Ob Jona von seinem Zorn runterkommt, bleibt in der Geschichte offen. Aber ich stelle mir vor, wie Gott und Jona neben der verdorrten Staude plötzlich in ein befreiendes und «erlösendes Lachen» (Peter L. Berger) ausbrechen.
Ja, Gott lässt sich berühren und umstimmen, Gott liebt seine Geschöpfe und will ihre Rettung – unbedingt. Und Gott hat Humor …

Ich bin vergnügt, erlöst, befreit …; weil mich mein Gott das Lachen lehrt wohl über alle Welt. (H. D. Hüsch)

Von Annegret Brauch

24. Oktober

Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. 1. Johannes 1,9

Mir fällt zu diesem Satz alsbald die Geschichte vom verlorenen Sohn ein. Die Freude über seine Umkehr ist bei dem Vater so gross, dass er ihn ohne Vorleistung und Busse in die Arme schliesst. Ein Herzenstrost für uns alle ist der Schluss des Gleichnisses mit der Aufforderung an den älteren Bruder, doch fröhlich zu sein, denn «dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden». Wir sind selig, wenn wir wiedergefunden werden, auch wenn wir Unrecht getan haben. Ich glaube, die Einsicht in dieses Unrecht ist die Folge des Gefundenwerdens und nicht die Bedingung dafür.
Jesus erzählt zuvor zwei weitere Gleichnisse: das vom verlorenen Schaf und das von der verlorenen Münze. Weder das Schaf noch die Münze tun Busse, bevor sie gefunden werden – sie sind einfach fort und werden gesucht und gefunden. Und dann ist die Freude gross!
Es sind Gleichnisse für die Liebe Gottes, die bedingungslos ist und die uns gerade darum zurückholt aus unseren Irrwegen. Ich glaube fest daran, dass Gott uns Verlorene sucht. Wir sind doch ein wenig wie Kinder, die sich verstecken und gefunden werden wollen. Kennt ihr den Jubel, wenn das geschieht?

Gott, ich bin dankbar, wenn du mich (wieder) findest!

Von Elisabeth Raiser

23. Oktober

Wer aber sich vertieft in das vollkommene Gesetz der Freiheit und dabei beharrt und ist nicht ein vergess- licher Hörer, sondern ein Täter, der wird selig sein in seinem Tun. Jakobus 1,25

Jakobus gibt uns in diesem Abschnitt reichlich Gelegenheit, über das Zusammenspiel von aufmerksamem Hören von Gottes Wort und der daraus folgenden Handlung nachzudenken. Es begegnet uns wohl allen immer wieder, dass wir von einer guten Idee oder einer weisen Einsicht hören, ohne dass für uns daraus eine Tat, eine gute und sinnvolle Handlung folgt. Der Grund dafür ist nicht der mangelnde gute Wille, sondern die Schwierigkeit, aus einer Erkenntnis die richtige Tat zu folgern. Entweder es fehlt uns an Fantasie, oder wir scheitern an unserem Zweifel, ob wir das, was wir uns vorgenommen haben, auch durchführen können.

In einem früheren Vers aus demselben Kapitel heisst es:
«… nehmt an das Wort Gottes mit Sanftmut, das in euch gepflanzt ist und Kraft hat, eure Seelen selig zu machen.» Ich glaube, hier liegt das Geheimnis: Wenn wir Bibelworte lesen und hören, so haben sie oft eine Kraft, die uns von selbst nicht zuwächst. Sie können uns auch in der tiefsten Verzweiflung trösten, uns Mut machen, uns dankbar werden lassen – und daraus kann eine Handlung entstehen, die aus dem Herzen kommt – wie von einer inneren geheimnisvollen Führung geleitet. Es ist die Kraft der göttlichen Poesie.

Von Elisabeth Raiser

22. Oktober

Wir wissen nicht, was wir tun sollen, sondern unsere Augen sehen nach dir. 2. Chronik 20,12

Es ist die Zeit nach dem Exil. Die Geschichte des Volkes Israel wird weitergeschrieben. Und da ist die Angst vor einem neuen Krieg. «Wir wissen nicht weiter.» Wir könnten jetzt überlegen, was genau gemeint ist. «Sollen wir zu den Waffen greifen?» «Sollen wir einfach warten?» Die Augen schauen nach Gott. Von ihm erhoffen sich die Menschen eine Antwort. Im Text ist nicht von Angst die Rede, wohl aber von Nichtwissen. Wir sagen ja gerne, wir wollen hören, was Gott uns sagen will. Wie sieht die Lebendige unseren Weg? Wie sollen wir weitergehen? Wie wird unsere Geschichte weitergeschrieben? Wir leben in einer sich verändernden Welt. Manche sagen, wir leben in der Krise. Und da suchen wir nach Wegen, schauen auf Gott. Es geht nicht um das persönliche Tun, sondern um das Tun der Gemeinschaft. Kann sie auf Gott schauen? Kann sie schauen, dass der Weg der Geschichte in seinem Sinn weitergeht? Ich denke, dass die Gemeinschaft das kann, weil die Lebendige selber zu uns schaut, weil wir nicht alles aus eigener Kraft schaffen müssen. Wir sind gefragt, das zu tun, was Gott von uns erwartet: Dass es ein Weg ist, der nach Gerechtigkeit und Frieden sucht, einer, der geprägt ist vom Bestreben eines Lebens in Würde für alle Menschen. Schauen wir auf Gott!

Von Madeleine Strub-Jaccoud