Autor: Felix Reich

30. Juni

Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder
aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht
gern wieder zurechtkäme?
Jeremia 8,4

Ein Volk, das sich abwendet von Gott, sich den falschen
Götzen unterwirft. Die Leidensgeschichte von Gottes Wort
und prophetische Mahnreden, welche die Uneinsichtigkeit
der Menschen beklagen. Kunstvoll erzählt, theologisch dicht
und literarisch klug komponiert, aber aus der Zeit gefallen.
Wirklich? Eigentlich klingt die Tageslosung doch beklemmend
aktuell. Der Prophet Jeremia beklagt den fehlenden
Willen zur Umkehr. Die Gestrauchelten bleiben lieber liegen,
als sich an Gott aus- und aufzurichten. Im Gegensatz zum
Storch am Himmel, zur Taube, zum Mauersegler und zur
Schwalbe, die alle «die Zeit ihrer Heimkehr» einhalten, hat
die Menschen ihr Instinkt, der Sinn für «die Ordnung des
Herrn» (Jeremia 8,7) verlassen.
Durch die Geschichte zieht sich eine blutige Spur des Unrechts
und der Gier, angesichts derer man kein Prophet sein muss,
um sich zu fragen, wo das Bewusstsein dafür auf der Strecke
geblieben ist, was Menschsein eigentlich bedeutet. Und es
bleibt zu hoffen, dass sich weiterhin immer wieder Menschen
finden, die sich nicht abfinden damit, sondern – selbst wenn
sie straucheln – aufstehen für Frieden und Gerechtigkeit, für
die Ordnung Gottes.

Von: Felix Reich

29. Juni

Ich danke unserem Herrn Christus Jesus, der mich stark
gemacht und für treu erachtet hat.
1. Timotheus 1,12

Paulus – oder sein Schüler – redet den Gemeindeleitern ins
Gewissen. Sie sollen sich von jenen abgrenzen, die «keine
Ahnung haben, wovon sie reden und worüber sie so selbstgewiss
urteilen» (1. Timotheus 1,7). Der Apostel ist mit dem
Selbstbewusstsein des Bekehrten gesegnet und hält sich für
stark genug, zu wissen, was wirklich gilt.
Wenn Predigerinnen und Prediger meinen, die Wahrheit
gepachtet zu haben, wird es ungemütlich. Wähnen sich Religionen
auf dem einzig richtigen Weg, lauert die Ideologie.
Ausgerechnet Paulus wird gerne zitiert, um Menschen herabzusetzen.
So bleibt die ihm zugeschriebene Aufforderung,
Frauen müssten schweigen in der Gemeinde, sich unterordnen
(1. Korinther 14,34) auf fatale Weise wirksam. Zugleich
liefert Paulus auch den Schlüssel zur Wahrheit: Ziel sei «die
Liebe, die aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem
Glauben kommt» (1. Timotheus 1,5).
Vielleicht helfen solche Widersprüche, eigene Wahrheiten
zu hinterfragen, ohne die Wahrheit der Liebe und der Hoffnung,
welche die Bibel verkündet und in Erzählungen und
Gleichnissen erfahrbar macht, zu relativieren. Ob Freiheit
und Würde möglich sind oder Diskriminierung und Unrecht
herrschen, ist keine Frage der Kultur. Es ist eine Machtfrage.

Von: Felix Reich

30. April

Als Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er:
Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! 1. Mose 28,16

