Autor: Andreas Marti

12. Juni

Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel
sein über einen Sünder, der Busse tut, mehr als über
neunundneunzig Gerechte, die der Busse nicht
bedürfen.
Lukas 15,7


Von Umkehr war gestern die Rede. Heute doppeln wir nach.
Sünde, Sünder, sündigen: eine der schwierigeren Wortgruppen
der biblischen und kirchlichen Sprache. Sünden als
einzelne Handlungen zu bezeichnen, ist umgangssprachlich
geläufig, verharmlost aber, was hinter dem Begriff steht,
nämlich die existenzielle Situation des Menschen, die ihn in
der Distanz zu Gott gefangen hält. Reformatorische Theologie
hat sich tief und eingehend mit dem Schicksal des
«Sünders» befasst, der durch Gott selbst aus dieser Distanz
befreit wird. In neuerer Zeit ist eine Ausweitung des Begriffs
nötig geworden: Unheil entsteht nicht nur durch Handlungen
Einzelner, sondern durch Strukturen, die individuell
meist nur schwer beeinflussbar sind, was als «strukturelle
Sünde» bezeichnet wird. Busse ist dann mehr als ein ausgleichender
Akt. Im Sinne des Neuen Testaments geht es
wörtlich um die Sinnesänderung, die Umkehr des Denkens.
Das mag individuell verstanden werden als das Bemühen
um eine moralische Lebensänderung. Es braucht aber heute
mehr: den Einsatz für eine Welt mit weniger «struktureller»
Sünde. Das ist politisch, und so kann es denn keinen apolitischen
Glauben geben, wenn wir das Neue Testament in
unserer Zeit ernst nehmen.

Von: Andreas Marti

11. Juni

Kehrt um zum HERRN, von welchem ihr so sehr
abgewichen seid!
Jesaja 31,6


Das Mahnwort des Propheten Jesaja ist in eine Zeit grosser
Bedrohung des alten Israel durch seine kriegerischen Nachbarn
gesprochen. Eine solche bedrohliche Situation nachzufühlen,
fällt uns – leider – heute nicht allzu schwer; die
Rede ist von Permakrise, von Multikrise, deren Einzelheiten
wir hier nicht aufzuzählen brauchen. Jesaja bringt die Krise
in Verbindung mit dem Abfall des Volkes von Gott; die
Umkehr wäre die Voraussetzung dafür, dass die Bedrohung
verschwindet. Dass die heutigen Krisen durch einige fundamentalistische
Unheilspropheten für die eigene Propaganda
missbraucht werden, ist bedenklich. Dagegen ist zu
protestieren.
Und doch bleibt ein Unbehagen, eine Verunsicherung.
Wäre das Unheil, das uns bedroht, zu vermeiden, wenn die
Menschen – oder eine massgebliche Zahl unter ihnen – sich
nicht vom Grund des Seins entfernt hätten, oder christlich
gesprochen: sich nicht von Gott als dem Urgrund des Seins
getrennt hätten?
Und ist das Unheil nicht vielleicht doch zu beeinflussen,
wenn Menschen sich auf diesen Urgrund besinnen, wenn sie
in unterschiedlichen Religionen auf deren lebensfördernden
Kern rekurrieren, anstatt sie für Herrschaftssysteme oder gar
Gewaltausübung zu missbrauchen?

Von: Andreas Marti

1. Mai

Wie gross sind Gottes Zeichen und wie mächtig
seine Wunder! Sein Reich ist ein ewiges Reich, und
seine Herrschaft währet für und für.
Daniel 3,33

