Führe mich aus dem Kerker, dass ich preise
deinen Namen.
Psalm 142,8

Ob der Psalmbeter wirklich im Gefängnis sass, als er dieses
Gebet dichtete? Oder verstand er nicht bereits den «Kerker
» im übertragenen Sinn und dachte dabei an die dunklen
Seiten seines Lebens? Die kirchliche Tradition sieht bekanntlich
im «Kerker» die Verfallenheit der Menschen an Sünde,
Schuld, Tod und Verdammnis:
Unser Kerker, da wir sassen und mit Sorgen ohne Massen
uns das Herze selbst abfrassen, ist entzwei, und wir sind frei.

So singt Paul Gerhardt im Weihnachtslied (RG 403).
Heute müssen wir das Bild vom Kerker wohl weiter fassen,
wie es in einem neueren Lied (RG 700) heisst: Unser
Gefängnis ist das eigne Wesen
– es sind unsere Meinungen,
Überzeugungen, Gewohnheiten, Selbstverständlichkeiten,
Lebensentwürfe und Pläne. Sie mögen Orientierung geben,
aber sie engen auch ein. Dagegen steht Jesu Redeweise «ich
aber sage euch». Sie sorgt für heilsame Verunsicherung,
schafft Raum für Gegenentwürfe, lässt uns die Welt und
uns selbst in neuem Licht sehen. Auf diese Weise bleiben
wir lebendig und dadurch fähig zum Gotteslob, wie es der
Losungstext sagt, oder um zu Paul Gerhardt zurückzukehren:
Singet fröhlich, lasst euch hören, wertes Volk der Christenheit.

Von: Andreas Marti