Jakob hat sich mit einer List den Segen, der seinem älteren
Bruder zugestanden hätte, erschlichen und ist ausgezogen
aus seinem Elternhaus. Die erste Nacht verbringt er unter
freiem Himmel. Im Traum öffnet sich dieser Himmel, und
Jakob sieht die Himmelsleiter. Zuoberst steht Gott persönlich
und schliesst mit dem Betrüger einen Bund: «Und siehe,
ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.»
Ich bin nicht Jakob. Selten erinnere ich mich an meine
Träume und wenn doch, sind es meistens böse Träume,
aus denen ich aufschrecke. Ich habe noch nie den offenen
Himmel gesehen, keine Leiter, keinen Gott. Und dennoch
vertraue ich darauf, dass der Zuspruch Gottes auch mir gilt,
dass ich wie Jakob behütet bin, wo auch immer ich hinziehe.
Und dann gibt es diese Momente, in denen kleine Wunder
geschehen. In einem Gespräch über das unsagbar Traurige
finde ich Worte, die trösten oder zumindest dem Schmerz
eine Sprache geben. In einer Begegnung scheint etwas auf,
das mit Erkenntnis zu tun hat und mich durch einen Tag
hindurch trägt. Ich staune, dass solche Momente sich immer
wieder unverhofft einstellen. Wie Jakob habe ich vergessen,
dass Gott an allen Stätten ist und mich beschenkt. Fürwahr!

Von: Felix Reich

29. April

Den Reichen in dieser Welt gebiete, dass sie nicht stolz
seien, auch nicht hoffen auf den unsicheren Reichtum,
sondern auf Gott, der uns alles reichlich darbietet,
es zu geniessen; dass sie Gutes tun, reich werden an
guten Werken, gerne geben, zum Teilen bereit sind. 1. Timotheus 6,17–18

Der Text ist jetzt einfach, denke ich, bevor ich schreibe.
Beinahe selbsterklärend. Ich zähle zu den «Reichen dieser
Welt» und soll deshalb meinen Reichtum teilen, indem ich
etwas abgebe. Also richte ich meinen Dauerauftrag beim
Hilfswerk ein, lege nach dem Gottesdienst eine Zwanzigernote
in die Kollekte und werde so «reich an guten Werken».
Gut machbar eigentlich und recht bequem.
Wenn ich jedoch genau lese und ernst nehme, was Paulus
schreibt, ist die Sache damit nicht erledigt. Ich klammere
mich durchaus an den «unsicheren Reichtum», materielle
Sicherheit ist mir wichtig. Und hätte Paulus das mit der
Spende gemeint, hätte er vom Zehnten geschrieben: Ich soll
einen Teil meines Reichtums abgeben und gut ist.
Teilen bedeutet mehr. Teilen heisst, dass ich meine Tür
öffne für andere Menschen und verletzlich werde. Nicht ich
bestimme darüber, wie viel ich abgebe. Wer teilt, richtet sich
nach den Bedürfnissen der Bedürftigen. Und ich glaube, das
Teilen, von dem hier die Rede ist, geht über das Monetäre
hinaus: Es geht auch um Zeit, Zuwendung und Raum.

Von: Felix Reich

31. Januar

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist
und der da war und der da kommt.
Offenbarung 1,4

Gott, bist du da? Wenn ich nicht weiss, wohin mit mir. Ich
mich fürchte vor dem Wahnsinn dieser Welt, in der Millionen
von Menschen ihre Heimat verlassen auf der Suche
nach ein bisschen Zukunft, in der Krieg und Hunger wüten.
Und mir angesichts dieser Katastrophen die eigene Angst so
lächerlich vorkommt und sie mir trotzdem den Atem raubt.
Gott, wo warst du? Als der Tod einbrach und einen geliebten
Menschen mit sich riss. Mich fassungslos zurückliess. Und
mir der vertraute Satz, dass bei dir der Tod nicht das letzte
Wort habe, nur noch hohl und schal wie ein Echo klang.
Gott, wann kommst du? Auf dass du Frieden stiftest, wo der
Krieg zerstört, sättigst, wo der Hunger quält, und endlich
Gerechtigkeit herstellst, wo die Gier regiert.
Vielleicht warst du tatsächlich immer da, bist bei mir, wirst
zu mir kommen. Im Aufatmen, das mich vom Würgegriff der
Angst befreit. In einer liebevollen Nähe mitten in Krankheit
und Sterben. Durch die Tür, die sich öffnete, als ich dachte,
ich sei am Ende meiner Möglichkeiten angelangt. In einem
heilsamen Wort im Moment des verzweifelten Verstummens.
Schenke mir das Vertrauen, Gott, dass du mit mir
gehst und schon dort bist, wo ich deinen Frieden nötig habe.

