Autor: Ulrike Müller

18. Dezember

Paulus schreibt: Mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten der Weisheit, sondern im Erweis des Geistes und der  Kraft. 1. Korinther 2,4

An der Geburt des Kindes, die wir in einer Woche feiern, hatte Paulus keinerlei Interesse. Nirgends erwähnt er sie. Wohl aber den Gekreuzigten, immer wieder. Und der passt ja nicht so gut zu Weihnachten.

Und doch will ich eine Verbindung knüpfen.

Das Kreuz ist ein Zeichen des Scheiterns, des Ausgeliefertseins, der Schwäche. Paulus lenkt meinen Blick auf einen Gott, der sich als Verwundbarer zeigt und selbst bedürftig ist. Eine Gottesvorstellung, die nicht sehr weise klingt. Damit kann ich niemandem Eindruck machen und niemanden überzeugen.

Ein schwacher Gott ist eine Provokation für mein Denken und Hoffen. Ich erwarte doch, der Ewige soll eingreifen, regeln, helfen, machen, verhindern…! Die meisten Gebete sind Bitten an Gott, uns in unseren Problemen zu helfen. Beim verwundbaren Gott geht es nicht primär darum, was er tun kann, sondern was es bedeutet, in einer Beziehung zu ihm zu leben. Und diese seltsame Beziehung muss nicht ich eröffnen, sie ist längst begründet, wir stecken schon tief drin. Vielleicht so: Als ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast mich dir zu eigen gar, eh’ ich dich kannt’, erkoren.

Weihnachtliche Geistkraft, die sich so erweist.

Von Ulrike Müller

17. Dezember

Lobet, ihr Völker, unsern Gott, lasst seinen Ruhm   weit erschallen, der unsre Seelen am Leben erhält  und lässt unsere Füsse nicht gleiten.                Psalm 66,8–9

Die «Route 66» ist eine der bekanntesten Strassen der Welt. Fast 4000 Kilometer lang, führt sie von Chicago nach Santa Monica an die Westküste der USA.

Auf ihr zogen im 19. Jahrhundert Siedler und in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts verarmte Farmer nach jahrelangen Staubstürmen und Dürre zu den Obstplantagen Kaliforniens. Gefährlich war dieser Weg. Aber sie nahmen ihn auf sich für die Sehnsucht nach Freiheit und den Traum von einem besseren Leben.

Eigenartig, dass auch der Psalm 66 in der Bibel mit grossem Jubel einen Weg besingt, der in die Freiheit und ein besseres Leben führt. Gemeint ist der Weg des Volkes Israel aus der Knechtschaft ins Gelobte Land. Der sogenannte Exodus.

Gott, der auch heute Menschen aus dem Elend in die Freiheit führt? Uns oder wen?

Ob die Wege der Flüchtlinge in einem Europa der Zukunft einmal ähnlich legendär sein werden wie die Route 66 oder der Exodus? Der christliche Glaube hat einst die Route über das Mittelmeer genommen. Menschen brachten auf diesem Weg das Evangelium zu uns. Warum soll auf dieser legendären Route nicht erneut Gutes zu uns kommen?

Adventlich wäre eine solche Umkehrung der üblichen Sicht.

Von Ulrike Müller

18. August

So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und  Gott, was Gottes ist!    Lukas 20,25

Nun nehme ich nicht an, dass Sie als Boldern-Leser:in blinden Staatsgehorsam pflegen und dem, was Gott will, gleichgültig gegenüberstehen. Auch nicht, dass für Sie Gott und Welt total getrennte Bereiche sind und Religion sich aufs Innere und die Sorge um die Seele beschränkt. Im Gegenteil! Aber was ist Gottes Sache und was die von Politikern:innen?

Während ich diese Zeilen schreibe, tobt der Krieg in der Ukraine – und ich muss manche meiner bisherigen Einsichten überdenken.

Was ist die Rolle der Ewigen in meinen Überlegungen? Will sie nicht Frieden? Bedeutet dies, die Menschen in der Ukraine nicht mit Waffen zu unterstützen, sondern mit Gebeten und Mitgefühl? Aber: Einem Aggressor keinen Einhalt gebieten?! Also doch Waffen? Wir können in dieser Situation keine weisse Weste behalten. Es gibt aber auch keinen gerechten Krieg. Mancher Slogan bei den Ostermärschen klang für mich auf einmal arg naiv.

Nein, es sind keine getrennten Bereiche. Und ich möchte sie zusammenhalten und nicht aufhören, weiter zu denken und die Ewige zu fragen, was zu einem Ende des Krieges und zu einem gerechten, nicht naiven Frieden führt.

Von Ulrike Müller

17. August

Seid nicht träge in dem, was ihr tun  sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn.      Römer 12,11

Komm, hänge nicht so abgeschlafft herum! Kannst du dich denn nicht mal wieder für etwas so richtig begeistern?!

Hilft Ihnen, hilft mir das? Es macht mich eher müde. Und klingt so hilflos.

