Schlagwort: Andreas Marti

11. August

Gott weiss, was in der Finsternis ist, und bei ihm
wohnt das Licht.
Daniel 2,22

Licht und Finsternis: in biblischer und überhaupt in religiöser
Sprache eine der verbreitetsten Metaphern – so verbreitet,
dass sie manchmal schon eher abgegriffen wirkt. Entsprechend
habe ich vom Stossseufzer eines Pfarrers gehört, von
seiner Reaktion auf den Ratschlag, er solle halt zu Beginn
der Adventszeit irgendetwas über das Licht predigen: «Ach,
immer dieses … Licht!» (auf das Adjektiv, das er noch hinzugefügt
hat, verzichten wir hier …). Das ist alles schon so
vertraut, dass der Informationswert einer Predigt gegen null
geht, und auch über unseren Losungstext könnten wir rasch
hinweggehen: klar, alles bekannt.
Aber vielleicht gibt es da doch noch etwas anderes herauszulesen,
wenigstens als einen Gedanken im Hintergrund. Es
«ist» nämlich etwas drin in der Finsternis, und da bleibt es
einstweilen auch, aber Gott weiss darum. Dieses Etwas ist
nicht bei Gott; bei ihm wohnt ja das Licht. Es ist aber auch
nicht in der hoffnungslosen Gottferne. Gott weiss darum,
Gott behält es im Auge, Gott vergisst es nicht. Erfahrungen
von Finsternis gibt es – weiss Gott – genug, mehr als genug.
Mit dem Hinweis auf das Licht, das bei Gott ist, verschwinden
sie nicht einfach. Sehr oft muss es darum gehen, die Finsternis
auszuhalten. Dass Gott unsere Finsternis erhellt, steht
als Hoffnung am Horizont, aber es kann und muss manchmal
schon genügen, dass er um sie weiss und wir dies wissen.

Von: Andreas Marti

12. Juni

Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel
sein über einen Sünder, der Busse tut, mehr als über
neunundneunzig Gerechte, die der Busse nicht
bedürfen.
Lukas 15,7


Von Umkehr war gestern die Rede. Heute doppeln wir nach.
Sünde, Sünder, sündigen: eine der schwierigeren Wortgruppen
der biblischen und kirchlichen Sprache. Sünden als
einzelne Handlungen zu bezeichnen, ist umgangssprachlich
geläufig, verharmlost aber, was hinter dem Begriff steht,
nämlich die existenzielle Situation des Menschen, die ihn in
der Distanz zu Gott gefangen hält. Reformatorische Theologie
hat sich tief und eingehend mit dem Schicksal des
«Sünders» befasst, der durch Gott selbst aus dieser Distanz
befreit wird. In neuerer Zeit ist eine Ausweitung des Begriffs
nötig geworden: Unheil entsteht nicht nur durch Handlungen
Einzelner, sondern durch Strukturen, die individuell
meist nur schwer beeinflussbar sind, was als «strukturelle
Sünde» bezeichnet wird. Busse ist dann mehr als ein ausgleichender
Akt. Im Sinne des Neuen Testaments geht es
wörtlich um die Sinnesänderung, die Umkehr des Denkens.
Das mag individuell verstanden werden als das Bemühen
um eine moralische Lebensänderung. Es braucht aber heute
mehr: den Einsatz für eine Welt mit weniger «struktureller»
Sünde. Das ist politisch, und so kann es denn keinen apolitischen
Glauben geben, wenn wir das Neue Testament in
unserer Zeit ernst nehmen.

