Autor: Benedict Schubert

28. April

Erhalte mein Herz bei dem einen, dass ich deinen Namen fürchte. Psalm 86,11

Kaum eine, kaum einer setzt sich wohl Einfalt zum Ziel. Im Lied vom aufgegangenen Mond mögen wir zwar darum bitten: «Lass mich einfältig werden.» Aber das tun wir bloss, weil der Text so alt ist und die Melodie so vertraut. Wer will schon einfältig werden? Wenn, dann schon eher englisch: «Simplify your life!» Viele finden ihr Leben mit gutem Grund zu kompliziert.

Ich habe es gerne anschaulich: Wenn du ein Blatt einmal faltest, bleibt die Oberfläche glatt. Du kannst darauf schreiben oder zeichnen. Staub und Schmutz lassen sich leicht abwischen. Wenn du ein Blatt vielfach faltest oder gar aus Zeitgründen zerknüllst, bekommst du es nicht mehr flach. Was geschrieben ist, wird verzerrt, und immer bleiben Sandkörner in den Knitterfalten hängen. Im Psalm 86 meldet sich eine Stimme aus einem komplizierten Leben, mit einer zerknitterten und vielfach gefalteten Seele. Sie möchte einfältig werden und vor dem Ewigen auf Erden wieder – wie ein Kind – fromm und fröhlich sein. Vom Psalm über Matthias Claudius bis zu unserer Zeit überbordender Möglichkeiten und Ansprüche wird die Bitte weiter überliefert, weiter gebetet, weiter geseufzt: Lass mich zur Konzentration finden, zur Ausrichtung und Entlastung auf die Mitte hin, bei dir, Gott, der du meines Lebens Mitte bist.

Die Sonntagsruhe ist übrigens ein schöner Ausdruck dieser Sehnsucht.

Von: Benedict Schubert

27. April

Du sprachst: Ich bin unschuldig; der HERR hat ja doch seinen Zorn von mir gewandt. Siehe, ich will dich richten, weil du sprichst: Ich habe nicht gesündigt. Jeremia 2,35

«Dieu me pardonnera, c’est son métier.» Von Berufs wegen soll und wird Gott vergeben. Heinrich Heine hat wortgewandt, aber zugleich arrogant Gottes Gnade zu einer Eigenschaft gemacht, die wir in unsere Berechnungen miteinbeziehen können. Gleichzeitig entledigen wir uns damit der Last, als die die Sünde auf uns liegt. Mit einem rhetorischen Kniff haben wir sie wegerklärt. Die Entlastung, die uns aus Barmherzigkeit geschenkt wird, verschaffen wir uns selbst durch Wortwitz.

Eine Begnadigung ist kein Freispruch. Das Ergebnis mag dasselbe sein: Ich muss die Kosten, die Folgen meines Handelns nicht tragen. Doch nur wenn du freigesprochen wirst, kannst du dich als unschuldig bezeichnen. Wer begnadigt wird, weiss: Ich bin noch einmal davongekommen. Gott eröffnet mir einen Neuanfang. Was ich vorher falsch gemacht, wo ich anderen geschadet habe, das kann ich jetzt gutmachen. Ich kann zum Beispiel lieben, anstatt rücksichtlos meine Interessen zu verfolgen.

Wer das nicht einsieht, wird gerichtet: Es ist vor Gott und für Gott nicht alles gleichgültig. Ich werde noch einmal erkennen müssen, was ich getan habe. Dann wird es erneut Gottes Gnade sein, die mich davor bewahrt, durch diese Erkenntnis vernichtet zu werden.

Von: Benedict Schubert

7. April

Die Israeliten sprachen zum HERRN: Wir haben gesündigt, mache du es mit uns, wie dir’s gefällt; nur errette uns heute! Richter 10,15

