Autor: Felix Reich

29. Oktober

Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich der Elenden. Jesaja 49,13

Ich spüre eine heitere Gelassenheit, eine beflügelnde Euphorie. Der Anblick des Himmels macht mich lachen, ich kann mich nicht sattsehen an den Bergen mit ihren steilen Felswänden, den sich an den abenteuerlichsten Stellen mit ihren Wurzeln daran festkrallenden Tannen, den weiss schäumenden Wasserfällen. Die Schöpfung jubelt, und ich juble mit ihr. Ein Wort breitet sich in mir aus: Gott.

Das Wort versickert. Es nährt den Boden meines Urvertrauens, für das ich keine Worte finde. Es lässt das zarte Pflänzchen wachsen, das die Menschen Glauben nennen und das sich zeigt als Trost, Getrostsein. Ich hoffe, dass das Pflänzchen Wurzeln schlägt und nicht verdorrt, wenn die Sonne der Angst erbarmungslos vom leeren Himmel brennt und der Sturm der Verlassenheit über die Lebensfelder fegt.

Ich weiss, dass die Verheissung des Propheten weit über mich hinausgeht. Deshalb bete ich für die Menschen, die jetzt nicht wie ich freudig durch die Welt schweben, sondern im Elend sind, von Krankheit und Tod, Krieg und Flucht bedroht, von der Armut gefangen. Und doch mache ich jetzt einen Luftsprung. Denn Fürbitte und Dankgebet gehören auch in diesem wortlosen, intimen Gottesdienst zusammen.

Von Felix Reich

30. September

Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Psalm 90,4

Ich stehe unter dem leuchtenden Sternenhimmel. Seine Weite macht mich staunen. Ich denke an die Lichtjahre entfernten Sterne, die noch immer leuchten, obwohl sie gar nicht mehr sind. Der Hauch von Ewigkeit lässt erschaudern.

«Am Morgen blüht es, doch es vergeht, am Abend welkt es und verdorrt», schreibt der Psalmist über das menschliche Leben. Mit allen Hoffnungen und Plänen, Anstrengungen und Höhenflügen fliege ich der Bedeutungslosigkeit entgegen. Ganze Kapitel der Menschheitsgeschichte, gigantische Generationenprojekte verkümmern vor Gott zu einer einzigen Nachtwache. Wie so oft in den Psalmen arbeitet der Dichter auf ein Kippmoment hin. Vergänglichkeit bedeutet nicht Bedeutungslosigkeit und Gottverlassenheit. Vielmehr ist das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit eine tägliche Lektion in Gottes Lebensschule: «Lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.»

Im Nachthimmel über mir leuchtet eine Sternschnuppe auf. Ich stelle mir vor, wie liebevolle Begegnungen, Glücksmomente in meinem Leben aufleuchten am Firmament der Ewigkeit. Und ich denke an Menschen, deren Stern schon längst verglüht ist, aber deren Liebe und Weisheit mir zuweilen noch immer den Weg leuchten.

Von Felix Reich

31. August

Gott kann machen, dass alle Gnade unter euch  reichlich sei, damit ihr in allen Dingen allezeit volle Genüge habt und noch reich seid zu jedem guten  Werk. 2. Korinther 9,8

Reichtum ist bei Paulus kein Selbstzweck. Er befähigt zum guten Werk. Der Apostel predigt die Grosszügigkeit und scheint doch allzu gut zu wissen, was ihr im Weg steht: die tiefsitzende Angst, zu kurz zu kommen. Deshalb will er den Geiz bei der Wurzel packen und stellt der Furcht das Vertrauen auf Gottes Gnade entgegen.

Freilich lässt sich Freigiebigkeit nicht verordnen: «Jeder aber gebe, wie er es sich im Herzen vorgenommen hat, ohne Bedauern und ohne Zwang.» Es geht hier nicht um einen Wettbewerb der Wohltätigkeit, der in der Logik des Gebens und Nehmens gefangen bleibt, sondern um eine neue Selbstverständlichkeit der Güte, die keinen Gegenwert erwartet. Sie ist Gottesdienst im wahrsten Sinn des Wortes, weil sich «zum Evangelium von Christus bekennt», wer gibt.

