Autor: Andreas Marti

12. Oktober

Überall in Ost und West wird man seinen Namen ehren und seine Macht anerkennen. Jesaja 59,19

Ost und West vereint, im Lehrtext auch noch Nord und Süd: Frontalkollision mit der Realität. Ost und West waren schon lange nicht mehr so getrennt. Die Kirchen können daran nichts ändern, eine will das nicht einmal. Nord und Süd entfremden sich. Die globale Konkurrenz um die Lebensgrundlagen wächst. Das lässt nichts Gutes ahnen. Die römische Kirche droht zu zerbrechen zwischen Zeitgenossenschaft und krampfhaftem Einmauern und zugleich zwischen Nord und Süd.

Kirchenleitungen lassen sich besorgt und theologisch sauber argumentierend vernehmen: «Wir müssen in diesen Zeiten …», «Wir wollen gemeinsam …»

Dieses kirchliche «Wir» – wer ist das? Gehöre ich dazu? Ich muss also, ich soll, ich soll wollen. Wieder eine Frontalkollision, nun mit der Erfahrung der Machtlosigkeit. Es droht Resignation, das Ausklinken aus dem kirchlichen «Wir».
«Finsternis deckt alle Welt», tönt es in Händels Messias.
Kommt für uns auch das «grosse Licht»? Gelangen wir zum «Halleluja»?

Bald ist Advent. Da ertönt wieder der Ruf «Dass du den Himmel zerrissest und herniederführest!», sehnsuchtsvoll, verzweifelt – auch hoffnungsvoll?

Von Andreas Marti

11. Oktober

Sieh nun herab von deiner heiligen Wohnung, vom Himmel, und segne dein Volk Israel. 5. Mose 26,15

Israel – ein Reizwort, das Kaskaden von Assoziationen au löst, positive, negative, ratlose. Darüber zu schreiben, gleicht dem Gang durch ein Minenfeld: Wie ist das nun mit der Kirche und Israel? Darf man die Kirche das «neue Israel» nennen? Oder kommt sie nicht viel eher wie eine jüngere Schwester zur Familie hinzu, und wie ist dann das Verhältnis der Geschwister? Dann die antijüdischen Passagen in manchen Werken der Kirchenmusik: scharf bei Bach, etwas verdeckter bei Schütz, interessanterweise nicht bei Mendelssohn. Vom politischen Minenfeld, dem modernen Staat Israel, ganz zu schweigen – da bleibt oft nur ratlose Besorgnis.
Aber da ist die hebräische Bibel mit ihrem Reichtum, ihrer Vielfalt und ihren inneren Spannungen, manchmal fremd und verwirrend, manchmal nahe und vertraut, und die Grundlage, ohne die Jesus von Nazareth schlicht nicht zu verstehen ist. So ist es angebracht, bei unserem Losungswort die negativen und verwirrenden Gedanken für einmal auszublenden und den Lehrtext mitklingen zu lassen:
«zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines Volkes Israel» – unerreicht eindrucksvoll in Musik gesetzt von Felix Mendelssohn in seiner Motette über das Simeonslied, «Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren» – unbedingt anhören oder nach Möglichkeit einmal mitsingen!

Von Andreas Marti

12. August

Der HERR schafft Recht den Unterdrückten, den Hungrigen gibt er Brot.          Psalm 146,7

Eine reichlich kühne Behauptung angesichts der weltweiten Unterdrückung und der Millionen Hungernden! Ob das zur Zeit des Psalmdichters anders war? Die damaligen Weltmächte waren ja nicht gerade zimperlich im Umgang mit ihren Untertanen, und von einer zuverlässigen und flächendeckenden Nahrungsmittelversorgung konnte wohl auch keine Rede sein. Unterdrückte und Hungernde waren eine Realität, die der Psalmdichter kannte – darum spricht er ja von ihnen.

