Autor: Hans Strub

10. Juli

Kommt, lasst uns anbeten und knien und niederfallen
vor dem HERRN, der uns gemacht hat.
Psalm 95,6

Weder niederknien noch verbeugen gehört zu den bei Reformierten
gebräuchlichen Ritualen oder liturgischen Bewegungen.
Schon gar nicht niederwerfen. Dennoch kennen wir
Ehrfurcht vor dem Schöpfer ebenso wie Dankbarkeit fürs
Begleitet- und Bewahrtwerden. Persönlich bringe ich das im
Gebet zum Ausdruck. Ich verbeuge mich gewissermassen
innerlich – ohne dass es jemand sieht. Gibt es konkrete Hindernisse,
die mich am äusseren Ausdruck hindern, oder ist es
schlicht meine Gewohnheit, weil ich es nicht anders gelernt
und eingeübt habe? Denn eigentlich möchte ich mich nie
und nirgends dafür schämen, dass ich Ehrfurcht und Dankbarkeit
empfinde. Im Gegenteil, diese unmittelbare Beziehung
zum Schöpfer ist mir wichtig. Ich bin mir täglich sehr
bewusst, wie stark mein Leben davon bestimmt ist. Wenn
ich nun den ganzen Psalm lese, nehme ich mir vor, das auch
zu zeigen. Zum Mindesten davon zu reden, im kleinen Kreis
oder allenfalls gar öffentlich. Die «angeborene» protestantische
Innengläubigkeit taugt wenig, um auch andere dafür
zu gewinnen, ihre eigene Geschöpflichkeit wahrzunehmen
und sie auszudrücken. Und um das uralte Gotteslob, dem
hier Sprache verliehen wird, in meiner Sprache von heute
weiterzusagen. So, wie es in Vers 1 heisst: Kommt, lasst uns
dem Herrn jubeln und jauchzen, dem Fels unserer Hilfe!

Von: Hans Strub

4. Juni

Der HERR ist gerecht in allen seinen Wegen
und gnädig in allen seinen Werken.
Psalm 145,17


Es ist ein Psalmvers, der Einspruch weckt: Wenn ich in die
Welt schaue und sehe, wie viel «schief» läuft und unzählige
Menschen leiden lässt – wie soll ich da glauben, dass Gott
gerecht ist? Es sind solche Zweifel, die genuin zum Glauben
gehören. Sie sind es aber auch, die deutlich machen, dass
der Gottesglaube nicht davon ausgehen darf, dass Gott einfach
alles richtet. Denn dieser Gott, zu dem wir beten, dem
wir nichts weniger zutrauen, als dass er den ewigen Frieden
aufrichten kann – dieser Gott hat Menschen geschaffen,
die frei sind. Die ihre Handlungen und ihre Planungen frei
gestalten können. Sie können sich dabei an dem ausrichten,
was Gott über alle Zeiten hinweg immer und unablässig
über Propheten und durch Jesus von Nazareth gezeigt und
gesagt hat. Aber diese Freiheit bedeutet eben, dass sie sich
auch an selbst entwickelten Prinzipien orientieren können.
Das verändert die Stossrichtung des Einspruchs: Nicht Gott
ist es, der eben auch ungerecht handelt und ungnädig ist,
sondern da, wo wir Widersprüche festzustellen meinen, sind
es Folgen der Anwendung von menschlichen Prinzipien. Ein
Gotteslob-Psalm wie der, aus dem der heutige Vers stammt,
ist eine Art Mahnmal, das zum Nachdenken bringen kann:
Wie sehr spielen in meiner Lebensausrichtung Gottesprinzipien
eine Rolle? Und inwieweit habe ich mich mit meinen
eigenen Prinzipien eingerichtet?

Von: Hans Strub

3. Juni

Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter
und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel.

Sacharja 9,9


Über viele Jahrhunderte galt der Esel als königliches Reittier.
Deshalb reitet der neue Friedefürst auf diesem Tier in die
Stadt ein. Das Bild ist vertraut – tatsächlich übernimmt die
Palmsonntag-Geschichte diese Bildtradition: Jesus reitet auf
einem Esel in die Stadt ein. Wer Frieden bringt oder verkündet,
muss demütig sein, so wie ein Eselreiter demütig ist.
Und er muss den Waffen entsagen – Frieden schliessen aufgrund
militärischer Stärke wird hier ausgeschlossen! Denn
der folgende Vers lautet: «Und ich werde die Streitwagen
ausrotten in Efraim und die Pferde in Jerusalem. Und der
Kriegsbogen wird ausgerottet.» (Vers 10). So verheisst Gott
den Nationen
Frieden. Eine starke Ansage gerade an unsere
Welt! Frieden entsteht in der Geschichte und bis heute,
wenn ein Aggressor besiegt ist und wenn ihm langfristig die
Möglichkeit genommen wird, sich wieder aufzurüsten. Es ist
eine Herausforderung an unser Denken und Handeln, wenn
hier von einem Frieden ohne weitere Waffen geredet wird.
Man kann diese Sätze als fromm und naiv abtun. Man kann
sie aber als Massstab nehmen, um die Differenz zu bemessen,
die zwischen Weltrealität und Weltvision liegt. Und als
nötigen und auf lange Sicht hilfreichen «Stachel im Fleisch»
der heute politisch für den dauerhaften Frieden Verantwortlichen.
Gottes Vision ist gesetzt!

