Ist mein Arm denn zu kurz, dass er nicht erlösen kann?
Oder habe ich keine Kraft, zu erretten?
Jesaja 50,2


«Warum war niemand da, als ich kam? Gab keiner Antwort,
als ich rief?» Gott ist es, der durch den Propheten so fragt.
Es sind Fragen, die treffen. Auch heute. Gab es nicht auch
bei mir Momente, in denen ich an Gott zweifelte? In denen
ich mich angesprochen fühlte, aber so tat, als wäre nicht
ich gemeint? Etwa als ich merkte, dass es meinem Arbeitskollegen
schlecht ging, ich aber wegsah, damit ich nicht in
eine unübersichtliche Situation hineingezogen würde. Mit
diesen Fragen fühle ich mich ertappt. In jenen entscheidenden
Augenblicken, als ich meine Hilfe hätte anbieten
sollen, habe ich nur an mich gedacht. Und die Möglichkeit,
dass Gott da auch eingreifen könnte, dass ich ihn um Hilfe
angehen könnte, schlicht nicht in Betracht gezogen. So ist es
offensichtlich den Jerusalemern damals auch ergangen: Sie
beklagten sich über den schleppenden Wiederaufbau der
Stadt nach dem Exil, und sie hatten aus dem Blick verloren,
dass Gott ihnen in der Vergangenheit immer und immer
wieder neue Anfänge geschenkt hatte. Dass er seine Kraft
erwiesen hatte, dass er gerettet hatte, dass er die Rückkehr
der Exilierten ermöglicht hatte. Die unüberhörbare Anklage
soll weder zu Angst noch zu Trotz verführen, sondern zu
einer Portion Selbsterkenntnis und erhöhter Achtsamkeit
in Zukunft. Und zu erhöhtem Zutrauen in Gottes Möglichkeiten,
die grösser sind als mein Verstand.

Von: Hans Strub