Wenn nun aber die Übersetzung der BigS den Sinn besser trifft? «Haltet euch mit eurer Begeisterung nicht zurück; lasst euch von der Geistkraft entzünden und setzt euch für die Lebendige ein.» Dann bin ich eingeladen, eine ganz andere Perspektive einzunehmen. Nämlich die, als brenne schon längst ein Feuer in mir. Und zwar dort, wo ich wenig von mir weiss. Wie wenn die Ewige sich in diesem unendlichen Raum zuinnerst in mir zeigt. Mich dort anrühren will, etwas anfachen.

Und Paulus, der subtile Beobachter des Lebens, sieht bei Menschen um sich herum, wie sie – statt in diesen offenen Raum hineinzulauschen und zu hoffen – «drunten» halten, was da aufbrechen will; es nicht wahrhaben wollen.

Warum? Weil es doch nicht so einfach ist. Weil es nicht passt zu dem, wie man sich selbst zu sehen gelernt hat. Weil man gefangen ist in abgekühlten Idealen.

Aber wenn doch der Funke schon da ist …

Von Ulrike Müller

18. Juni

Er sättigt die durstige Seele, und die  Hungrigen füllt er mit Gutem.                                                      Psalm 107,9

«Nur darf man über den Hunger nicht reden, wenn man Hunger hat … Wenn der Hunger am grössten ist, reden wir von der Kindheit und vom Essen», schreibt Herta Müller in dem Buch «Atemschaukel» über die Zeit in einem russischen Lager. Und dass es gefährlich sei, dem Hunger das Wort zu geben, weil er alles nimmt und verschlingt. Auch die Menschlichkeit. Darum Essensgeschichten für hungrige Ohren.

Redet im Psalm jemand, der oder die hungert, vom Gesättigtwerden?

Wenn ich in der Bibel vom Hungrig- und Durstigsein lese, so denke ich zuerst an den Durst tief in mir, den ungestillten. Wie eine Leere ist er, die ich übertünchen und stopfen, aber nicht so einfach füllen kann.

Jemand sagte einmal, dieser Durst und Hunger wachse mit jeder neuen Niederlage Gottes.

Und wenn diese zwei «Hunger» nun zwei Seiten einer Medaille wären?

Wo finde ich Gott im Angesicht des Hungers?

Warum nicht auch als Gast an meinem Tisch – fragend – ob das, was ich da auftische, bei anderen zu Hunger, miserablen Löhnen, Wassermangel und Vergiftungen führt?

Von Ulrike Müller

17. Juni

Ihr sollt die Wohltaten dessen verkündigen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht.                                        1. Petrus 2,9

«Deutschland hat Russland den Krieg erklärt – nachmittags Schwimmschule», notierte am 2. August 1914 Franz Kafka in sein Tagebuch.

Zwischen Weltgeschichte und persönlicher Geschichte ein Gedankenstrich – und ein Riss.

Als seien es zwei Welten, die partout nicht zueinander passen, so kommt es mir auch jetzt, Anfang März, vor: vor mir der Text von den Wohltaten dessen, der uns aus der Dunkelheit in sein wunderbares Licht berufen hat, und darunter und darüber die Nachrichten, wie Putins Armee immer mehr Städte und Orte in der Ukraine zerstört.

Ich kann und mag jetzt keine Wohltaten verkündigen und auch keine von irgendwoher hervorkramen.

Und doch will ich diese biblischen Worte nicht einfach beiseiteschieben. Sie müssen doch auch jetzt etwas zu sagen haben!

Der Petrusbrief richtete sich an Menschen, die in grosser Verunsicherung lebten. Und ihnen schreibt er, dass sie berufen sind. Gerufen. Auf ein Fundament. Gelegt von Jesus Christus. Auf dem stehen sie – auf dem stehe ich. Wird mir das schon zur Wohltat in dieser Zeit? Oder was kommt von dort noch? Welcher Ruf?

Von Ulrike Müller

18. April, Ostermontag

Lass deine Augen offen stehen über diesem Haus Nacht und Tag, über der Stätte, von der du gesagt hast: Da soll mein Name sein.
1. Könige 8,29

Dass Gott präsent sei an einem Ort…
Ich kenne Orte, an denen ich so etwas ahne: Wo eine ganz eigene Ruhe in mich einströmt. Wo ich mich umgeben fühle von denen, die ihre sehnsüchtigen Bitten oder ihr Glück dorthin brachten und von dem Du, an das sie sich wandten. Wo manches, was ich mit mir trage, auf einmal relativ wird.

Salomon baut ein Haus. Einen Ort von Gottes Nähe. Ausdruck für diese Nähe: Sein Name soll da sein. Eine eigenartige Vorstellung. Im biblischen Denken ist der Name mehr als Schall und Rauch. In meinen Namen bin ich hineingewachsen. In ihm verdichtet sich meine Geschichte. Es «tüpft» mich, wenn mein Name fällt. In seinen Namen ist Gott hineingewachsen, in ihm ist er da – das ist die Vorstellung.