Von: Hans Strub

29. Mai

Mein ist das Silber, und mein ist das Gold, spricht der
HERR Zebaoth.
Haggai 2,8


«Und an dieser Stätte werde ich Frieden schenken!» So
schliesst der Prophet Haggai seine Rede ab, die er im Namen
Gottes zum Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem hält.
In erster Linie ist es an die für den Bau Verantwortlichen
gerichtet. Gott wird das neue Haus mit seinem Geist füllen,
mit allen Kostbarkeiten, mit Silber und Gold. Womit
auch immer der neue Tempel geschmückt und ausgestaltet
wird, alles wird dafür stehen, dass Gott von diesem Zentrum
aus sein Friedenswerk verbreiten wird. Anders gesagt:
Es wird Gott sein, der mit seinem Geist den Frieden bringt,
aber er braucht Menschen dazu, die die konkrete Arbeit zu
übernehmen bereit sind. Er ermutigt sie, mit Engagement
zu bauen und so ihren Teil beizutragen. Frieden wird nicht
vom Himmel fallen, sondern muss mit der Hände Arbeit in
dieser Welt errichtet werden. Dazu braucht es alle Kräfte
und auch alle Ressourcen (dafür stehen hier «Silber und
Gold»). Indem Haggai hier direkt Serubbabel und Jehoschua
anspricht, spricht er alle an – und über die Zeiten hinweg
auch uns hier und heute: Frieden kann entstehen, wenn alle
an ihrem Ort ihre Kräfte dafür einsetzen. Gott beschützt
diese Arbeit und verheisst, dass er sie zum Ziel führt. Wir
wissen, wie mühsam und kräftezehrend das stets ist. Aber
die Verheissung ist gesetzt und gilt: Gott wird Frieden
ermöglichen und schaffen! Durch seinen Geist.

Von: Hans Strub

11. Mai

So spricht der HERR: Wie wenn man noch Saft in der
Traube findet und spricht: Verdirb es nicht, denn es ist
ein Segen darin!, so will ich um meiner Knechte willen
tun, dass ich nicht alles verderbe.
Jesaja 65,8


Hinter diesen Sätzen des Propheten steht eine heftige Auseinandersetzung
unter den Israeliten, zwischen denen, die
Gott vertrauen, und denen, die sich anderen Gottheiten
zugewandt haben (Glück und Schicksal, Vers 11). Das erregt
den Zorn Gottes, aber – und das ist der verheissungsvolle
Teil des Verses 8 – er wird deswegen nicht Verderben bringen
über alle! Er wird jene Teile des Volkes verschonen, die
auf ihn vertrauen. Das schöne Bild vom «Restsaft» in den
Trauben spricht hier für sich! Mit dem Wort «alles» wird
aber eine andere Realität angesprochen – und das ist der
unheilvolle Teil des Verses: Einige werden ausgestossen werden,
weil sie den Kontakt zum lebendigen Gott abgebrochen
haben. Es sind jedoch nicht fremde Feinde, von denen an
vielen Stellen in der Bibel die Rede ist – es sind Leute aus
den eigenen Reihen, die abtrünnig geworden sind. Denen
Gott vielleicht als zu unsichere Instanz vorgekommen ist.
Oder denen erhoffte Veränderungen zu langsam vorangegangen
sind. Oder die bessere Möglichkeiten gesehen haben,
Probleme mit eigenen Mitteln zu lösen, als Gott darum zu
bitten. Wenn ich mein eigenes Verhalten kritisch betrachte:
Wo stehe ich eigentlich? Oder: Stehe ich wirklich jederzeit
auf der Seite «seiner Knechte»?

