Monat: Januar 2024

Mittelteil Januar / Februar

Was spriesst denn da?


Im Frühling 2022 liess ich beim Stützpfosten unseres Balkons
vom Gärtner eine Glyzinie pflanzen – nach Absprache mit
den Nachbarinnen und der Verwaltung. Ich spannte Schnüre
zum Balkongeländer hinauf, band die ersten Triebe daran
fest, um ihnen den Weg nach oben zu erleichtern, und goss
die Pflanze in den ersten Wochen regelmässig.
Sie gedieh. Schon im ersten Sommer guckte sie vier Meter
ab Boden über unser Balkongeländer. Wir bahnten ihren
Aufstieg mit weiteren Schnüren.
Nun hat sie im zweiten Sommer bereits den zweiten und
dritten Balkon erreicht, und wir überlegen, ob und wie wir
uns weiter zuwachsen lassen wollen. Für nächstes Jahr hoffen
wir auf die ersten Blüten.
Was mich immer neu fasziniert: Wenn die Verhältnisse stimmen
– Erde, Wasser, Luft, Licht –, dann wächst meine Glyzinie
– oder irgendeine Pflanze – unwiderstehlich. Diese
Kraft! Natürlich stellen Pflanzen unterschiedliche Ansprüche
an ihren Standort, und manchmal erwächst dem, was
ich gepflanzt habe, auch unliebsame Konkurrenz. Aber
dass diese alte Erde, von uns Menschen ausgebeutet und
geschunden, immer noch Grün hervorbringt, lässt mich
staunen und danken.
Und es macht Hoffnung.
Denn die gleiche Schöpferkraft, die es auf dieser Erde spriessen und grünen lässt, wirkt auch am Kommen der neuen Schöpfung. Sie beginnt im Verborgenen – hat längst begonnen! Ihr Kommen wird in der Bibel mit dem verglichen, was wir kennen: mit Werden und Vergehen, mit Wachsen und Reifen in der Natur.
Denn wie der Regen und der Schnee herabkommen vom Himmel und nicht dorthin zurückkehren, sondern die Erde tränken und sie fruchtbar machen und sie zum Spriessen bringen und Samen geben dem, der sät, und Brot dem, der isst, so ist mein Wort, das aus meinem Mund hervorgeht. Nicht ohne Erfolg kehrt es zu mir zurück, sondern es vollbringt, was mir gefällt, und lässt gelingen, wozu ich es gesandt habe. (Jesaja 55,10.11)
Wenn in der Offenbarung das «neue Jerusalem» von oben herabkommt, heisst das wohl nicht, dass es fixfertig vom Himmel fällt, sondern dass es eine andere, eine «himmlische» Qualität hat.
In den Gleichnissen hat Jesus oft Bilder aus der Natur benützt. Kurz vor seiner Passion hat er über sich selbst gesagt: Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. (Joh. 12,24)
Wir feiern Erntedank, schauen zurück auf das Gute, das uns gegeben wurde – dass wir alles bekommen haben, was wir zum Leben brauchen. Und wir fassen Hoffnung im eigenen Alt- und Älterwerden in einer Welt, in der sich die Katastrophen- und Schreckensmeldungen zu jagen scheinen. Gottes neue Welt wächst im Verborgenen und ab und zu sichtbar: Seht, ich schaffe Neues, schon spriesst es, erkennt ihr es nicht? (Jesaja 43,9)