Von: Felix Reich

30. Januar

Der HERR, unser Gott, hat uns behütet auf dem ganzen
Wege, den wir gegangen sind.
Josua 24,17

Bhüet di Gott! Die Worte hörte ich oft als Kind. Und heute
sage ich sie manchmal auch. Nicht als Zauberspruch, der
imprägniert gegen die Gefahr. Wer sich von Gott behütet
weiss, ist nicht unverwundbar. Vielleicht wird er sogar durchlässiger,
aufmerksamer für die Not der andern. Der Wunsch
steht für die Einsicht, dass mein Leben nicht in meiner Macht
steht. Für die Hoffnung, dass Gott dich behütet, was dir
immer auch geschieht.
Im Buch Josua klingt der Satz wie ein Erfolgsrezept. Gott
zeigt seinen Segen, indem er sein Volk aus der Sklaverei
befreit, die Verfolger im Meer versenkt, seinem Feldherrn
Kraft und List verleiht, Kriege zu gewinnen. Die Eroberer sind
erbarmungslos: «Alles, was in der Stadt war, weihten sie der
Vernichtung mit der Schärfe des Schwerts, Mann und Frau,
Jung und Alt, Rind, Schaf und Esel.» (Josua 6,21)
Was mache ich nun mit dem Satz? Er klang so schön, jetzt
höre ich darin den Kriegslärm. Ich glaube nicht, dass Gott auf
dem Schlachtfeld kämpft. Doch ich weiss, dass Menschen ihr
Leben einsetzen für die Freiheit. In ihren Ohren erhält die
Erzählung vom wehrhaften Gott wohl einen anderen Klang.
Ich bete dafür, dass Gott sie behütet. Und dafür, dass ich
Frieden stifte, wo es in meiner Macht steht. Bhüet mi Gott!

Von: Felix Reich

29. Dezember

Jesus Christus war nicht Ja und Nein, sondern  in ihm ist das Ja Wirklichkeit geworden.        2. Korinther 1,19

So ist es, und fertig. Ende der Diskussion. Über den Glauben lässt sich nicht streiten. Zweifel haben keinen Platz, denn die Wahrheit hat sich ja offenbart. Entweder du glaubst, oder du bist raus. Wenn mir Religion so entgegenkommt, verstumme ich. Es zieht sich alles in mir zusammen.

Mein Glaube geht auf schwankenden Brettern. Er trägt, aber er bleibt in Bewegung. Und er ist ein Wagnis, weshalb ich manchmal nasse Füsse bekomme: Eine Bibelstelle stellt sich quer, eine kluge Nachfrage bringt mich ins Grübeln, ein Gleichnis stellt Gerechtigkeitsvorstellungen auf die Probe, ich habe Angst, dass sich das Gefühl, im Glauben beheimatet zu sein und Trost zu finden, verflüchtigt.

Mein Glaube ist ein erzählter Glaube. Die Erzählung braucht nicht eindeutig zu sein, um wahr zu sein. Jesus antwortet auf die Frage nach dem Himmelreich nicht mit Gesetzesartikeln. Stattdessen erzählt er Gleichnisse: Geschichten.

Der biblischen Erzählung darf ich mich anvertrauen. Etwa der Weihnachtsgeschichte, die in diesen Tagen zwischen den Jahren in mir nachklingt. Gott kommt als verletzliches, bedürftiges Kind in die Welt und lässt damit sein bedingungsloses Ja Wirklichkeit werden.

Von Felix Reich

30. November

Er gibt dem Müden Kraft und Stärke  genug dem Unvermögenden.       Jesaja 40,29

Wie oft scheitere ich. Mir fehlt die Kraft, auf Menschen zuzugehen. Ich lasse mich durch Sticheleien aus dem Konzept bringen und hineinziehen in einen Wettbewerb der Eitelkeiten. Ich habe nicht die Souveränität, meine Fehler einzugestehen. Aus einer trotzigen Angst vor dem Gesichtsverlust schiebe ich die Entschuldigung hinaus. Ich bin träge und fahrig statt präsent und empathisch.

