Gedanken zur Jahreslosung von Hans Strub
Prüft alles und behaltet das Gute! 1. Thessalonicherbrief 5,21
«Heb der Sorg! Und bhüeti Gott!» So sagte meine Grossmutter
oft beim Abschied. Die vertrauten Wünsche taten
gut. Aber je älter ich wurde, desto weniger verstand ich, was
damit gemeint sein sollte. Anders als im «Behüte dich Gott»,
mit dem ich dem Schutz einer anderen, höheren Instanz
anbefohlen wurde, erhielt ich mit dem ersten Satz einen,
wie mir schien, unmöglichen Auftrag: Was war eigentlich
gemeint? Wie könnte ich das selber bewirken für mich? Es
dauerte einige Zeit, bis ich merkte, dass mir damit nicht nur
Verantwortung für mein eigenes Leben übertragen, sondern
auch die Freiheit zugesagt wurde, mit ihm zu machen, was
mir geeignet oder tauglich schien für meine Gegenwart und
Zukunft. Ich bin zugleich schutzbedürftig und selbstverantwortlich.
Ich darf mit Gottes Behütung rechnen, und ich
darf, nein, ich muss! auch für mich selbst sorgen.
Die Quelle
Am Ende des ältesten überlieferten Paulusbriefs (und damit
des ältesten Textes im Neuen Testament!) stehen vor den
Grussworten einige knappste Sätze, die sich wie eine Zusammenfassung
von Verhaltensweisen lesen, die sich aus dem
neuen Glauben ergeben, der im Leben, in den Handlungen
und den Worten des Jesus von Nazareth gründet. Von ihm
Mittelteil
ist Paulus bekehrt worden – nun wird aus dem Bekehrten
der leidenschaftliche Verkünder seiner Taten und Reden. An
die kürzlich gegründete Gemeinde in Saloniki (Griechenland)
schreibt er:
«Freut euch immer, hört nicht auf zu beten, sagt Dank in
jeder Lage, denn dies will Gott von euch in Christus Jesus.
Löscht die Geistkraft nicht aus, verachtet Prophezeiungen
nicht, doch prüft alles und behaltet das Gute. Haltet euch
vom Bösen fern, wie auch immer es aussieht!» (Übersetzung
aus «Bibel in gerechter Sprache» und «Basisbibel»)
Das Gute
Das Gute (griechisch: to kalón) meint das, was für mich
taugt, was meinem Leben gleichzeitig Boden und Zukunft
geben kann. Was zu mir passt, für mich also geeignet ist, gut
ist für das Eigene, was meiner äusseren und inneren Lebensform
entspricht, was meine «persona» (so, wie ich bin im
umfassenden Sinn) unterstützt und fördert. Das also, was
ich brauche, um so zu leben, wie es in mir angelegt ist und
wie ich es mir angeeignet und damit zu einem integralen,
unablösbaren Teil meines Selbst gemacht habe.
Prüfen
Das kommt mir aber nicht automatisch zu, von selbst, von
aussen oder vom Himmel geschickt, sondern da werde ich
nun eingeladen (oder noch mehr: aufgefordert, gar herausgefordert),
alles, was um mich ist, was auf mich zukommt,
was mir attraktiv erscheint, was mich begeistert … genau
anzuschauen, zu erwägen, eben zu «prüfen» (griechisch:
dokimázete). Also nicht spontan, ohne nachzudenken etwas
nehmen und mir zu eigen machen, mich etwas hinzugeben,
für das ich später Begründungen finden muss, die mir selber
nicht mehr klar werden, zum Beispiel einer Sache, einer verlockenden
Aufgabe, einer politischen Idee oder einer auf den
ersten Blick schlüssigen Theorie. Das «Prüfen» ist zweifellos
ein wichtiger Vorgang, aber auch ein oft zu schwerfälliger,
der mich geradezu am Leben hindert.
Behalten
Da kommt mir das andere Verb im kurzen Satz entgegen:
«behaltet» (griechisch: katéchete). Es hat für mich einen liebevollen,
entgegenkommenden, entlastenden Oberton: Haltet
das, was sich beim Prüfen als Ergebnis ergeben hat, erst
einmal fest – und testet es aus. Beobachtet genau, wie es bei
euch und in euch, auf euch und durch euch wirkt. Nehmt es
als vorläufige Orientierung und schaut, ob es wirklich taugt.
Seid dabei aufmerksam und selbstkritisch und seid ehrlich
bereit, allfällige Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten festzustellen
und zu verändern (im Unterricht in Chemie und
Physik habe ich gelernt, dass das Experiment immer recht
hat!). Das bedeutet dann halt, den ganzen Prozess erneut
zu starten und durchzuziehen, auch wenn’s mühsam ist …
Für alle
Ein Weiteres kommt hinzu: Erst im letzten Abschnitt habe
ich das Briefzitat wirklich wörtlich genommen: Es ist im
Plural geschrieben und an die junge Gemeinde in Thessalonich
gerichtet. Es passt durchaus auch auf jede/jeden Einzelnen,
aber hier spricht Paulus ganz klar von «ihr/euch».
Das heisst, dass der beschriebene Prüfprozess als Gemeinde,
als Gemeinschaft durchlaufen werden soll – die gewählten
Verbformen sind eindeutige Imperative und meinen, dass
das zu einer Gemeinde in der Nachfolge Christi gehört.
Fast alle Anweisungen im Alten und im Neuen Testament
sind im Plural formuliert, zentrale Beispiele sind die Zehn
Gebote oder das Unservater. Der Glaube, von dem die ganze
Bibel spricht, ist kein individualistischer, sondern er ist auf
die Gemeinschaft der Glaubenden gerichtet. Und darüber
hinaus letztlich auf alle anderen und auf die ganze Welt.
Wenn in der Jahreslosung vom Prüfen und Behalten die
Rede ist, dann geht das also weit über das Persönliche hinaus;
es ist eingeschlossen und mitgemeint, aber die Anforderungen
und Herausforderungen erschöpfen sich nicht darin. Sie
betreffen das Leben aller Menschen (im ersten Testament
steht dafür sehr oft der Begriff «Volk»), wo immer sie auch
sind, was immer sie auch beschäftigt, wo immer auch Armut
herrscht oder Ungerechtigkeit oder Krieg. Das ist immer
etwas, das die ganze Gemeinde betrifft.
Für heute
Oder für heute übersetzt: alle Kirchen und Gemeinschaften
von Menschen, die ganze Politik. Es gibt keine Bereiche, die
nur bestimmte Gruppen etwas angehen. Im «ihr/euch» sind
immer alle dabei. Hunger oder Krieg gehen alle etwas an.
Und alle sind aufgerufen, hier das Rechte zu tun!
Politisches Denken ist den Glaubenden genauso aufgetragen
wie diakonisches Handeln gegenüber den Schwachen
der ganzen Gesellschaft.
Wünsche
«Heb der Sorg! Und bhüeti Gott!»
Die eingangs wiedergegebenen Wünsche auf den Weg sind
zwar individuell adressiert, aber eigentlich stehen sie in
einem viel weiteren Rahmen.
«Hebed euch Sorg!» und «Bhüet euch Gott!»
So betreffen die Wünsche den Weg der ganzen Gesellschaft
dieser Welt. Uns allen ist Gottes Schutz zugesagt, uns allen
kommt die Aufgabe zu, zu prüfen, was für alle jetzt gut und
tauglich ist, damit die Welt eine gute Zukunft hat!
Auf ein gutes Jahr!
Von: Hans Strub