Von: Andreas Marti

11. Juni

Kehrt um zum HERRN, von welchem ihr so sehr
abgewichen seid!
Jesaja 31,6


Das Mahnwort des Propheten Jesaja ist in eine Zeit grosser
Bedrohung des alten Israel durch seine kriegerischen Nachbarn
gesprochen. Eine solche bedrohliche Situation nachzufühlen,
fällt uns – leider – heute nicht allzu schwer; die
Rede ist von Permakrise, von Multikrise, deren Einzelheiten
wir hier nicht aufzuzählen brauchen. Jesaja bringt die Krise
in Verbindung mit dem Abfall des Volkes von Gott; die
Umkehr wäre die Voraussetzung dafür, dass die Bedrohung
verschwindet. Dass die heutigen Krisen durch einige fundamentalistische
Unheilspropheten für die eigene Propaganda
missbraucht werden, ist bedenklich. Dagegen ist zu
protestieren.
Und doch bleibt ein Unbehagen, eine Verunsicherung.
Wäre das Unheil, das uns bedroht, zu vermeiden, wenn die
Menschen – oder eine massgebliche Zahl unter ihnen – sich
nicht vom Grund des Seins entfernt hätten, oder christlich
gesprochen: sich nicht von Gott als dem Urgrund des Seins
getrennt hätten?
Und ist das Unheil nicht vielleicht doch zu beeinflussen,
wenn Menschen sich auf diesen Urgrund besinnen, wenn sie
in unterschiedlichen Religionen auf deren lebensfördernden
Kern rekurrieren, anstatt sie für Herrschaftssysteme oder gar
Gewaltausübung zu missbrauchen?

Von: Andreas Marti

1. Mai

Wie gross sind Gottes Zeichen und wie mächtig
seine Wunder! Sein Reich ist ein ewiges Reich, und
seine Herrschaft währet für und für.
Daniel 3,33

«Reich» – ein belastetes Wort und zugleich ein Schlüsselwort
in vielen biblischen Büchern. Die Kirchengeschichte
kennt eine «Zweireichelehre» von weltlicher und geistlicher
Herrschaft gegenüber dem «Regnum Christi», der um-
fassenden Herrschaft Christi zur Rechten Gottes.
Das erste Konzept wurde, wohl entgegen der Absicht
Luthers, manchmal als Begründung für politische Abstinenz
der Kirche herangezogen; das zweite, vor allem in der
reformierten Tradition zu Hause, behauptet die Relevanz
des Glaubens für alle Lebensbereiche, private wie öffentliche.
Dass dies nicht in eine durchaus menschengemachte
repressive Theokratie degenerieren darf, versteht sich von
selbst. Hingegen ist festzuhalten, dass eine politische Abstinenz
der Kirche im Interesse derer liegt, die in der herrschenden
Situation auf Kosten anderer profitieren. Rückzug auf
den individuellen, privaten Glauben, wie oft aus der Politik
einer bestimmten Richtung gefordert wird, führt lediglich zu
einer irrelevanten Wohlfühl-Dienstleistungsinstitution, die
den Namen Kirche nicht verdient. Schweigen heisst nicht
Neutralität, sondern implizite Parteinahme für jene, die an
den Schalthebeln sitzen. Wir sind aufgerufen und ermächtigt,
«Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen am Reich Gottes»
zu sein.

Von: Andreas Marti

12. April

Ich bin’s, dessen Hände den Himmel ausgebreitet haben
und der seinem ganzen Heer geboten hat. Jesaja 45,12

«Ich glaube an Gott Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer
des Himmels und der Erde.» Das singen oder rezitieren
wir mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Mit einem
modernen wissenschaftlichen Weltbild ist es nur schwer
oder gar nicht zu vereinbaren. Viele Menschen weichen aus
in die Vorstellung einer «höheren Macht, die uns lenkt».
Das ist – wissenschaftlich gesehen – vielleicht schon wieder
zu viel, und doch gemessen an den biblischen Aussagen viel
zu wenig.
Nun gibt es ja durchaus Brüche im wissenschaftlichen
Weltbild, kosmologische Theorien gehen nicht auf. Soll Gott
als Lückenbüsser in diese Brüche hineingedacht werden?
Wohl kaum, aber es gibt ein Minimum: Die konsequent
immanente Welterklärung funktioniert nicht. Unser Reden
von Gott, in einer dreitausendjährigen Tradition, gibt dieser
negativen Erkenntnis eine positive Form. Von diesem
Reden aus interpretieren wir unsere Existenz unter grundsätzlich
positiven Vorzeichen: Der «allmächtige Schöpfer»
ist in dieser Erzähltradition auch der fürsorgliche Vater, die
fürsorgliche Mutter, der Ursprung jeder guten Gabe. Lassen
wir uns daran genug sein.