«Reich» – ein belastetes Wort und zugleich ein Schlüsselwort
in vielen biblischen Büchern. Die Kirchengeschichte
kennt eine «Zweireichelehre» von weltlicher und geistlicher
Herrschaft gegenüber dem «Regnum Christi», der um-
fassenden Herrschaft Christi zur Rechten Gottes.
Das erste Konzept wurde, wohl entgegen der Absicht
Luthers, manchmal als Begründung für politische Abstinenz
der Kirche herangezogen; das zweite, vor allem in der
reformierten Tradition zu Hause, behauptet die Relevanz
des Glaubens für alle Lebensbereiche, private wie öffentliche.
Dass dies nicht in eine durchaus menschengemachte
repressive Theokratie degenerieren darf, versteht sich von
selbst. Hingegen ist festzuhalten, dass eine politische Abstinenz
der Kirche im Interesse derer liegt, die in der herrschenden
Situation auf Kosten anderer profitieren. Rückzug auf
den individuellen, privaten Glauben, wie oft aus der Politik
einer bestimmten Richtung gefordert wird, führt lediglich zu
einer irrelevanten Wohlfühl-Dienstleistungsinstitution, die
den Namen Kirche nicht verdient. Schweigen heisst nicht
Neutralität, sondern implizite Parteinahme für jene, die an
den Schalthebeln sitzen. Wir sind aufgerufen und ermächtigt,
«Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen am Reich Gottes»
zu sein.

Von: Andreas Marti

12. April

Ich bin’s, dessen Hände den Himmel ausgebreitet haben
und der seinem ganzen Heer geboten hat. Jesaja 45,12

«Ich glaube an Gott Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer
des Himmels und der Erde.» Das singen oder rezitieren
wir mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Mit einem
modernen wissenschaftlichen Weltbild ist es nur schwer
oder gar nicht zu vereinbaren. Viele Menschen weichen aus
in die Vorstellung einer «höheren Macht, die uns lenkt».
Das ist – wissenschaftlich gesehen – vielleicht schon wieder
zu viel, und doch gemessen an den biblischen Aussagen viel
zu wenig.
Nun gibt es ja durchaus Brüche im wissenschaftlichen
Weltbild, kosmologische Theorien gehen nicht auf. Soll Gott
als Lückenbüsser in diese Brüche hineingedacht werden?
Wohl kaum, aber es gibt ein Minimum: Die konsequent
immanente Welterklärung funktioniert nicht. Unser Reden
von Gott, in einer dreitausendjährigen Tradition, gibt dieser
negativen Erkenntnis eine positive Form. Von diesem
Reden aus interpretieren wir unsere Existenz unter grundsätzlich
positiven Vorzeichen: Der «allmächtige Schöpfer»
ist in dieser Erzähltradition auch der fürsorgliche Vater, die
fürsorgliche Mutter, der Ursprung jeder guten Gabe. Lassen
wir uns daran genug sein.

Von: Andreas Marti

11. April

Der HERR ist deine Zuversicht. Psalm 91,9

Man mag gar nicht aufzuzählen anfangen, was alles der
Zuversicht im Wege steht, im eigenen Umfeld und erst recht
beim Blick in die Welt. All diesen Erfahrungen und Nachrichten
heitere Zuversicht und schlichtes Gottvertrauen entgegenzusetzen,
ist nicht vernünftig. Gott wird die handfesten
Gründe des Unglücks nicht kurzerhand beseitigen, nicht
im Privaten und nicht in der weiten Welt. «Fahr drein und
schaff uns Frieden», so singt Adolf Maurer dennoch in seinem
Lied der Friedenssehnsucht (RG 820).
Dass Gott nicht dreinfährt und Ordnung macht, ist schwer
zu ertragen. Die altlutherische Theologie sagte, Gott erhöre
unsere Gebete nicht nach unserem Willen (ad voluntatem),
sondern zu unserem Heil (ad salutem). Das würde etwa
der manchmal leichthin gesagten Formel entsprechen «Es
wird schon für etwas gut sein». Ich kann diesen Satz einem
anderen Menschen nicht überstülpen; das wäre ein billiger,
uneinfühlsamer Trost. Vielleicht kann ich aber selber zu einer
solchen Erkenntnis gelangen in einem Prozess des Glaubens.
Es wäre ein Weg zur Zuversicht trotz aller Realität, entgegen
dem, was Erfahrung und Vernunft mir zu sagen scheinen. Es
wäre ein Weg, der mir die scheinbar verschlossene Zukunft
wieder öffnet – getröstet durch Christus, wie der Lehrtext
sagt.