Im Gottesdienst gehören Fürbitte, Segen und Kollekte zusammen. Und eine Spende an ein Hilfswerk zu dieser Morgenandacht? Nicht aus dem schlechten Gewissen heraus, privilegiert zu sein, sondern in der gelassenen Gewissheit, von Gott immer wieder reich beschenkt zu werden. Täglich eingeübte Dankbarkeit ist die wirksamste Medizin gegen den Geiz und der beste Antrieb zum Handeln.

Von Felix Reich

30. August

Als Mose seine Hand über das Meer reckte, liess es der HERR zurückweichen durch einen starken Ostwind.   2. Mose 14,21

Ich stehe am Strand. Die Wellen geben den glitzernden Sand frei, die schwarz schillernden, mit Muscheln übersäten Felsen, um sie sogleich wieder zu verschlucken. Barfuss im Sand stehen, sich umspülen lassen. Ich spüre, wie ich einsinke. Die Wellen rütteln an mir. Ich halte stand. Den Wind im Gesicht, das Salz auf der Zunge, nichts als die Brandung im Ohr. Manchmal denke ich, Gott wohnt im Meer.

Mir kommt ein Lied der «Einstürzenden Neubauten» in den Sinn: «Und umgekehrt, wenn du bist, wild, und laut und tosend deine Brandung, in deine Wellenberge lausch ich, und aus den höchsten Wellen, aus den Brechern, brechen dann die tausend Stimmen, meine, die von gestern, die ich nicht kannte, die sonst flüstern, und alle anderen auch, und mittendrin der Nazarener; immer wieder die famosen, fünf letzten Worte: Warum hast du mich verlassen? Ich halt dagegen, brüll jede Welle einzeln an: Bleibst du jetzt hier?»

Es gibt Momente, in denen das Meer zurückweicht wie bei Mose. Die Wellen holen Atem und legen den Urgrund des Vertrauens frei jenseits der Worte. In der flüchtigen, unverhofften Euphorie beim Musikhören. Oder in der Getrostheit, gefunden worden zu sein.

Von Felix Reich

29. August

Mach dich auf, Gott, und führe deine Sache. Psalm 74,22

Die Schlacht ist verloren. Die Heiligtümer liegen in Trümmern, der Feind triumphiert und erniedrigt die Besiegten. Der Psalm erzählt von einer Niederlage und der Schmach danach. Ich wünschte, die Bilder, die beim Lesen der Verse in mir aufsteigen, wären mir fremd. Altes Testament eben und deshalb ganz weit weg. Doch ich kenne die Bilder nur allzu gut. Die Bilder von zerbombten Kirchen, brennenden Moscheen, zerschossenen Tempeln, zerstörten Synagogen. Und all die Städte und Dörfer in Trümmern, Menschen auf der Flucht, der Gewalt ausgeliefert. Wie der Psalmist frage ich mich, warum Gott das alles zulässt. Weshalb er seine Hand zurückzieht, statt sie schützend über die Opfer zu halten und die Angreifer zurückzuschlagen.

«Steh auf, Gott, führe deinen Streit.» So übersetzt die Zürcher Bibel die Tageslosung und spitzt sie zu. Ich bete dafür, dass Gott uns die Kraft gibt, aufzustehen gegen das Unrecht und die Gewalt und dabei hilft, den Frieden zu erstreiten. Aber halt: Kann ich überhaupt sicher sein, was Gottes Sache ist? Es ist doch seine Sache. Vielleicht steckt auch diese Warnung im Psalm: dass viele Kirchen und Moscheen brannten und brennen, gerade weil die Menschen meinten, Gottes Plan zu kennen und seinen Streit selbst führen zu müssen. Auch in seiner Ambivalenz ist der Psalm aktueller, als mir lieb ist.