War denn auch die Hilfe real? Eher ist der Psalmvers ein trotziges Aufbegehren gegen diese Realität, die nicht Gottes Willen entspricht. Wir können natürlich sagen, dass «Gott keine Hände hat als unsere Hände» und er deshalb durch unser Wirken Unterdrückung und Hunger wegschafft. Wohl können wir da und dort etwas erreichen, aber in der Absolutheit des Psalmverses ist es eine hoffnungslose Überfor- derung. Es bleibt die kühne Behauptung, das Aufbegehren, der Protest, der Glaube als «ein trotzig und verzagt Ding». Dieser Glaube ist Osterglaube. Die harte Realität wird von Gott her durchbrochen, auch wenn wir nicht richtig erfassen können, wie das geschieht. In dieses Geschehen sind wir mit hineingenommen: Christus «ruft uns jetzt alle zur Auferstehung auf Erden, zum Aufstand gegen die Herren, die mit dem Tod uns regieren». (Kurt Marti, Reformiertes Gesangbuch Nr. 487).

Von Andreas Marti

11. August

Liebet den HERRN, alle seine Heiligen.    Psalm 31,24

Heilige – in der reformierten Kirche, in der ich 46 Jahre Organist war, sind an Decken und Wänden und in den Fenstern zahlreiche Heilige zu bewundern, ein Erbe des Mittelalters. Dagegen gibt es in der neuen katholischen Nachbarkirche gerade einmal zwei Heilige: die Mutter Gottes und (nur im Foyer) den heiligen Josef, nach dem die Kirche benannt ist. In der Liturgie ist es genau umgekehrt: kaum Heilige in der reformierten Liturgie, aber Heilige, Apostel und «alle, die vor Gott Gnade gefunden haben», im eucharistischen Gebet. Bekanntlich haben die beiden Vorgänger des jetzigen Papstes eine grosse Zahl von Selig- und Heiligsprechungen vorgenommen. Man mag das vielleicht belächeln, aber in jedem Fall sind damit Werte verbunden, die von den jeweiligen Männern und Frauen gelebt worden sind, und vielleicht hilft die grosse Zahl, der Formel im Hochgebet näherzukommen:

«Alle, die vor dir Gnade gefunden haben.» Oder anders gesagt: alle, die auf diesen gnädigen Gott vertrauen. Angesprochen in unserem Losungswort sind nicht besonders ausgezeichnete und moralisch vollkommene Menschen, es sind auch nicht die «im höheren Chor» Vollendeten, es ist die ganze Gemeinde, die «ein heiliges Volk» ist. Wir bekennen die «Gemeinschaft der Heiligen» im Credo, über die Generationen hinweg und auch über alle Unterschiede und Gegensätze hinweg, so schwer das manchmal auch fallen mag: die Gemeinschaft, die sich vereint weiss in der Liebe Gottes.

Von Andreas Marti

12. Juni

Du sollst der Menge nicht auf dem Weg zum Bösen folgen.     2. Mose 23,2

Dazu gibt es eigentlich nichts zu sagen, und das Bild von der breiten Strasse ins Verderben, wie Jesus es gezeichnet hat, bestätigt uns darin. Unsere Losung fordert Nonkonformismus und gibt Mut zum Unbequemen, auch zur Einsamkeit. Vielleicht liegt darin aber auch eine Versuchung zur moralischen Überlegenheit, die Versuchung des gebildeten Mittelstandes gegenüber der Massenkultur, die Versuchung des ethischen Perfektionismus in den Kirchen, die beispielsweise in der Pandemiezeit über die staatlich definierten Einschränkungen hinausgingen, die Versuchung, den eigenen Weg als den einzigen Weg zum Guten zu sehen.

Dagegen steht die Warnung «Richtet nicht!». So müssen wir den Widerspruch aushalten: Wir suchen danach, was das Gute, was Gottes Wille ist, sollen uns mit Überzeugung dafür einsetzen, müssen uns aber zugleich fragen lassen, ob diese Überzeugung richtig ist und richtig bleibt, ob sie Raum lässt für die Barmherzigkeit, die untrennbar mit dem Weg zum Guten verbunden ist. Der Lehrtext weist die Antwort: wahrhaftig sein in der Liebe.