Von: Andreas Marti

12. Februar

Achtet genau darauf, dass ihr den HERRN, euren Gott,
liebt, und wandelt auf all seinen Wegen.
Josua 22,5

Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da
soll mein Diener auch sein. Johannes 12,26


Genauigkeit, Präzision: Auch wenn sie nur als «Sekundärtugenden
» gelten, sind es doch Tugenden. In den Ostkirchen
spricht man von «akribia» beim Einhalten ritueller
Vorschriften und liturgischer Regeln. Für das orthodoxe
Judentum ist die gewissenhafte Befolgung aller Gebote und
Verbote der Tora zentral, und Jesus selbst hat gesagt, dass
«kein Jota vom Gesetz» dahinfallen solle. Aber ebenso sagt
er, dass der Sabbat um des Menschen willen da sei und
nicht der Mensch um des Sabbats willen. Dazu erklärt er
die Gottes- und die Nächstenliebe zum obersten Gebot,
und so bekommt die «akribia» eine neue Dimension, die ja
auch schon im Losungswort in den Blick kommt: Die wahre
Genauigkeit ist die konsequente und unbeirrbare Liebe zu
den Menschen, die sich aus der Gottesliebe und aus der
Liebe Gottes zu uns speist. Darum tritt in den Ostkirchen
die «oikonomia» korrigierend zur «akribia», das Augenmass
bei der Umsetzung der Vorschriften, dessen Kriterium
die Liebe ist. Der Kirchenlehrer Augustinus hat es auf eine
griffige Formel gebracht: «Dilige et quod vis fac» – «Liebe,
und tue, was du willst.» Das sind die Wege Gottes, und das
ist die Nachfolge im Dienen, zu der uns Jesus ruft, so, wie es
der heutige Lehrtext sagt.

Von: Andreas Marti

11. Februar

Führe mich aus dem Kerker, dass ich preise
deinen Namen.
Psalm 142,8

Ob der Psalmbeter wirklich im Gefängnis sass, als er dieses
Gebet dichtete? Oder verstand er nicht bereits den «Kerker
» im übertragenen Sinn und dachte dabei an die dunklen
Seiten seines Lebens? Die kirchliche Tradition sieht bekanntlich
im «Kerker» die Verfallenheit der Menschen an Sünde,
Schuld, Tod und Verdammnis:
Unser Kerker, da wir sassen und mit Sorgen ohne Massen
uns das Herze selbst abfrassen, ist entzwei, und wir sind frei.

So singt Paul Gerhardt im Weihnachtslied (RG 403).
Heute müssen wir das Bild vom Kerker wohl weiter fassen,
wie es in einem neueren Lied (RG 700) heisst: Unser
Gefängnis ist das eigne Wesen
– es sind unsere Meinungen,
Überzeugungen, Gewohnheiten, Selbstverständlichkeiten,
Lebensentwürfe und Pläne. Sie mögen Orientierung geben,
aber sie engen auch ein. Dagegen steht Jesu Redeweise «ich
aber sage euch». Sie sorgt für heilsame Verunsicherung,
schafft Raum für Gegenentwürfe, lässt uns die Welt und
uns selbst in neuem Licht sehen. Auf diese Weise bleiben
wir lebendig und dadurch fähig zum Gotteslob, wie es der
Losungstext sagt, oder um zu Paul Gerhardt zurückzukehren:
Singet fröhlich, lasst euch hören, wertes Volk der Christenheit.

Von: Andreas Marti

12. Dezember

Lass leuchten dein Antlitz über deinem  Knecht; hilf mir durch deine Güte!                  Psalm 31,17

«Über deinem Knecht» – freilich vertraute Bibelsprache, aber auch wer mit ihr einigermassen vertraut ist, mag darüber stolpern oder kurz stutzen. «Herr und Knecht» beschreibt das Verhältnis von Gott und Mensch zu einseitig, wohl gar irreführend. Jesus von Nazareth hat diese Redeweise nicht gebraucht, er hat sie durch das Bild der Gotteskindschaft ersetzt, und im letzten Jahrhundert hat Jürgen Moltmann die Vorstellung der «ersten Freigelassenen der Schöpfung» formuliert. Das wäre ungefähr das Gegenteil eines Knecht-Verhältnisses. Mit diesen Korrekturen im Ohr wenden wir uns wieder dem Psalmvers zu.