Von Felix Reich

30. August

Als Mose seine Hand über das Meer reckte, liess es der HERR zurückweichen durch einen starken Ostwind.                                                       2. Mose 14,21

Ich stehe am Strand. Die Wellen geben den glitzernden Sand frei, die schwarz schillernden, mit Muscheln übersäten Felsen, um sie sogleich wieder zu verschlucken. Barfuss im Sand stehen, sich umspülen lassen. Ich spüre, wie ich einsinke. Die Wellen rütteln an mir. Ich halte stand. Den Wind im Gesicht, das Salz auf der Zunge, nichts als die Brandung im Ohr. Manchmal denke ich, Gott wohnt im Meer.

Mir kommt ein Lied der «Einstürzenden Neubauten» in den Sinn: «Und umgekehrt, wenn du bist, wild, und laut und tosend deine Brandung, in deine Wellenberge lausch ich, und aus den höchsten Wellen, aus den Brechern, brechen dann die tausend Stimmen, meine, die von gestern, die ich nicht kannte, die sonst flüstern, und alle anderen auch, und mittendrin der Nazarener; immer wieder die famosen, fünf letzten Worte: Warum hast du mich verlassen? Ich halt dagegen, brüll jede Welle einzeln an: Bleibst du jetzt hier?»

Es gibt Momente, in denen das Meer zurückweicht wie bei Mose. Die Wellen holen Atem und legen den Urgrund des Vertrauens frei jenseits der Worte. In der flüchtigen, unverhofften Euphorie beim Musikhören. Oder in der Getrostheit, gefunden worden zu sein. Sie lassen sich nicht festhalten, aber sie umspülen mich wie Wellen des Glücks.

Von Felix Reich

30. Juni

Der HERR ist meine Stärke und mein Lobgesang und ist mein Heil.        2. Mose 15,2

Mose stimmt den Lobgesang des Siegers an. Gott hat die Israeliten in die Freiheit geführt und die Übermacht der Ägypter zerschlagen. «Ross und Reiter hat er ins Meer geschleudert.» Die besten Kämpfer hatten gegen Gott keinen Stich und wurden im Schilfmeer versenkt. «Der Herr ist ein Krieger.»

Soweit der Exodus. In Wahrheit kommen die Kleinen fast immer unter die Räder. Die militärische Stärke gewinnt. Und selbst wenn sie implodiert, tut sie es nur um den Preis von Tod und Zerstörung. Frauen, Kinder, Männer flüchten. Die Angreifer, die ihnen nachjagen, damit sich «an ihnen sättige ihre Gier», versinken nicht im Meer «wie Blei».

Einen anderen Klang erhält der Vers, wenn er, von der Wucht der Erzählung losgelöst, verinnerlicht wird. Menschen sind darauf angewiesen, dass ihre Stärke nicht allein aus ihnen selbst kommt, sondern aus der Zuwendung ihrer Mitmenschen, von der Liebe Gottes. Die Hoffnung, dass heil wird, was zerbrochen ist, und am Ende die Gier doch nicht siegt, Gott sich an die Seite der Opfer stellt und sie seine Kraft spüren lässt. Allerdings ist es nicht die Kraft eines Kriegsgottes, es ist die Kraft des Friedensgottes. Jene Kraft, die «ihre Vollendung am Ort der Schwachheit» findet (2. Kor 12,9).

29. Juni

Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, dass du das  Leben erwählst.           5. Mose 30,19

Gott zwingt die Menschen nicht zu ihrem Glück. Er lässt ihnen die freie Wahl zwischen Segen und Fluch. Die Wahl zwischen einem Leben nach Gottes Gesetzen der Liebe und einer Existenz, die in der Ausgrenzung und im Egoismus ihren falschen Segen findet. Gott schenkt dem Menschen die Freiheit, sich von Gott zu abzuwenden.

