Autor: Gert Rüppell

13. Dezember

Ihr sollt den HERRN, euren Gott, nicht versuchen. 5. Mose 6,16

Die Tendenz, seinem Gott nicht treu zu sein, ist ein durchgängiges Thema, mit dem das Volk Israel seine Beziehungsgeschichte mit Gott häufig beschreibt. So auch hier, wo  die Passage ein Rückverweis auf das Murren des Volkes am Horeb (Massa) ist, das angesichts ungenügender Lebensumstände an der Existenz Gottes gezweifelt hatte (2. Mose 17,7). Der heutige Losungsvers verweist in seinem Kontext (Kapitel 6) auf zwei zentrale Elemente der Gott-Mensch-Beziehung. Zum einen auf die Liebe Jahwes als Wesen des Gesetzes und somit sein zentrales Interpretament und zum anderen die Treue zu Gott als die erwartete Antwort durch den Menschen. Treue kennt Versuchung nicht, weil eine Beziehung, die auf Treue basiert, das Gegenüber nicht in Versuchung führen will. Also: «Und führe uns nicht in Versuchung», sondern gib uns eine der Treue und dem Wesen deines Gesetzes, der Menschenliebe, entsprechende Beziehung. Den Herrn nicht zu versuchen, bedeutet also nicht allein, Gott ernst zu nehmen, sondern auch, seine Ordnung, seine Bestimmungen für uns Menschen in Nächstenpraxis umzusetzen und so für andere Gottesnähe zu verkörpern. Deshalb steht die Losung im Rahmen jenes grossen israelischen Glaubensbekenntnisses: Sh’ma Yisrael, höre Israel, der Lebensanweisung für ein Volk, dessen Leben von Nähe zu Gottes Willen bestimmt ist.

Von Gert Rüppell

14. Oktober

HERR Zebaoth, du bist allein Gott über alle Königreiche auf Erden, du hast Himmel und Erde gemacht! Jesaja 37,16

Wieder einmal geht es um Macht, um Fragen der Vorherrschaft, um die Frage, wer denn der Grössere ist und wer mehr zu bieten hat. Alles Fragen, die uns im Alltag und in der Auseinandersetzung mit den «Herren» von gestern und heute nicht fremd sind. Es scheint die imperiale Frage par excellence zu sein. Die danach, welche der Geister, die ich rief, Sieg und Kontrolle bewahren werden. Jesajas Bericht über Hiskias Bedrohung durch die Syrer, genauer durch Sanherib, zeigt eine aussichtslose Situation. Ist es doch die Grossmacht Assyrien, die das kleine Juda angreift. Die Parallelitäten zu heute erscheinen nur zu offensichtlich, und doch: Wer neigt sich zuletzt vor wem? Wen verführen nicht Versprechungen von Milch und Honig, Wohlergehen und Landbesitz, wie sie Sanherib verlauten lässt? Wer, angesichts solch sicherer Zukunft, wagt es, auf das Versprechen zu setzen, dass der Weltenschöpfer Jahwe Juda retten wird? Also jemand ohne politischen Apparat? Viel Wagemut gehört dazu. «Du hast Himmel und Erde gemacht», dieser Verweis ist es, der meines Erachtens für die Anrufer Jahwes gegenüber Sanherib spricht. Ja, die angebotenen Versprechen sind gross, unbezweifelbar, aber doch nicht so gross wie die Schöpfungsleistung Zebaoths. Die eigentliche politische Grosstat, der sich Juda anvertraut, ist diese Schöpfungsleistung Gottes.

Von Gert Rüpell

Von Gert Rüpell

13. Oktober

Bringe uns, HERR, zu dir zurück, dass wir wieder heimkommen; erneuere unsere Tage wie vor alters! Klagelieder 5,21