Das ist der Liebe freundlich Amt, dass sie zurecht bringt, nicht  verdammt.

(Viktor Fr. von Strauss und Torney, 1843, RG 802)

Von Andreas Marti

11. Juni

Zur letzten Zeit wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.                           Jesaja 2,2.4

In der Friedensbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre, mitten im Kalten Krieg, war Jesajas Vision einer Welt ohne Krieg ein wichtiges Bild, zusammen mit dem Motiv «Schwerter zu Pflugscharen» – als Bronzestatue vor dem UNO-Sitz, ausgerechnet ein Geschenk der Sowjetunion, und als Aufnäher auf den Jacken der Jugendlichen (oder in der DDR durch ein ausgeschnittenes Loch ersetzt, weil das Zitat verboten war). Friedensforschung, Friedenserziehung, Konfliktlösungsstrategien hatten in der Diskussion Konjunktur.

In den Tagen, in denen ich dies jetzt schreibe, herrscht Krieg in der Ukraine, und der berechtigte Protest gegen Putins Aggression nimmt bisweilen schrille und selbst kriegerische Töne an. Immerhin schliessen westliche Politiker und Politikerinnen eine militärische Antwort aus und versuchen, den mühsamen Weg der Konfliktentschärfung offenzuhalten, auch wenn sie sich des Erfolgs nicht sicher sein können. Frieden ist ein Prozess, ein Weg, dessen Schritte nicht schon im von vornherein feststehen.

«Kein Volk wird mehr lernen, Krieg zu führen», und es ist ja nicht das russische Volk, welches das Schwert erhoben hat. Schon ein kleiner Schritt auf Jesajas «Utopie» hin, auf diesen Zustand, der noch «ohne Ort» ist, aber die Richtung auf das weist, was durch den Willen Gottes verheissen ist?

Von Andfreas Marti

12. April

Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis
und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes.

Kolosser 1,12

Von der Finsternis ins Licht, post tenebras lux, –  so hat man in Calvins Genf das Selbstverständnis der Reformation formuliert. Die barocke Theologie vertraute auf die vom Heiligen Geist erleuchtete Vernunft, und bekanntlich nennt man die Zeit der Aufklärung im Französischen les lumières. Das ist alles nicht die Lesart des
1. Jahrhunderts. Dennoch ist der Lehrtext mit seiner Nachwirkung eine Herausforderung für ein modernes Glaubensverständnis, das Vernunft und Glauben zusammendenken muss.

Die «vernünftigste Vernunft» ist jene, die auch über sich selbst nachdenkt. Dabei erkennt sie ihre Bedingtheit durch die menschliche Natur und rechnet damit, dass es eine Wirklichkeit ausserhalb der erkennbaren gibt, auch wenn sie nicht zu definieren ist. Die Religionen nennen diese Wirklichkeit «Gott» und versuchen, sie in Begriffe, Rituale und Erfahrungen zu fassen. Die recht verstandene Vernunft blendet sie nicht aus, sondern hat die Aufgabe, die  Religion daran zu hindern, sie in scheinbar eindeutige Formeln einzuschliessen. So bleibt der Raum jenseits des rational Fassbaren offen, die Vernunft behält die Erkenntnis ihrer Grenzen und bleibt auch sich selbst gegenüber vernünftig.

Das ewig Licht geht da herein,
gibt der Welt ein‘ neuen Schein.
Es leucht wohl mitten in der Nacht
und uns des Lichtes Kinder macht, Kyrieleis.