Von: Dorothee Degen-Zimmermann

31. Januar

Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes. Lukas 1,46–47

Kunstvoll verdichtet Lukas im Magnificat, worum es im Evangelium geht. Zuerst beschreibt Maria ihre persönliche Situation und hebt an zum reinen Gotteslob. Doch bei sich selbst bleibt sie nicht stehen und nimmt sogleich das Kollektiv in den Blick. Noch vor der Geburt Jesu formulieren Elisabeth und Maria das erste christliche Glaubensbekenntnis.
Maria erzählt von einem Gott, der barmherzig ist und sich auf die Seite der Schwachen und Ausgestossenen stellt, der die Hungrigen sättigen und die Kranken heilen will. Von einem Gott aber auch, der die Macht der Mächtigen bricht, den Hochmut bekämpft und die Gier der Reichen anprangert. Und von einem Gott, der die von seinem Geist erfüllten Menschen dazu anstiften will, selbst die Gegensätze zwischen Arm und Reich, Unten und Oben auszugleichen und das Unrecht zu bekämpfen, Gemeinschaft zu stiften, wo Spaltung und Einsamkeit herrschen.
Es sind die roten Fäden des Glaubens, die im Magnificat zusammenlaufen und miteinander verknüpft werden: der Trost, den Jesus zuspricht, und die Nachfolge, zu der seine frohe Botschaft aufruft.

Von: Felix Reich

30. Januar

Da brachten Männer einen Gelähmten auf einer
Trage herbei. Sie wollten ihn in das Haus bringen und vor Jesus niederlegen.
Lukas 5,18

Wenn ich die Stelle lese, sehe ich die Bilder von Kees de Kort. Oft sass ich als Kind im Flur, wo das bis zur Decke reichende Regal mit den Bilderbüchern stand, und blätterte mich durch biblische Geschichten. Ich sehe, wie die Freunde den Gelähmten durch das Dach zu Jesus hinunterlassen. Wie der Geheilte aufsteht, seine Matte nimmt und geht. Die Geschichte handelt vom Wunder der Heilung, von dem ich schon als Kind wusste, dass es sich selten so einstellt wie im Bilderbuch.
Wunder, die ich erlebe, sind flüchtig. Momente, in denen in einem Menschen eine aufrichtende Kraft spürbar wird mitten in der Angst, eine lichtvolle Begegnung möglich wird im Meer des Vergessens, die im Herzen aufbewahrt bleibt, obwohl das Gedächtnis längst nichts mehr festzuhalten vermag.
Vielleicht lässt sich die Erzählung vom Geheilten ja auch vor dem Hintergrund solch kleiner Wunder lesen: Ich nehme sie wahr im Wissen, dass sie keine dauerhafte Linderung bringen, und dennoch in der Hoffnung, dass sie noch leuchten, wenn die Verzweiflung alles verdunkelt. Und so will ich nach dem nächsten Wundermoment den Mut finden zu sagen: «Unglaubliches haben wir heute gesehen.» (Lukas 5,26)

Von: Felix Reich

29. Januar

Alle Völker auf Erden sollen erkennen, dass der HERR Gott ist und sonst keiner mehr! 1. Könige 8,60

Auch die Menschen im Appenzeller:innenland haben von Gott gehört. Das ist ganz schön weit weg von Israel, dem Mutterland unseres Glaubens. Aber haben wir schon erkannt, dass JHWH, der Gott, der sich Mose am brennenden Dornbusch gezeigt hat, tatsächlich auch für uns da ist? «Ich bin für dich da», so können wir diese vier hebräischen Buchstaben wohl übersetzen, die in unseren Bibeln meist mit HERR wiedergegeben sind.
Na ja. Wir verhalten uns jedenfalls selten so. Meistens rennen wir anderem hinterher. Werden wir eines Tages den Unterschied zwischen Gott und Nicht-Gott erkennen?


«Gott und Nicht-Gott», das verstehe ich nicht. Wenn ich von Gott spreche, brauche ich Bilder. Ich blättere weiter im Buch der Könige: «Nach dem Feuer aber kam das Flüstern eines sanften Windhauchs.» (1. Könige 19, 12b). Im Flüstern entdeckt Elija Gott. Wo es laut ist, ist JHWH nicht zu finden. Elija geht Gott entgegen. Beide kommen aufeinander zu. Die Gottesbeziehung ist eine gegenseitige. Steckt darin das Geheimnis der Einzigkeit? «Höre, Israel: JHWH, unser Gott, ist einer. Und du sollst JHWH, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft.» (5. Mose 6,4)

Von: Lars Syring / Chatrina Gaudenz

28. Januar

Und ich hörte eine grosse Stimme vom Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr
Gott sein.
Offenbarung 21,3