Manchmal hilft es, wenn ich mich ausklinke. Ich trete an die frische Luft. Wenn eine Kirche in der Nähe ist, zünde ich dort eine Kerze an. Ich setze mich und lasse den Raum auf mich wirken. Machte ich mir zuvor Vorwürfe und ging mit mir selbst ins Gericht, versuche ich jetzt loszulassen. Ich gestehe mir mein Unvermögen ein. Ich spüre, wie mein Atem ruhiger, freier wird. Ich werde offen für die Kraft, die aus der Schwäche erwächst. Gelassenheit vertreibt die Müdigkeit.

Gestärkt kehre ich zurück. Das stille Gebet hat mir geholfen, zu Kräften zu kommen. Mir gelingt es, für mir wichtige Dinge zu argumentieren und Nichtigkeiten getrost auf mir sitzen zu lassen. Ich finde den Mut zur Aufrichtigkeit und bitte um Verzeihung. Ich weiss, dass mein Straucheln unvermeidlich bleibt. Aber ich darf darauf vertrauen, dass ich von Gott immer wieder neue Kraft empfange, wenn ich ermatte.

Von Felix Reich

29. Oktober

Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich der Elenden. Jesaja 49,13

Ich spüre eine heitere Gelassenheit, eine beflügelnde Euphorie. Der Anblick des Himmels macht mich lachen, ich kann mich nicht sattsehen an den Bergen mit ihren steilen Felswänden, den sich an den abenteuerlichsten Stellen mit ihren Wurzeln daran festkrallenden Tannen, den weiss schäumenden Wasserfällen. Die Schöpfung jubelt, und ich juble mit ihr. Ein Wort breitet sich in mir aus: Gott.

Das Wort versickert. Es nährt den Boden meines Urvertrauens, für das ich keine Worte finde. Es lässt das zarte Pflänzchen wachsen, das die Menschen Glauben nennen und das sich zeigt als Trost, Getrostsein. Ich hoffe, dass das Pflänzchen Wurzeln schlägt und nicht verdorrt, wenn die Sonne der Angst erbarmungslos vom leeren Himmel brennt und der Sturm der Verlassenheit über die Lebensfelder fegt.

Ich weiss, dass die Verheissung des Propheten weit über mich hinausgeht. Deshalb bete ich für die Menschen, die jetzt nicht wie ich freudig durch die Welt schweben, sondern im Elend sind, von Krankheit und Tod, Krieg und Flucht bedroht, von der Armut gefangen. Und doch mache ich jetzt einen Luftsprung. Denn Fürbitte und Dankgebet gehören auch in diesem wortlosen, intimen Gottesdienst zusammen.

Von Felix Reich

30. September

Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Psalm 90,4

Ich stehe unter dem leuchtenden Sternenhimmel. Seine Weite macht mich staunen. Ich denke an die Lichtjahre entfernten Sterne, die noch immer leuchten, obwohl sie gar nicht mehr sind. Der Hauch von Ewigkeit lässt erschaudern.

«Am Morgen blüht es, doch es vergeht, am Abend welkt es und verdorrt», schreibt der Psalmist über das menschliche Leben. Mit allen Hoffnungen und Plänen, Anstrengungen und Höhenflügen fliege ich der Bedeutungslosigkeit entgegen. Ganze Kapitel der Menschheitsgeschichte, gigantische Generationenprojekte verkümmern vor Gott zu einer einzigen Nachtwache. Wie so oft in den Psalmen arbeitet der Dichter auf ein Kippmoment hin. Vergänglichkeit bedeutet nicht Bedeutungslosigkeit und Gottverlassenheit. Vielmehr ist das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit eine tägliche Lektion in Gottes Lebensschule: «Lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.»

Im Nachthimmel über mir leuchtet eine Sternschnuppe auf. Ich stelle mir vor, wie liebevolle Begegnungen, Glücksmomente in meinem Leben aufleuchten am Firmament der Ewigkeit. Und ich denke an Menschen, deren Stern schon längst verglüht ist, aber deren Liebe und Weisheit mir zuweilen noch immer den Weg leuchten.

Von Felix Reich