Was ist Gottes Name? Gott? Im Judentum ist eine grosse Scheu da, ihn auszusprechen. Nur einmal im Jahr – am Jom Kippur-Tag – tut es der Hohepriester. Stattdessen werden Ersatzworte benutzt, die eine Eigenschaft beschreiben: die Ewige, der Barmherzige, die Heilige, der HERR, die Gewaltige, der Ort, der Name. Mich rührt diese Scheu! Sie gesteht ein, dass Gott nicht in Worte zu fassen ist.
Und Ostern? Wie soll ich diesen Gott in Worte fassen?
Von Ulrike Müller

17. April, Ostern

Der Auferstandene spricht: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
Johannes 20,21

«Friede sei mit euch!» «Friede sei mit dir!» Warum spricht mich diese Zusage so an?
Mir ist, als habe sie schon mein Innerstes erreicht, bevor ich recht überlegen kann.
Und ich gebe ihr gern Platz. Weil ich merke, wie sehr ich diesen Frieden brauche und wo er mir fehlt. Und mit den Worten scheint schon Friede bei mir angekommen zu sein.

Lasse ich mich da einlullen? Als wäre es so leicht, dass einer Frieden zusagt – und er ist da! Es ist doch kein Friede! Das ist doch Augenwischerei. Wird es je Frieden geben in der Welt? In mir? Es sieht nicht so aus. Und auf einmal muss ich an Menschen denken, die Kathedralen gebaut haben. Nie haben sie diese fertig gesehen. Da gestaltete einer einen Altar, malte ausdrucksvolle Szenen, ein anderer legte das Mosaik am Boden, aber in das fertige Haus konnten sie nicht hineingehen, um das gemeinsame Werk zu betrachten. Und doch stand es eines Tages da.

Könnte das Auferstehungsglauben sein: Eben nicht dem recht geben, was vor Augen ist und realistisch zu sein scheint? Nichts als unverrückbar hinnehmen und Oster-verwegen über mein determiniertes Denken springen?
Von Ulrike Müller

18. Februar

Der HERR sprach zu Mose: Mein Angesicht kannst du nicht sehen;
denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.
2. Mose 33,20

Kenne ich diese Sehnsucht, Gott zu sehen? Endlich einmal! Die Sehnsucht: Sie, die Unfassbare da, und ich im Kontakt mit ihr – spürbar?Und endlich ist etwas gestillt tief drinnen. Ist das «Gott sehen»?Oder klingt mir das zu schwärmerisch?
Die Unsichtbarkeit Gottes, soll Bonhoeffer einmal gesagt haben, könne einen schier zum Verzweifeln bringen.
Auch Moses, der geschildert wird als grosser Vertrauter Gottes, steht da mit diesem grossen Wunsch: Gott wirklich zu sehen. Und diese Bitte wird ihm abgeschlagen.
Was für harmlose Vorstellungen haben wir oft von Gottesbegegnungen. Als ob es eine Art FaceTime wäre… Immer mal wieder für ein angenehmes Feeling.
Stark, gefährlich sind solche Begegnungen offenbar!
Aber eine Möglichkeit wird in den Sätzen, die folgen, aufgetan (2. Mose 22–23): Dass ich «Gott nachschauen kann». Dass heisst, dass ich im Nachhinein, im Zurückschauen auf mein Leben – Spuren des Glanzes und der Güte Gottes entdecken kann. Und darin sie am Werk – durch und durch lebendig.

Von Ulrike Müller

17. Februar

Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort,
so seid ihr wahrhaftig meine Jünger
und werdet die Wahrheit erkennen,
und die Wahrheit wird euch frei machen.
Johannes 8,31–32

Als wenn es heute wäre, weiss ich, wie mich dieser Satz von der Wahrheit, die frei macht, getroffen hat. In einer intensiven Supervisionsgruppe war es. Als eine sagte, für das, was sie fühle, wie ihr zumute sei, dafür kämen ihr die Worte in den Sinn «und werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.» Es war ein Seufzer-Glück-Freiheits-Moment. Alles in einem: Seufzen und Glück und frei. So habe ich es wahrgenommen. Und ich wusste, wie wahr es war, weil ich es kannte.

Wie sie sind, solche Momente? Manchmal fast zu schwer. Aber darin fällt etwas ab von mir, und es ist flügelleicht. Oder es hebt heraus aus den glatten Worten, dem Vorzeige- Glauben, dem «Nicht-anders-Können». Manchmal schwemmen die Wahrheits-Trauer-Glücks-Tränen Krustiges weg.

Es sind Augenblicke. Nicht drinbleiben kann ich. Und immer wieder suche ich sie. Jedes Mal, wenn ich Bibelworte lese – in Bolderntexten oder anderswo –, habe ich die Hoffnung, dass sie wie ein Spiegel sein könnten, in dem meine Wahrheit aufleuchtet.

Von Ulrike Müller