Nein, wir sind nicht bloss schwach geworden bei einer
süssen Verführung. Nein, wir haben nicht bloss aus Faulheit
oder Gedankenlosigkeit etwas gesagt oder getan, was unanständig ist. Nein, wir haben nicht mutwillig oder trotzig
das missachtet, was man den «moralischen Kompass»
nennt oder auch den «gesunden Menschenverstand».
Viel schlimmer und zugleich viel heikler, weil es so schnell
passiert: Wir sind aus der Liebe ausgestiegen. Wir haben
ihrem Zug nicht mehr nachgegeben, ihren Schub nicht mehr
genutzt. Obwohl wir tief in uns wussten, dass das hier und
jetzt nicht möglich ist, haben wir gemeint, wir könnten einen
Kompromiss machen: Die Liebe irgendwie kombinieren mit
unserem Sicherheitsbedürfnis oder unserem Wunsch, uns
allen anzupassen, mit unserer Lust auf Einfluss oder unserem Hang nach Bequemlichkeit. Eben: Wir haben gesündigt,
und jetzt kriegen wir es nicht mehr hin, sondern sind dir
ausgeliefert. Wenn du nicht du wärst, der gnädige, barmherzige, freundliche, das Leben schaffende und schützende
Gott, müssten wir vor Angst vergehen. Aber weil du du
bist, überlassen wir uns dir und deiner Gnade. Wir verlassen
uns darauf, dass du uns in Sicherheit bringst, in die Freiheit
führst, leben lässt.

Von: Benedict Schubert

28. Februar

Auf dich, HERR, mein Gott, traue ich! Hilf mir von
allen meinen Verfolgern und rette mich.
Psalm 7,2

Einem guten Freund von mir ist vor etlichen Jahren die Flucht aus Burma gelungen, aus Myanmar, wie es offiziell heisst. Er ist Sohn eines Baptistenpfarrers. Aufgewachsen ist er im Nordwesten des Landes. Während des Studiums wurde er einer der führenden Köpfe der Demokratiebewegung unter Studierenden, die sich für das Ende der Militärdiktatur einsetzten. Bei den Machthabern machte er sich nicht beliebt. Zum Glück wurde er gewarnt und konnte fliehen. Seine ganze Fluchtgeschichte ist zu spannend und farbig, als dass sie hier Platz hätte; inzwischen hat er einen Schweizer Pass, lebt mit seiner Familie in Basel, ist in der Kirche engagiert. Bei allem bleibt er verbunden mit seinem Land. Ich erinnere mich, wie glücklich er war, als die Militärs wenigstens anfingen, die Macht zu teilen. Nun konnten Freundinnen und Freunde aus der Schweiz seine Heimatkirche besuchen. Es kam zu berührenden Begegnungen. Doch das Militär hielt den Machtverlust nicht lange aus und übernahm 2021 erneut die Macht. Die Lage ist finsterer denn je; Tausende haben schon ihr Leben verloren.
Den Christinnen und Christen Burmas wird es nicht schwerfallen, den heutigen Losungsvers mitzubeten. Ich erinnere heute beispielhaft an sie. Es gibt Millionen von Glaubensgeschwistern, die leider nur zu genau wissen, wer ihre Verfolger sind. Mit ihnen flehen wir um Bewahrung.

Von: Benedict Schubert

27. Februar

Wasche mich rein von meiner Missetat und
reinige mich von meiner Sünde.
Psalm 51,4

Ganz junge und ganz alte Menschen waschen sich nicht selbst, sondern geben sich dazu anderen in die Hände. Wenn diese sie mit Liebe und Behutsamkeit waschen, ist es eine Wohltat, eine Erfrischung, die bis ins Herz reicht. Umgekehrt ist es erniedrigend, wenn Kleinkinder oder alte Menschen in ihrem Dreck liegengelassen werden. Solche Verwahrlosung stinkt zum Himmel.
Unser Psalmbeter weiss: Wir sind im Blick auf den Dreck, der an unserem inneren Menschen klebt, wie kleine Kinder oder wie kraftlos gewordene Alte. Er weiss: Von mir aus kriege ich mich nicht sauber. Ich werde die Sünde nicht los, die auch zum Himmel stinkt.
Sünde ist nicht bloss ein moralischer Fehltritt. Sünde ist all das, was ich nicht aus Liebe und in Liebe tue, sage, denke, unterlasse. Sünde passiert mir öfter aus Versehen, aus Unachtsamkeit, aus Bequemlichkeit oder Müdigkeit, als dass ich sie bewusst und mutwillig täte. Ich bin wie ein Kleinkind zu ungeschickt, meine Feinmotorik der Liebe ist noch zu wenig ausgebildet. Und wie ein alter Mensch vergesse ich, was ich eigentlich hätte tun sollen, oder bin zu schwach, es zu tun. Doch deswegen bleibt die Sünde dennoch in meiner Verantwortung; sie bleibt meine Sünde – wenn Gott mich nicht reinwäscht. Er tut es liebevoll und behutsam.