Das Bild des alten Busfahrers, der, mit einer Ikone als Hoffnungsbild im Frontfenster seines Busses, in abenteuerlicher Fahrt versucht, verzweifelte Bewohner einer unter Beschuss stehenden Siedlung in Sicherheit zu bringen. Oder das Bild von Sabrina, die aus dem sicheren Westen unbedingt in ihre Heimat zurückwill, dorthin, wo ihr Mann ist, der Ort, den sie als Heimat kennt und ohne den es in ihrem Leben keine Erneuerung geben kann. Solche Bilder prägen sich mir ein, wenn ich die Klage der Losung lese. Es sind Klagen, wie sie Menschen, die in die Fremde vertrieben wurden, in ihren Gebeten zum Ausdruck bringen. Hier spiegelt sich weltweit die Sehnsucht nach Rückkehr wider, nach Wiederaufbau der zu Ruinen verfallenen Häuser, und die Hoffnung auf Erneuerung des zerstörten eigenen Lebens. Diese Hoffnung ruht auf Gott. Symbol dafür ist die Ikone oder die Gebetskette in einem syrischen Bus. Immer ein Symbol dessen, der allein Erneuerer, Wiederhersteller von Lebensgestaltung sein kann, mit der Heimat umrissen wird.
Viele Menschen betonen heute, dass sie Erneuerung herstellen können. Viele Hoffnungen werden so artikuliert und ebenso viele enttäuscht. Die Beter dieses Liedes aber wissen: Erneuerung, Wiederherstellung gibt es allein durch Gott, Gott, symbolisiert in der Ikone oder der Gebetskette in den Flüchtlingsbussen dieser Welt.

Von Gert Rüppell

14. August

Wer ist dem HERRN gleich, unserem Gott, der hoch droben thront, der tief hinunterschaut auf Himmel und Erde! Der aus dem Staub den Geringen  aufrichtet. Psalm 113,5

Zwei Linien zeichnet der Psalmist. Jene des Throninhabers, der so hoch  über  dem  Normalmenschen  ist,  dass er sogar noch auf den Himmel hinabschaut. Hier kommt mir die Geschichte vom Turmbau zu Babel in Erinnerung (1. Mose 11). Der Mensch will hoch hinaus in den Himmel und trotzdem muss Gott «herabsteigen», um sich ein Bild von dieser menschlichen Höhe machen zu können. Ähnliche Dimensionen weist dieser Psalm auf. Jahwe thront in seiner Majestät so hoch, dass er tief hinunterschauen muss, um die «Grosstaten» der Menschen wahrzunehmen. Und zugleich betont der Psalm die andere Seite dieses Erhabenen, seine diakonische Gabe, würden wir möglichweise sagen, die den im Staub Liegenden, den unter die Räuber Gefallenen, den Geringen im gesellschaftlichen Wertekanon aufrichtet. Dieses Oben-unten-Verhältnis ist meines Erachtens die Botschaft, die der Psalmist zusprechen will: Wie hoch ihr zu thronen meint, nie seid ihr so hoch wie Jahwe. Schaut wie dieser hinunter, dorthin, wo die im Staub Liegenden sich befinden. Sie aufzurichten, ist euer gottgemässes Tun. So kennzeichnet sich aus der Perspektive von oben eine Ökonomie des Lebens, der Ertüchtigung für die da unten. Wir sind nie gottgleich, aber wir können unseren Blickwinkel so ausrichten, dass wir jene sehen, denen Gott aufhilft.

Von Gert Rüppell

13. August

Der Knecht Gottes sprach: Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg  ich nicht vor Schmach und Speichel.                      Jesaja 50,6

Zwei Umstände begleiten mein Nachdenken über diesen Text. Ich schreibe am Tag der orthodoxen Ostern – in der Nacht haben Raketenwerfer weiterhin Tod, Feuer und Zerstörung in der Ostukraine und darüber hinaus verbreitet. Zugleich radikalisiert der Text meine Verunsicherung, wie ich mit all den Diskussionen um schwere Waffen, Angriffskrieg und Aug’ um Auge mit den Gefühlen umgehen soll, die meinen grundsätzlichen Pazifismus in jüngster Zeit so sehr verunsichern. Die Losung ist klar: «Mein Angesicht verbarg ich nicht.» Gilt also «klare Kante»? Gilt also angesichts eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, sich dennoch allem feindlichen Gerede mit der Botschaft der Versöhnung, des Dialogs entgegenzustellen, zumindest in den Diskussionen, in denen es eben doch um das Prinzip Aug’ um Auge geht? Wenn es stimmt, was ich neulich von einer Freundin hörte, dass wir in Krisensituationen dem Evangelium keinen Deut abhandeln können, indem wir auf die Sonderbedingungen verweisen, in denen wir uns befinden, dann bleibt eben doch für mich bei diesem Text ein Verweis auf die Ungeheuerlichkeit, die der biblische Anspruch für mich darstellt. Und somit auch ohnmächtige Stille …