(RG 392,4)

Von Andreas Marti

11. April

Seid getrost und unverzagt alle, die ihr des HERRN harret!
Psalm 31,25

«Harren» – das Wort begegnet uns immer wieder in den Psalmen, aber kaum je im Alltag. Wir sagen «warten», aber das wirkt passiv; wir sagen «hoffen», auch ein gut biblisches Wort, aber umgangssprachlich recht unbestimmt. Es gibt aber noch das Wort «ausharren», meist im Zusammenhang von schwierigen, vielleicht aussichtslosen Situationen. Diesen Hintergrund hören wir im Psalmwort mit, dazu aber auch die Gewissheit, dass eine solche Situation nicht endgültig, nicht das Letzte sein soll, dass da einer ist, der etwas Anderes, Besseres für uns und für die Welt vorgesehen hat. Daraus erwachsen Kraft zum Handeln, Offenheit und Lebensfreude, auch gegen allen Anschein.

In meinen Ohren klingen Passagen mit dem gesungenen «Harren»: Etwa Mendelssohns 42. Psalm, wo das Harre auf Gott mit Kraft und Wucht die Klage und die Ungewissheit hinwegfegt, oder Heinrich Kaminskis 130. Psalm, wo sich die Sopranstimme schwerelos und engelsgleich mit den Worten Ich harre des Herrn über den Chorklang aufschwingt. Was der Verstand nur mit Mühe zusammenbringt – das irdische Leben mit seinen Widersprüchen und Mühen und jenes Grössere, für das wir keine angemessenen Worte haben –, kann uns in der Musik als Ahnung aufscheinen. So wird christlich e Existenz sub spezie aeternitatis,  im Angesicht der Ewigkeit, spürbar, wird Quelle für Mut und Zuversicht, für ein «getrostes und unverzagtes» Leben.

Von Andreas Marti

Mittelteil März / April

Passionslieder – fremd im Wort, nah in der Musik

Unser Autor Andreas Marti war Mitglied der «Kleinen Gesangbuchkommission», die von 1984 bis 1998 das neue Reformierte Gesangbuch geschaffen hat. Er geht hier auf die darin enthaltenen Passionslieder ein.

Als der Entwurf zum Reformierten Gesangbuch zu Ende beraten war, führten wir in der «Kleinen Gesangbuchkommission», der Fachkommission, die Schlussabstimmungen über die einzelnen Teilkapitel durch. Ich habe dem Passionskapitel meine Zustimmung verweigert, wohl wissend, dass wir es angesichts des dürftigen Angebots an brauchbaren neueren Passionsliedern nicht wesentlich besser hätten machen können.

Die traditionellen Lieder liegen mit ihrem Verständnis der Passion weitgehend auf der Linie der Sühneopfertheorie: Gott zürnt wegen der Sünde der Menschen und muss durch ein Opfer besänftigt werden, ein Opfer, das die Menschen bringen müssten, das sie aber wegen der «Erbsünde» (über dieses höchst problematische Konstrukt wäre separat zu diskutieren) nicht bringen können. Nur Gott selber ist dazu imstande. So gibt Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch sein Blut zum Lösegeld.

Diese Theorie hat vielleicht den Menschen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit geholfen, ihre Angst vor dem ewigen Verlorensein im Zaum zu halten. Dass sie aber fast die einzige Art war, wie die Passionsberichte der Evangelien verstanden wurden, hat diese eingeengt und sie der Weite ihrer Bedeutungen beraubt. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu standen ja vor der Aufgabe, Leiden und Tod ihres Meisters irgendwie zu verstehen, dem zunächst Sinnlosen im Licht der Erfahrungen von Ostern einen Sinn zu geben. Es lag nahe, dazu Gedanken aus den überlieferten Schriften, unserem Alten Testament, heranzuziehen. Ein solches Deutungsmuster bieten die Lieder vom Gottesknecht im Buch des «Zweiten Jesaja» (Jes 40–55). Der Gottesknecht leidet stellvertretend für das Volk. Dazu kommen aus der Tora, dem mosaischen Gesetz, Vorstellungen über die sühnende Kraft des Opfers, und beides zusammen führt in der Folgezeit zur beschriebenen Sühneopfertheorie.