Die Hütte oder das Zelt Gottes steht unter den Menschen. Gott ist also mitten unter uns. Wenn Gott in einer Hütte oder in einem Zelt wohnt, dringen seine Geräusche nach aussen. Wenn wir gut lauschen, können wir sie hören.
Johannes, der Autor dieses Textes, hört eine grosse Stimme vom Thron her. Eine Stimme, die auch wir hören können; sie weist in die Zukunft. «Gott wird bei den Menschen wohnen. Dieser Gott wird ihr Gott sein.»
Im nächsten Vers steht, Gott werde ihre Tränen abwischen. Ein neuer Himmel und eine neue Erde werden sein. Johannes hat diese Vision in einer verzweifelten Situation. Wie gut, dass es solche Visionen gibt. Sie verwandeln Resignation in Hoffnung, passives Erdulden in aktives Eingreifen. Die grosse Stimme sagt: Schau! Öffne dich und schau oder lausche auf das, was neben dir ist! Vielleicht hörst du den Atem Gottes. Vielleicht hörst du ein Schluchzen oder ein leises Rufen nach Mitgefühl. Wenn Gott mitten unter uns wohnt, dann werden wir dieses Schluchzen, dieses Rufen nicht mehr überhören. Wenn Gott unter uns wohnt, sind wir umhüllt von seinem Atem. Dann lauschen wir nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem Herzen. Wir lauschen auf jene, die unter uns wohnen.

Von: Monika Britt

27. Januar

Gott sprach zu Salomo: Weil du weder um langes Leben bittest noch um Reichtum noch um deiner Feinde Tod, sondern um Verstand, auf das Recht zu hören, siehe, so tue ich nach deinen Worten. 1. Könige 3,11–12

König Salomo ist gerade an die Macht gekommen. Er ist noch jung und unerfahren und hat ganz schön Respekt vor seiner neuen Aufgabe, als König ein ganzes Volk zu regieren. Da erscheint ihm Gott im Traum und gibt ihm einen Wunsch frei.
Wir kennen solche Situationen aus den Märchen, da ist es meist eine Fee, die drei Wünsche freigibt. Was ist die richtige Antwort in so einem Fall? König Midas wäre beinahe verhungert, weil auf seinen Wunsch hin alles zu Gold wird, was er berührt. Worum würde ich bitten?
Salomo wünscht sich ein hörendes Herz, damit er das Volk recht richte. Eine grosse und weise Bitte!
Wie komme ich zu so einem Herzen, offen und horchend? Wie kann es in mir so still werden, dass ich nicht meinen endlosen Gedanken nachhänge, sondern wirklich hinhöre?
Es wäre mir bis jetzt nicht im Traum eingefallen, doch ja, ich werde Gott darum bitten: um Stille und Ruhe, um die Kraft zum Zuhören und um die Annahme dessen, was ist.

Von: Barbara Heyse-Schaefer

26. Januar

Du tust mir kund den Weg zum Leben. Psalm 16,11

Ich schreibe diese Zeilen eine Woche nach dem Terrorüberfall der Hamas auf den Süden Israels. Eine gespenstische Stille liegt über der Welt. Wann kommt der Vergeltungsschlag der Israeli? Hunderttausende sind auf der Flucht.
Wie viele andere habe ich morgens eine Scheu, die Nachrichten zu lesen. Die Angst vor dem Kommenden nimmt mir den Atem und lässt meinen Bauch flattern.
Gleichzeitig bereite ich mich auf eine interreligiöse Frauenkonferenz nächste Woche vor. Es soll um Gewaltprävention und um Dialog für den Frieden gehen. Wichtige Rednerinnen springen ab, sie fühlen sich in der aktuellen Situation nicht in der Lage zu diskutieren.
Ich versuche es mit täglichen Atemübungen. Und mit viel Spazierengehen. Die Natur, das Gehen tun mir gut.
«Lass uns Gehende bleiben. Wir sind nie ganz zu Hause auf dieser Welt», schreibt Dorothee Sölle. Auch wenn wir den Weg zum Leben, zum Frieden im Moment nicht sehen, wir dürfen nicht aufhören zu gehen. Und zu beten:
«So wandere mit uns, Gott,
und lehre uns das Gehen
und das Suchen
und das Finden.»
(Dorothee Sölle in: Du führst mich hinaus in Weite.)