Von Gert Rüppell

14. Juni

Wenn der HERR nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst.                       Psalm 127,1

Deutlicher kann eigentlich der Kontext nicht beschrieben werden, in den all unser Tun und Lassen einzuordnen ist. Der Psalm verweist auf unser gesamtes Sozialwesen, Familie, Haus, Arbeit. Dies alles ist wichtig und doch nichts, wenn Gott es nicht behütet, bewacht und umsorgt. Eine starke Botschaft, denke ich, in einer Zeit, in der so viele Menschen sich die Verantwortung für das eigene Tun nicht aus der Hand nehmen lassen wollen. Ich muss dabei an die Vereidigung der neuen deutschen Regierung denken. 2021 kam diese scheinbare «Selbstverantwortung» darin zum Ausdruck, dass mehrheitlich beim Amtseid auf die «Bezugsformel» «so wahr mir Gott helfe» verzichtet wurde. Es erinnert an so manches, was zum Kontext dieses Psalms gehört: Selbstherrlichkeit, religiöse Beziehungslosigkeit und das Bewusstsein davon, dass allein eigene Rationalität zählt.

Dies gab es wohl auch zu Salomos Zeiten. Deshalb betont der Psalm, dass all unser Tun der Verortung in der Allsorge Gottes bedarf. Der Sorge für die Schöpfung, dem Beziehungsgeflecht, von dem wir Teil sind. Auch dann, wenn sich der Mensch dieser Teilhabe nicht mehr bewusst ist. Denn dann gleicht der Mensch dem Wächter, der hütet und dem doch die Aufgabe misslingt, wenn nicht letztlich Gott, wie der gestrige Text sagte, mit Gerechtigkeit und Allsorge den Schutzrahmen stellt.

Von Gert Rüppell

13. Juni

Erhöre uns nach der wunderbaren Gerechtigkeit, Gott unser Heil (der du bist die Zuversicht aller auf Erden und fern am Meer).                                         Psalm 65,6

Der heutige Text ist der Scheitelpunkt des 65. Psalms, was sehr schön deutlich wird, wenn wir den ganzen Vers lesen. Um Erhörung im Kontext der Gerechtigkeit Gottes bittet der Psalmist. Ein Ruf um Vergebung? «Wohl dem, der seine Missetat erkennt und sich zu Gott wendet.» (Verse 4–5) Jenem Gerechten also, so zeigt die zweite, hier mitzitierte Hälfte des Verses, der nicht nur Macht, Kraft und Vergebung im «Portemonnaie» seiner Gerechtigkeit hat, sondern auch die Zuversicht seiner gesamten Schöpfung darstellt. Die Fröhlichkeit, die dies auslöst, wird in wunderbaren Worten beschrieben. Sie verdeutlichen, warum der Psalmist von Heil und Zuversicht aller auf Erden und fern am Meer redet. Um die Fülle des Heils zum Ausdruck zu bringen und so gegen die Missetat so recht abzugrenzen, greift er in das gesamtschöpferische Vokabular: Wasser die Fülle, feuchte Schollen, reiche Ernten, grünende Steppen, grosse Herden und saftige Kornfelder. Wer sollte da nicht jauchzen und singen und Gott, unser Heil, um Erhörung anrufen? Um uns in dieses Heil, diese seine Wohlfahrt, dieses sein Haus (Vers 5) aufnehmen zu lassen, nach all dem, was wir verbockt haben. Auf dieses Handeln, diese Gerechtigkeit Gottes, diese seine Gnade zielt ja letztlich auch unser tägliches Hoffen im Wissen um das Wirkungsfeld seiner Barmherzigkeit.

Von Gert Rüppell

14. April

Mir sollen sich alle Knie beugen und alle Zungen schwören
und sagen: Im HERRN habe ich Gerechtigkeit und Stärke.