Von: Hans Strub

10. Mai

Ist mein Arm denn zu kurz, dass er nicht erlösen kann?
Oder habe ich keine Kraft, zu erretten?
Jesaja 50,2


«Warum war niemand da, als ich kam? Gab keiner Antwort,
als ich rief?» Gott ist es, der durch den Propheten so fragt.
Es sind Fragen, die treffen. Auch heute. Gab es nicht auch
bei mir Momente, in denen ich an Gott zweifelte? In denen
ich mich angesprochen fühlte, aber so tat, als wäre nicht
ich gemeint? Etwa als ich merkte, dass es meinem Arbeitskollegen
schlecht ging, ich aber wegsah, damit ich nicht in
eine unübersichtliche Situation hineingezogen würde. Mit
diesen Fragen fühle ich mich ertappt. In jenen entscheidenden
Augenblicken, als ich meine Hilfe hätte anbieten
sollen, habe ich nur an mich gedacht. Und die Möglichkeit,
dass Gott da auch eingreifen könnte, dass ich ihn um Hilfe
angehen könnte, schlicht nicht in Betracht gezogen. So ist es
offensichtlich den Jerusalemern damals auch ergangen: Sie
beklagten sich über den schleppenden Wiederaufbau der
Stadt nach dem Exil, und sie hatten aus dem Blick verloren,
dass Gott ihnen in der Vergangenheit immer und immer
wieder neue Anfänge geschenkt hatte. Dass er seine Kraft
erwiesen hatte, dass er gerettet hatte, dass er die Rückkehr
der Exilierten ermöglicht hatte. Die unüberhörbare Anklage
soll weder zu Angst noch zu Trotz verführen, sondern zu
einer Portion Selbsterkenntnis und erhöhter Achtsamkeit
in Zukunft. Und zu erhöhtem Zutrauen in Gottes Möglichkeiten,
die grösser sind als mein Verstand.

Von: Hans Strub

4. April

Fürchte dich nicht, liebes Land, sondern sei fröhlich
und getrost; denn der HERR hat Grosses getan. Joel 2,21

Offensichtlich ist es nötig, Joels «Fürchte dich nicht!» und
sein «fürchtet euch nicht!» (Vers 22). Offensichtlich redet er
in eine Situation hinein, die von politischen, wirtschaftlichen
und auch wettermässigen Gefahren bedroht ist. Wenn dann
einer kommt und sagt, man solle fröhlich und getrost sein,
tönt das zunächst naiv und unbedarft. Aber der so redet,
gibt als Quelle dafür niemand anderen als Gott an. Den
Gott, der immer wieder an seinem Volk «Grosses» getan
hat – und jetzt weiter tut! So verändert sich seine Botschaft
und wird zu einer Zusage, einer Verheissung, die abgedeckt
ist durch Gottes Willen, dem Volk Leben und Sicherheit
zu geben (Verse 20–22). «Ihr, Kinder Zions», so heisst es
dann in Vers 23, «jubelt und freut euch am Herrn, eurem
Gott…». Das entspricht dem Aufruf, sich nicht zu fürchten,
was immer auch ist und kommen mag. Anders gesagt: Nicht
die bange Sorge um eine Zukunft, die auch bedrohlich sein
könnte, soll uns beherrschen, sondern die Freude darüber,
was jetzt ist und was Gott uns jetzt bereitet. Es ist ein Aufruf
zum gegenwärtigen Leben, und den dürfen wir in dieser Karwoche
ganz besonders deutlich hören! Durch die Annahme
der Passion hat Gott ein für alle Mal in aller Deutlichkeit
gezeigt, dass er oder sie das Leben der Welt und der Menschen
will. Und dass deshalb die Furcht dem Dank und dem
Jubel Platz machen soll. Und darf!

Von: Hans Strub

3. April

Ich habe den HERRN allezeit vor Augen. Psalm 16,8

Erst auf einen zweiten Blick fällt auf, dass es sich bei diesem
Jubelpsalm um den Dank eines Menschen handelt, der
unter dem schweren Vorwurf stand, vom Glauben abgefallen
zu sein und der gar von einem Todesurteil bedroht war
(Vers 10). Weil er seinen Gott «allezeit» vor Augen hat und
hatte und weil dieser Gott ihn nicht im Stich liess («mir zur
Rechten steht», Vers 8b), steht er heute wieder aufrecht
da. Und kann er seinen Gott loben und ihm dankbar sein.
Er muss erfahren haben, dass sein Leben und sein Schicksal
(sein «Los», Vers 5) nicht mehr in seiner Hand lagen, dass
er also dem Urteil anderer ausgeliefert war. Aber da habe er,
so bekennt er, gespürt, wie dieses «Los» in Gottes Händen
lag. Wie er darauf vertrauen musste und durfte, dass Gott
ihn nicht aus seinen Händen fallen lässt. Auch wenn es zum
Glück nicht immer gleich um Weiterleben oder Sterben
geht, ist mir die Erfahrung sehr bekannt, dass plötzlich eine
Situation eintreten kann, in der ich nicht mehr selbst über
meine Zukunft entscheiden kann. In der ich auf die Hilfe von
Gott und seinen Schutz existentiell angewiesen bin. Als sie
dann kam, habe ich im Gebet «Danke» gesagt. Aber laut
und gar in einer gewissen Öffentlichkeit, wie es der Psalmsänger
hier tut, machte ich dies kaum je. Für ein nächstes Mal
nehme ich mir die Abwandlung eines bekannten Bonmots
vor: «Erfahre Gutes und rede davon!» Gott laut danken
und seine/ihre Güte preisen (Vers 7) – das sollten wir tun …