Von: Andreas Marti

11. April

Der HERR ist deine Zuversicht. Psalm 91,9

Man mag gar nicht aufzuzählen anfangen, was alles der
Zuversicht im Wege steht, im eigenen Umfeld und erst recht
beim Blick in die Welt. All diesen Erfahrungen und Nachrichten
heitere Zuversicht und schlichtes Gottvertrauen entgegenzusetzen,
ist nicht vernünftig. Gott wird die handfesten
Gründe des Unglücks nicht kurzerhand beseitigen, nicht
im Privaten und nicht in der weiten Welt. «Fahr drein und
schaff uns Frieden», so singt Adolf Maurer dennoch in seinem
Lied der Friedenssehnsucht (RG 820).
Dass Gott nicht dreinfährt und Ordnung macht, ist schwer
zu ertragen. Die altlutherische Theologie sagte, Gott erhöre
unsere Gebete nicht nach unserem Willen (ad voluntatem),
sondern zu unserem Heil (ad salutem). Das würde etwa
der manchmal leichthin gesagten Formel entsprechen «Es
wird schon für etwas gut sein». Ich kann diesen Satz einem
anderen Menschen nicht überstülpen; das wäre ein billiger,
uneinfühlsamer Trost. Vielleicht kann ich aber selber zu einer
solchen Erkenntnis gelangen in einem Prozess des Glaubens.
Es wäre ein Weg zur Zuversicht trotz aller Realität, entgegen
dem, was Erfahrung und Vernunft mir zu sagen scheinen. Es
wäre ein Weg, der mir die scheinbar verschlossene Zukunft
wieder öffnet – getröstet durch Christus, wie der Lehrtext
sagt.

Von: Andreas Marti

11. Februar

Führe mich aus dem Kerker, dass ich preise
deinen Namen.
Psalm 142,8

Ob der Psalmbeter wirklich im Gefängnis sass, als er dieses
Gebet dichtete? Oder verstand er nicht bereits den «Kerker
» im übertragenen Sinn und dachte dabei an die dunklen
Seiten seines Lebens? Die kirchliche Tradition sieht bekanntlich
im «Kerker» die Verfallenheit der Menschen an Sünde,
Schuld, Tod und Verdammnis:
Unser Kerker, da wir sassen und mit Sorgen ohne Massen
uns das Herze selbst abfrassen, ist entzwei, und wir sind frei.

So singt Paul Gerhardt im Weihnachtslied (RG 403).
Heute müssen wir das Bild vom Kerker wohl weiter fassen,
wie es in einem neueren Lied (RG 700) heisst: Unser
Gefängnis ist das eigne Wesen
– es sind unsere Meinungen,
Überzeugungen, Gewohnheiten, Selbstverständlichkeiten,
Lebensentwürfe und Pläne. Sie mögen Orientierung geben,
aber sie engen auch ein. Dagegen steht Jesu Redeweise «ich
aber sage euch». Sie sorgt für heilsame Verunsicherung,
schafft Raum für Gegenentwürfe, lässt uns die Welt und
uns selbst in neuem Licht sehen. Auf diese Weise bleiben
wir lebendig und dadurch fähig zum Gotteslob, wie es der
Losungstext sagt, oder um zu Paul Gerhardt zurückzukehren:
Singet fröhlich, lasst euch hören, wertes Volk der Christenheit.

Von: Andreas Marti