Von: Benedict Schubert

7. Februar

Der HERR züchtigt mich schwer;
aber er gibt mich dem Tode nicht preis.
Psalm 118,18

«Take 6» ist ein Vokalensemble von virtuosen afroamerikanischen Sängern; ihre grosse Zeit hatten sie in den 1990er-Jahren. Auf einer ihrer CDs haben sie eine Art moderne Version von Psalm 118 aufgenommen: «Sunday’s on the way» (Das lässt sich im Internet leicht finden und anhören). Mit viel Witz singt «Take 6» von einer Party, die die bösen Geister organisieren, weil es ihnen gelungen ist, die Hinrichtung von Jesus zu organisieren. Nur der Teufel ist ein bisschen unruhig, weil er nicht vergessen kann, dass da von Auferstehung die Rede gewesen ist. Besorgt telefoniert er immer wieder mit einem seiner Diener, die am Grab Wache stehen. Der meldet jedes Mal zurück, der Chef solle sich entspannen, es sei alles unter Kontrolle, bis – Schock! Schrecken! – das Grab eben doch leer ist: Resurrection Power – die Kraft der Auferstehung. Im Refrain heisst es: It may seem like Friday night, but Sunday’s on the way! – Es mag nach Freitag aussehen, aber der Sonntag ist am Kommen!
Psalm 118 ist ein Sonntags- und Osterpsalm. Doch er weiss: Das Übel, das uns «umschwirrt wie Bienen», die Zumutungen, die wir als «Züchtigung» erleben, werden uns nicht erspart. Jede, jeder von uns kennt Karfreitagszeiten, doch das soll uns nicht fertigmachen: Der Sonntag ist am Kommen – Sunday’s on the way!

Von: Benedict Schubert

7. Dezember

Die Israeliten schrien zu dem HERRN und sprachen: Wir haben an dir gesündigt, denn wir haben unseren Gott verlassen. Richter 10,10

Wenn mir etwas nicht wunschgemäss läuft, wenn meine Pläne schmerzhaft durchkreuzt werden, bin ich versucht, ins «Drama-Dreieck» einzutreten: Ich bin Opfer; Täter:innen sind die, die mir das Leben schwer machen. Ist das einmal definiert, bleibt für Dritte nur noch die Rolle der Retter:innen. Und damit fängt das Dreieck an zu drehen. In immer rascherem Tempo wechseln wir die Rollen, aber wir bleiben im Dreieck gefangen: Das Opfer wird zum Täter, die Retterin zum Opfer, die Täterin zum Retter und so weiter. In privaten und in öffentlichen Konflikten lässt sich dies noch und noch beobachten.
Die heilvolle Alternative besteht darin, dass ich Verantwortung übernehme: Ich anerkenne meinen Anteil am Konflikt. Das geschieht im heutigen Losungsvers. Und deswegen bleibt die Lektüre der Bibel immer wieder faszinierend. Das Volk Gottes schreibt seine Geschichte nicht wie andere als Triumph- oder eben Opfergeschichte. Es hätte sich als Opfer beklagen können über die bösen Philister und Ammoniter.
Stattdessen fragt es nach seiner eigenen Verantwortung und Schuld und gibt zu: Wir sind vom Weg der Gerechtigkeit und des Friedens abgekommen. Das lässt die Ewige nicht ungerührt, und sie schenkt Freiheit und Frieden.

von: Benedict Schubert

7. Oktober

Elia betete: Erhöre mich, HERR, erhöre mich, dass dies
Volk erkenne, dass du, HERR, Gott bist und ihr Herz
wieder zu dir kehrst!
1. Könige 18,37