Jesaja 45,23–24

Ich möchte diesen Text einmal umdrehen und von der zweiten Hälfte her lesen: «Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke» ist die Aussage derjenigen, deren Knie sich beugen, als ein deutliches Zeichen des Sich-klein-Machens vor der Grösse eines anderen. Der andere ist hier «JAHWE», der uns auffordert, die eigene Grösse nicht zu überschätzen in dem Wissen, woher Gerechtigkeit, Anteilhabe an den Gütern der Schöpfung und je eigene Stärke und Macht kommen. Das letztlich verweist uns auf unsere Möglichkeiten.
Das Abendmahl, dessen wir am heutigen Gründonnerstag besonders gedenken, verweist für mich auf Ressourcenteilung und Möglichkeiten. Brot und Wein werden, ausgehend von Jesus, mit allen geteilt, auch mit Judas. Diese Gleichheit aller ist die Basis unserer Stärke, aus der heraus wir leben können. Einer Stärke in Gemeinschaft von Christen und, darüber hinaus, aller Geschöpfe Gottes. Das heute erinnerte, eingesetzte Mahl ist die Basis dieses Grundwissens um gerechtes Teilen, Enpowerment . Aus dieser Gerechtigkeit erwächst die Stärke, die in den Schwachen mächtig ist. Es ist Stärke, die sich willig vor Gott klein macht im Wissen, dass allein in diesem HERRN unsere eigene Stärke ruht.
Von Gert Rüppell


13. April

Er wird herrlich werden bis an die Enden der Erde.
Micha 5,3

Der heutige Losungstext stammt von jenem kleinen Propheten, der, zeitgleich mit Jesaja, auch der «Amos des Südreichs» genannt wird. Ähnlich wie dieser klagt er die Korruption und das soziale Fehlverhalten der herrschenden Eliten an. Ihrer religiösen Selbstsicherheit setzt er die Prophetie der Zerstörung Zions (Jerusalems) entgegen. «Was kann uns schon passieren, wir haben das Heil doch in unserer Mitte?» (3,11)
Micha prophezeit die Vernichtung des Tempelberges und die Ankunft einer neuen Zeit am Ende der Tage. Es ist dies die Zeit der Fürsorge für die Geschundenen, Behinderten, Entrechteten, in der er «in der Kraft des HERRN auftreten und ihr Hirt sein wird», wie die Einheitsübersetzung diesen Text wiedergibt. Dann werden sie, die Opfer des Unrechts, in Sicherheit leben; denn nun reicht seine Macht bis an die Grenzen der Erde.

Der Text  zieht mich in seinen Bann, ist er doch für den Karmittwoch, der altkirchlich dem Gedenken an den Verrat des Judas gewidmet war, eine spannende Verbindung von Schuld und Sühne. Gott greift ein, trotz oder gerade wegen allen  Fehlverhaltens der Menschen. Auf seine Gnade, so mag ich es lesen, verweist uns dieser Mittwoch vor dem Osterfest.

Von Gert Rüppell

14. Februar

Mit Freuden sagt Dank dem Vater, der euch tüchtig gemacht hat zu dem Erbteil der Heiligen im Licht. Kolosser 1,11–12

Tüchtig machen, ertüchtigen, im Englischen gibt es den Begriff empowerment, d. h. eine Sache angehen können, sie mit neu gewonnener Stärke bewältigen. Im Text geht es um Dank für die Befähigung, ein Erbe mit Freuden als Treuhänder*in zu verwalten.

Oft nutzt das Neue Testament dabei die Metapher des Lichts als Symbol für Reinheit. Im Kontext des gestrigen Textes, auf den sich der heutige Losungstext wunderbar beziehen lässt, ist es die Reinigung von der Missachtung alt- und neutestamentlicher Werteordnungen wie Gottesglaube, Liebe, Gerechtigkeit, Hoffnung, denn durch sie leben wir als Gemeinde. Unser Glaubensbekenntnis umreisst in der Aussage «eine heilige, allgemeine, christliche Kirche» die Kriterien dieses Lebens.

Jürgen Moltmann hat einmal sehr schön gefragt, warum in der Beschreibung von Kirche (d. h. doch unserer Gemeinschaft) eigentlich der Begriff «arm» fehlt, um zu ergänzen, dass er in «heilig» enthalten ist. Heilig im Licht zu sein, bedeutet somit auch, einen Lebensstil zu führen, der genügsam, die Schöpfung bewahrend, solidarisch, ökumenisch, gemeinwohlorientiert ist. Hierzu hat uns Gott befähigt – ihm sei Dank.

Von Gert Rüppell