Den Begriff «Knecht» können wir ja anders füllen. Er muss nicht Unterwürfigkeit bedeuten, kann vielmehr auf ein Angewiesensein verweisen, auf ein Vertrauen, das jemand einem Stärkeren entgegenbringt. Es ist das Vertrauen, von der Kraft dieses Stärkeren zu profitieren, von seinem Schutz, seinem Wohlwollen, seiner Güte, wie es im Psalmvers heisst. Alles ist vereint im Bild des Lichtes, das von Gottes Antlitz ausgeht, vom Gegenüber, das wir nicht sehen, das uns aber anschaut und erleuchtet. So ist die Adventszeit durchdrungen von diesem Bild:

Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein’ neuen Schein; es leucht’ wohl mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder macht. (Martin Luther)

Von Andreas Marti

11. Dezember

Eines jeden Wege liegen offen vor dem HERRN. Sprüche 5,21

Ich klicke eine Website an. Sogleich werde ich gefragt, ob und zu welchen persönlichen Daten ich Zugang geben, welche Cookies ich akzeptieren, was ich offenlegen will. Das wird bei unserem Losungswort nicht gefragt. Es setzt voraus, dass vor Gott alles offenliegt; an eine Privatsphäre ist da nicht gedacht. Er kann als beunruhigend, gar als bedrohlich empfunden werden, dieser allwissende Gott. Zunehmend gerät das Gottesbild der Allwissenheit und der Allmacht in die Kritik.

Schauen wir uns die Sache aber einmal von der anderen Seite an. Liegen denn meine Wege vor mir selber offen? Die kommenden sowieso nicht, aber auch nicht die vergangenen: Höhepunkte und erst recht Tiefpunkte, Wendungen und Veränderungen auf dem Lebensweg bleiben in ihrem Sinn verborgen, liegen dem Verstehen oft keineswegs offen. Zusammenhänge zu erkennen, die Sinnhaftigkeit zu sehen, ist alles andere als selbstverständlich, und mit jeder solchen Erfahrung wird die Last grösser und schwerer. Aber ich muss die Frage nach dem Sinn nicht selber beantworten, darf  sie dem überlassen, vor dem meine Wege offenliegen. Das bringt Entlastung in einer vertrauensvollen Gelassenheit.

Ich verstehe deine Wege nicht,aber du weisst den Weg für mich. (Dietrich  Bonhoeffer)

Von Andreas Marti

12. Oktober

Überall in Ost und West wird man seinen Namen ehren und seine Macht anerkennen. Jesaja 59,19

Ost und West vereint, im Lehrtext auch noch Nord und Süd: Frontalkollision mit der Realität. Ost und West waren schon lange nicht mehr so getrennt. Die Kirchen können daran nichts ändern, eine will das nicht einmal. Nord und Süd entfremden sich. Die globale Konkurrenz um die Lebensgrundlagen wächst. Das lässt nichts Gutes ahnen. Die römische Kirche droht zu zerbrechen zwischen Zeitgenossenschaft und krampfhaftem Einmauern und zugleich zwischen Nord und Süd.

Kirchenleitungen lassen sich besorgt und theologisch sauber argumentierend vernehmen: «Wir müssen in diesen Zeiten …», «Wir wollen gemeinsam …»

Dieses kirchliche «Wir» – wer ist das? Gehöre ich dazu? Ich muss also, ich soll, ich soll wollen. Wieder eine Frontalkollision, nun mit der Erfahrung der Machtlosigkeit. Es droht Resignation, das Ausklinken aus dem kirchlichen «Wir».
«Finsternis deckt alle Welt», tönt es in Händels Messias.
Kommt für uns auch das «grosse Licht»? Gelangen wir zum «Halleluja»?

Bald ist Advent. Da ertönt wieder der Ruf «Dass du den Himmel zerrissest und herniederführest!», sehnsuchtsvoll, verzweifelt – auch hoffnungsvoll?

Von Andreas Marti