Von: Hans Strub

11. März

Mose sprach: Siehe, ich lege euch heute vor den Segen
und den Fluch: den Segen, wenn ihr gehorcht den
Geboten des HERRN, eures Gottes, die ich euch heute
gebiete; den Fluch aber, wenn ihr nicht gehorchen
werdet den Geboten des HERRN, eures Gottes. 5. Mose 11,26–28

Bevor in der grossen und langen Abschiedsrede des Mose
alle Gesetze dem Volk ein weiteres Mal präsentiert werden,
hört es hier gewissermassen Einleitung und Überschrift: Gott
erbittet, erhofft und erwartet, dass das Volk ihn als den einzigen
Gott ernst nehme, dass es sich bewusst mache, was alles
dieser Gott seinem Volk an Gutem beschert hat und wie
er ihm in Kürze ein gesegnetes, fruchtbares Land schenken
wird ennet der Wüste und dem Jordan. Wenn es alles, was
Gott erwartet und erhofft und auch fordert (das hebräische
Verb bringt auch etwas von Gottes «Werben» um sein Volk
zum Ausdruck) – wenn es also das befolgt, dann wird Gottes
Segen über ihm sein, die ganze Zeit. Gott rechnet damit, dass
es auf sein Werben eingeht, dass es für alle Zeit den Segen
erhalten wird. Dennoch soll es sich stets auch des Abgrunds
bewusst bleiben, in den es bei andauernder und bewusster
Nichtbefolgung stürzen könnte. Es ist die Grundhaltung
Gottes, in der anschliessend die vielen Satzungen formuliert
werden: das Wohlwollen und das Zutrauen, das Volk werde
seine Nähe bewahren. So «behütet» Gott sein Volk! Damals
wie heute und in alle Zukunft! So ist unsere Welt heute und
morgen behütet.

Von: Hans Strub

10. März

Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.
Psalm 121,4

Eine wunderschöne Erweiterung des alten und weiterhin
gebräuchlichen «Bhüeti Gott!» – ein Reisesegen, wohl für
einen Wallfahrer. Nicht von «irgendwem» von den Bergen
herab ist Hilfe oder Schutz zu erwarten (Vers 1), sondern
einzig von Jahwe, deinem Gott! Oder, wie es in unserem heutigen
Vers heisst, vom Gott ganz Israels. Er ist der «Hüter»,
er behütet in jeder Situation. Fünfmal im kurzen Psalm
erscheint dieses Wort, fünfmal zeigt es an, wie Gott behütet
(vor Sonnenstich etwa oder vor allem Bösen, Verse 5–8).
Bei Tag und bei Nacht, ohne Unterbruch. Gott ist da und
braucht keine Pause. Sein Behüten ist dauerhaft, sein Schutz
ist grenzenlos. Er gilt dem einzelnen Menschen wie dem
ganzen Volk. Im Alltag verwenden wir diesen feinen Begriff
vor allem, wenn es um kleine Kinder geht: Eine umsichtige
ältere Person sorgt dafür, dass dem kleinen Menschen nichts
zustösst, dass er sich nicht verletzt, dass er nicht irgendwo
hingerät, wo ihm ein Sturz oder anderes «Ungfehl» droht.
Genauso wie ein kleines Kind nicht wissen kann, was für es
gefährlich werden könnte, kann man es auf einer Reise nicht
im Voraus wissen. Umso zuversichtlicher macht ein Reisesegen.
Da wird mir bewusst, dass ich begleitet bin. Was der/
dem Einzelnen zugutekommt, gilt für das ganze Volk. Gott
behütet seine Menschen, wohin sie auch gehen, in welche
ungewisse Zukunft sie unterwegs sind! Danke, Gott, für
diese Gnade! «Bhüetech Gott!»

Von: Hans Strub