Von: Barbara Heyse-Schaefer

25. Januar

Wohl dem Volk, das jauchzen kann! HERR, sie
werden im Licht deines Antlitzes wandeln.
Psalm 89,16

Mir geht es gut. Ich freue mich
am bunten Herbst, an Regen,
Wind und Sonnenschein
und an meinen Enkelkindern.
Wie schön wäre doch die Welt,
wenn wir uns alle freuen könnten!
Doch täglich werden wir geflutet
mit Bildern von Gewalt und Hass,
von Zerstörung, Terror, Tod.
Was ist wahr und was ist ausgeblendet?
Es bräuchte einen anderen Fokus
und ein anderes Licht, das uns den Weg
erhellt in eine friedlichere Welt.
Dieses Licht ist ja schon da – ewig.
Es ist eine Glaubenssache,
dieses ganz besondere Licht.
Möge es ins Dunkle scheinen,
auf Wege zur Versöhnung leuchten.
Möge es doch – weltweit – jene stärken,
die oft nicht im Fokus stehen,
die mit ihrer Menschlichkeit
trotzig auf die Hoffnung setzen.
Damit auch unsere Kindeskinder
sich noch am Leben freuen können.

Von: Heidi Berner

24. Januar

Jesus spricht: Siehe, ich bin bei euch
alle Tage bis an der Welt Ende.
Matthäus 28,20

Sie waren völlig verstört damals,
als sie ihn hingerichtet hatten.
Doch dann sahen sie ihn wieder,
noch und noch, hörten ihn reden.
Er tröstete sie, sagte ihnen,
sie sollen sich nicht fürchten,
er sei bei ihnen alle Tage –
bis an der Welt Ende.
Sie erzählten es weiter, setzten darauf
all ihre Hoffnung, glaubten ihm.
Auch heute noch können wir
diesem Versprechen glauben.
Wir sollten endlich aufhören,
uns immerzu zu fürchten,
wir sollen nicht resignieren,
sondern weiterhin auf das Gute
setzen, das Lebensdienliche,
selbst wenn Krieg und Terror
allgegenwärtig sind, wenn es scheint,
die Menschheit sei am Ende.
Das Christentum ist eine Protestbewegung
gegen die Resignation – das habe ich
vor vielen Jahren aufgeschnappt.
Daran halte ich mich.

Von: Heidi Berner

23. Januar

Um deines Namens willen, HERR, vergib mir meine Schuld, die da gross ist! Psalm 25,11

Die Bitte um Vergebung ist zentral im 25. Psalm. Es ist der elfte von zweiundzwanzig Versen. Um ihn dreht sich alles. Wir kennen die Vergebungsbitte vom Unservater. Dort ist sie auch zentral. Manchmal beten wir sie gedankenlos, manchmal sind wir ganz bei der Sache! «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.» Und warum wendet sich der Beter an Gott? Weil Gott um seines Namens willen vergibt, es also seinem Wesen entspricht, barmherzig und gnädig zu sein. Das meint Heinrich Heines (ein wenig grenzwertiges) Bonmot: «Dieu me pardonnera, c’est son métier.»
Die Vergebungsbitte folgt auf die Brotbitte, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass wir auch die Schuldvergebung täglich üben sollten. Aber ist es wirklich nötig, die eigene Schuld täglich zu bekennen? Machen wir uns dann nicht schlechter, als wir sind? Ich denke, dass wir eher dazu neigen, uns zu überschätzen. Wenn wir meinen, wir können uns schadlos oder schuldlos halten. Oder wenn wir auf die Idee kommen, einmal im Jahr Gott um Vergebung zu bitten, genüge. Eine jährliche Reinigung mag für die Dentalhygiene stimmen, aber um Gottes Vergebung zu bitten, hat mehr mit Zähneputzen zu tun.
Aber bitte nicht übertreiben! Mit einer Zahnbürste im Maul lebt’s sich schlecht.

Von: Ralph Kunz