Einen etwas anderen Ansatz finden wir im «Christushymnus» des Philipperbriefs, der von der Selbsterniedrigung des Gottessohnes spricht. Dort erscheint der Tod am Kreuz als letzte Konsequenz der Menschwerdung Gottes: Gott kommt bis in die dunkelsten und schlimmsten Orte des Menschenlebens. Seine Nähe gilt auch und gerade da, wo Menschen von allen Menschen verlassen und von allen Lebensmöglichkeiten abgeschnitten sind. Gott ist solidarisch mit den Schwächsten, mit den Menschen in Unglück und Not.

Auch wenn wir weitere biblische Gedanken anführen würden, kämen wir doch nicht zu einer eindeutigen und erschöpfenden Deutung. Die Bibel selbst versucht es mit unterschiedlichen Ansätzen, und dabei bleiben Leerstellen, die für einen unaufhörlichen Prozess des Verstehens offen sind, ein Verstehen, in welches wir mit unserer Existenz mit hineingenommen werden, ohne dass wir alles ausformulieren können. Im Grunde lässt sich alles zurückführen und verdichten auf ein pro nobis, auf die Überzeugung, dass all das «für uns» geschehen ist, was immer es im Einzelnen bedeuten mag. Vielleicht ist es diese Art des Verstehens, welche beispielsweise Bachs Passionen nach beinahe 300 Jahren immer noch aktuell hält. Die Musik löst sich von den barocken Texten und führt uns auf die Ebene des offenen «für uns», das wir nicht weiter definieren müssen.

Aber nun zurück zum Gesangbuch. Das vielleicht bekannteste Passionslied ist Paul Gerhardts O Haupt voll Blut und Wunde (RG 445). Es geht zurück auf einen mittelalterlichen Meditationstext, in welchem der Beter nacheinander die Körperteile des Gekreuzigten betrachtet, von den Füssen bis zum Kopf. Obschon auch für dieses Lied die Sühneopfertheorie den Hintergrund bildet, ist der Schlüssel zum Verständnis hier doch ein anderer: «Ich» stehe vor dem Kreuz und schaue den Gekreuzigten an, und dieses Hinblicken bekommt seine entscheidende Bedeutung im Angesicht des eigenen Todes, wie es die letzten beiden Strophen beschreiben: Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Dieses Hinschauen schafft die Verbindung des Sterbenden mit demjenigen, der in seinem Sterben den Tod besiegt hat – eine Interpretation, welche die Passionsgeschichte tief in die eigene Existenz einfügt, bei der aber manche problematischen Elemente der Tradition und viel barocke Emphase ausgeblendet werden müssen.

Interessanterweise hat Martin Luther kein eigentliches Passionslied gedichtet. Vielmehr hat er im Osterlied Christ lag in Todesbanden (RG 464) Passion und Ostern integriert. Das eine ist nicht ohne das andere zu denken. Von der compassio, dem emotionalen Anteilnehmen am Leiden Christi, hielt Luther bekanntlich nicht viel. Ihm geht es um das klare Glaubenserkenntnis, dass Gott alles für uns tut und dafür sogar seinen Sohn in den Tod gehen lässt. Das ist freilich zunächst auch wieder das Muster der Sühneopfertheorie, aber Ziel des Gedankens ist die «Rechtfertigung aus Gnade» – dass wir vor Gott ohne eigene Leistung gerecht sind. Das blosse «für uns» konkretisiert sich in einem ebenso knappen «allein aus Gnade».