Aber egal ist es Gott offensichtlich nicht, wie sich der Mensch entscheidet. Er relativiert die Wahlfreiheit sogleich zum Paradox. Der Ratschlag Gottes liest sich wie ein Befehl:

«… dass du das Leben erwählst». Der Weg in die Gottesferne wird nur aufgezeigt, um ihn als Irrweg zu entlarven. Gott will die Menschen ins Leben führen und nicht in den Tod, in die Freiheit und nicht in die Knechtschaft, hin zu seiner segensreichen Liebe und nicht in den verfluchten Hass.

Den deutlich beschrifteten Wegweiser stellt Gott an die Kreuzung, weil er weiss, wie schwer den Menschen die Wahl oft fällt. Sich im Kleinen für die Liebe statt für den Neid und im Grossen für den Frieden statt für den Krieg zu entscheiden, ist anstrengend. Und so klingt die Bitte im Unservater wie ein menschliches Echo auf die göttliche Wahlempfehlung aus dem Alten Testament: «Und führe uns nicht Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.»

Von Felix Reich

30. April

Der HERR sprach zu Mose: Du hast Gnade vor meinen Augen gefunden,
und ich kenne dich mit Namen.
2.Mose 33,17

Es ist eine filmreife Szene, die sich am Rand des Zeltlagers der Israeliten abspielt, die ausgezogen sind, um das Gelobte Land zu finden. In der Gestalt einer Wolkensäule gastiert Gott persönlich im «Zelt der Begegnung». Gastgeber ist Mose, Josua gibt den Türsteher.

Das Gespräch mit Gott, das Mose «von Angesicht zu Angesicht» führt, liest sich wie eine Verhandlung um das Kleingedruckte. Mose hofft auf eine Vollkaskoversicherung für die Reise ins Land, in dem Milch und Honig fliesst. Doch Gott winkt ab. Wenn er sich mitten unter das «halsstarrige Volk» begeben würde, könnte er es «auf dem Weg vernichten». Die Israeliten müssen mit einem Boten vorliebnehmen. Kaum hat sich Gott offenbart, entzieht er sich der menschlichen Erkenntnis wieder. Mose lässt nicht locker und ringt Gott die Zusage ab, dass er Gnade gefunden hat. «Ich kenne dich mit Namen», bekennt Gott.

Der Mensch bekennt sich zu Gott, ohne ihn je ganz erken- nen zu können. Und indem Gott den Namen des Menschen kennt, bekennt er sich zu ihm. Das wechselseitige Bekenntnis wird zum Fundament der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Auf das Kleingedruckte im Vertrag kann der Mensch sich nicht berufen. Ihm bleibt allein das Wort.

Von Felix Reich

29. April

Seid untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.
Epheser 4,32

«Es sind alle so nett», singt Franz Hohler. Die als Freundlichkeit getarnte Oberflächlichkeit mündet im Lied in die Katastrophe, das Lächeln gefriert zur Fratze. Freundlichkeit kann in den Wahnsinn treiben. Konflikte werden unter den Teppich gekehrt, Gemeinheiten hinter der kontrollierten Fassade versteckt, Einwände weggelächelt.

Freundlichkeit steht unter dem Generalverdacht der politischen Korrektheit. Die Grenzen des Sagbaren zu verschieben, wird zum Freiheitsakt verklärt. Mitleid gilt als Gefühlsduselei ohne Sinn für die harte Realität. Wer die Humanität hochhält, gilt als Multikulti-Träumer. Wer Verzicht postuliert, wird als Moralist abgestempelt.

Der Apostel moralisiert nach Herzenslust. «Arbeite und tue etwas mit deinen Händen, damit du etwas hast, das du dem Notleidenden geben kannst.» Die Freundlichkeit, die hier zur Christenpflicht erklärt wird, hat nichts mit selbst-gerechter Nettigkeit zu tun, welche die Contenance behält um jeden Preis. Diese Freundlichkeit geht tiefer, sie meint Barmherzigkeit. Sie scheut den Blick auf die Wirklichkeit nicht und auch keine Debatte. Ohne sie funktioniert keine Familie, keine Gemeinschaft und ohne sie ist wohl auch kein Staat zu machen.

Von Felix Reich