Der grosse Showdown auf dem Berg Karmel. Wer ist Gott –
Baal oder der, dessen Name nicht ausgesprochen werden
darf: der Ewige, der Israel in die Freiheit geführt und in der
Freiheit des Vertrauens leben lassen will? Zwei Altäre werden
gebaut, Holz aufgeschichtet, je ein Opfertier vorbereitet. Baal
soll auf das Gebet der Priester, der Ewige auf das Gebet des
Propheten Feuer vom Himmel fallen lassen. Der Gebetstanz
der Priester ist vergeblich. Elia traut der Gottesflamme viel
zu; er lässt seinen Altar noch ausgiebig benetzen. Gott hört
und handelt. Sein Feuer verzehrt Tier, Holz, Steine, Staub
und Wasser. Elia meint dann, er müsse die Macht des Ewigen
noch durch ein grauenhaftes Gemetzel an den Baalspriestern
unterstreichen. Ob er dadurch dazu beitrug, dass Gott die
zweite Hälfte des Gebets nicht erfüllte? Es kam nicht zur
Umkehr. Das Volk richtete sich nicht wieder auf den Ewigen
und Sein Wort aus, der König erst recht nicht.
Nein: Machtdemonstrationen braucht es keine, aber den
Nachweis der Liebe, Beweise der Gerechtigkeit. Dann kann
ich gerne mit Elia beten: «Gott des Lebens, das, was ich sage
und tue, wie ich mein Leben gestalte – mein Zeugnis also –
soll dazu beitragen, dass Menschen dich erkennen und aus
deiner Liebe leben.»

Von: Benedict Schubert

7. August

Josef blieb im Gefängnis, aber der HERR war mit ihm. 1. Mose 39,20.21

Das ist der irritierende Drehpunkt in der farbigen Erzählung,
wie Josef, nachdem er es zu hohem Ansehen gebracht hatte,
zu Unrecht eines sexuellen Übergriffs beschuldigt und deswegen
ins Gefängnis geworfen wird. Das Unrecht wird nicht
aufgedeckt. Josefs Unschuld wird nicht anerkannt, er wird
nicht freigelassen. Aber – oft kommt nach einem «Aber»
das Entscheidende – die Haft ist nicht ein Zeichen dafür,
dass Gott Josef verlassen hätte. Das Gefängnis ist im Gegenteil
der Ort, an dem Gott mit Josef ist – und wo Gott viel
mit ihm vorhat.
Wir glauben und bekennen, dass Gott mit allen ist, die
gefangen gehalten werden. Das bezeugt uns der gefangene,
gefolterte, hingerichtete Christus. Das soll uns aber nicht
dazu verführen, den Kampf gegen Folter und Willkür aufzugeben,
uns nicht für das Recht der Gefangenen und ihre
Befreiung einzusetzen. Sie sollen nicht verzweifeln müssen,
nicht am Unrecht zerbrechen, das ihnen angetan wird.
Neben der Losung steht indessen ein kurzer Text von Dietrich
Bonhoeffer. Mir kommt Nelson Mandela in den Sinn.
Oder Marie Durand in ihrem «Standhaftigkeitsturm», der
Tour de Constance. Sie stehen für das tiefe Geheimnis, dass
Gott manche nicht aus ihrer Bindung, ihrer Gefangenschaft
befreit, weil Gott – darin liegt die Irritation dieser Losung –
genau darin Erstaunliches bewirkt.

Von: Benedict Schubert

7. Juni

Wandelt auf dem Weg, den euch der HERR, euer Gott,
geboten hat, damit ihr leben könnt.
5. Mose 5,33


Den Abschluss der Tora, der kostbaren Sammlung der Weisungen
der Ewigen, bildet der Aufruf zur klaren Entscheidung
zwischen Segen und Fluch, Leben und Tod. Weil Gott
der Gott des Lebens ist, fleht Gott sein Volk förmlich an,
es solle sich für das Leben entscheiden, unter dem Segen
weitergehen, nicht unter dem Schatten eines Worts, das die
Kraft hat, unser Leben zu beschädigen.
Es geht um eine grundsätzliche Ausrichtung – und darum,
sie täglich mehrmals in die kleinen Entscheide zu übersetzen,
die ich auf meinem Weg zu treffen habe. «Wandeln» sollen
wir (nicht einen rigiden frommen Moralismus vertreten; das
wäre viel zu billig); ich soll mich bei jeder Weggabelung fragen:
Führt der Weg zum Leben eher links oder rechts durch?
In welcher Richtung kommt zum Ausdruck, dass und wie ich
glaube, hoffe und liebe? Wo wird deutlicher sichtbar, dass ich
Jesus nachfolge? Was bedeuten in der Praxis mein Bekenntnis
und mein Vertrauen, dass «Leben» genau so geht, wie
er es vorgelebt hat?
Es geht um Leben oder Tod. Das muss uns aber deshalb
nicht unter Druck setzen, weil wir uns darauf verlassen: Gottes
Geistkraft leitet uns. Und Gottes Barmherzigkeit fängt
uns ab und lässt uns umkehren, wenn wir uns auf Abwege
begeben.

Von: Benedict Schubert