Das kurze «für uns» prägt die mittelalterliche Passionsweise Ehre sei dir Christe (RG 435) und auch das als Kinderlied gedachte Wir danken dir, Herr Jesu Christ (RG 439), während das 17. Jahrhundert dann die Sühneopfertheorie breit ausformuliert. Christian Fürchtegott Gellert, der bedeutendste Kirchenliedautor des Aufklärungszeitalters im 18. Jahrhundert, legt seinem Lied Du gingst, o Heiland, hin für uns zu leiden (RG 448) ebenfalls die klassische Sühnetheorie zugrunde, ändert dann aber von der zweiten Strophe an die Blickrichtung, und zwar auf die Einheit der Jüngerinnen und Jünger Jesu im gemeinschaftlichen Mahl, auf den Frieden und auf die Liebe: Wenn wir in Frieden beieinander wohnten, Gebeugte stärkten und die Schwachen schonten, dann würden wir den letzten heilgen Willen des Herrn erfüllen. Neben die klassische Interpretation tritt eine Art «Vorbildchristologie», von der traditionellen Theologie als oberflächlich abgetan, aber im Ruf zur Nachfolge biblisch begründet: Das Leiden soll nicht Hass erzeugen, sondern die Liebe bewahren, wie Gellert es in seinem anderen Passionslied schreibt, Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken (RG 449), oder im Lied Liebe, du ans Kreuz für uns erhöhte» (RG 450), wie wir es beim Herrnhuter Karl Bernhard Garve lesen.

Von den neueren Liedern steht Was ihr dem geringsten Menschen tut (RG 457) in dieser Vorbildtradition, aber im umgekehrten Sinne: Im leidenden Mitmenschen begegnet uns der leidende Christus. Gottes Solidarität ruft uns zur Nachfolge in unserer Solidarität mit den Schwachen und Leidenden. Andere Lieder verbinden – wie Luther – Passion und Ostern und besingen die Überwindung des Todes: Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt (RG 456), Du schöner Lebensbaum des Paradieses (RG 454) und Holz auf Jesu Schulter (RG 453). Das «Hinsehen», das in Gerhardts Lied so wichtig ist, begegnet uns wieder in Seht hin, er ist allein im Garten (RG 452). Es ruft uns dazu auf, nicht wegzusehen: So, wie wir auf die Passion Jesu schauen, sollen wir uns auch dem Leiden unserer Zeit stellen. Zum Sehen kommt das Hören: Auf die knapp gefasste Passionserzählung reduziert ist Hört das Lied der finstern Nacht (RG 455). Das Passionsgedenken wird auf die fast unkommentierte Erzählung zurückgeführt und bleibt in dem Sinne bedeutungsoffen, wie es oben angedeutet wurde. Einzig der Schlusssatz gibt eine Interpretation des «für uns»: … reisst durch seinen Tod uns aus Nacht und Not.

Von Andreas Marti

12. Februar

Lass meinen Mund deines Ruhmes und
deines Preises voll sein täglich.  Psalm 71,8

Gott rühmen, preisen, loben – mit Worten, mit Musik, mit Tanz, in unseren Gottesdiensten, im persönlichen Gebet: eine Selbstverständlichkeit. Oder am Ende doch nicht? Vor dem Gloria steht in der Messliturgie das Kyrie, und das Gloria schlägt selber den Bogen wieder zurück zur Bitte um Erbarmen. Das «Lob pur» gibt es da nicht, und es kommt auch in der Bibel so kaum vor. Die Lobpsalmen gründen Gottes Ruhm auf Erzählungen von dem, was Gott tut oder getan hat; es ist ein Lob mit Grund, ein «Lob, weil…». Manchmal aber gehen dem Lob Erzählungen von Leid und Not voraus, bis dahin, dass jemand trotz solchen Erfahrungen Gott lobt und preist. So ist es dann ein «Lob trotz …».

«Lob pur» ohne die einen oder die anderen Erzählungen wäre Ausdruck einer realitätsfernen Hurra-Theologie, mit der das wirkliche Leben dröhnend übertönt wird, bei einer Opium-Religion. Das rechte Gotteslob ist eingebettet in einen viel weiteren Horizont, in eine Wirklichkeit, die neben Glück und Erfüllung auch Hindernisse, Enttäuschungen, Widerstände und Ängste kennt. Es ist oft Lob «aus der Tiefe», das wir eigentlich gar nicht zu singen vermögen. So erschliesst sich unsere Tageslosung: Wir bitten Gott, selber unseren Mund mit dem Lob zu erfüllen, zu dem wir von uns aus nicht fähig sind – täglich, an guten wie an schlechten Tagen.

Von Andreas Marti