Autor: Sigrun Welke-Holtmann

28. Februar

Der Blinde rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme
dich meiner! Die aber vornean gingen, fuhren ihn an,
er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel mehr:
Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
Lukas 18,38–39

Woher weiss er das eigentlich, dass Jesus in der Nähe ist? Hat
man es ihm gesagt? Oder spürt er gar seine Nähe? Hat er die
Unruhe der anderen wahrgenommen, dass alle in Aufregung
sind wegen ihm?
Auch wenn der Blinde ihn nicht sehen kann, so sieht er ihn
doch, und er sieht nicht nur, was den anderen vor Augen
ist, sondern er sieht Jesus in seiner wahren Bedeutung: Sohn
Davids – so ruft er ihn an, schreit nach ihm. Damit spricht der
Blinde Jesus in seiner Königswürde an, in seiner messianischen
Bedeutung. Denn gesalbt (Messias) wurden eben nur Könige.
Und wie äussert sich Jesu Davidsohnschaft? Dadurch, dass
er sich vom Geschrei eines Blinden anrühren lässt, ihm Aufmerksamkeit
schenkt und sich zu ihm wendet, sich seiner
erbarmt und ihn (körperlich) heilt.
Er schenkt ihm das Augenlicht, obwohl dieser doch schon
alles gesehen hat, was wirklich wichtig ist.
Der unbekannte Blinde sieht in Jesus, wer Jesus wirklich ist,
im Gegensatz zu anderen, die sehen können und doch nicht
sehen, nicht erkennen.
Statt sich durch das Geschrei die Augen öffnen zu lassen,
wollen sie zum Schweigen bringen.
Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!

Von: Sigrun Welke-Holtmann

27. Februar

Der HERR kommt, das Erdreich zu richten.
Er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit
und die Völker, wie es recht ist.
Psalm 98,9

Lese ich diese zwei Sätze aus dem Zusammenhang gerissen,
so kommen sie mir fast wie eine Drohung vor. Gericht
klingt in meinen Ohren eher nach Strafe, auch wenn von
Gerechtigkeit die Rede ist. Doch wer kann von sich schon
behaupten, gerecht zu sein?! Und was ist das Gericht, wie es
recht ist? Was habe ich eigentlich verdient?
Sie schmeckt mir bitter, die Losung des heutigen Tages.
Doch dann lese ich sie im Zusammenhang. Im Zusammenhang
des ganzen Psalms wird sie regelrecht zu einer
Geschmacksexplosion. Denn sie ist der Höhepunkt, der
Endpunkt, das grosse Finale. Verheissung und Versprechen.
Keine schale Drohung, sondern das ersehnte Ende. Und es
kommt nicht einfach so nebenbei, sondern mit Pauken und
Trompeten, mit aller Macht und Gewalt – Naturgewalt.
«Die Ströme sollen in die Hände klatschen und alle Berge
seien fröhlich.» Dieser Psalm reisst auch mich mit: Singt dem
Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder! Schon klingen
Lieder in mir und ich möchte einstimmen. Einstimmen in
den Jubel, in das Klatschen, in die Freude.
Und ganz tief in mir drin spüre ich, dass es genau das ist,
was wir brauchen: Gottes Gerechtigkeit.
Und dass es auch das Einzige ist, worauf wir uns wirklich
verlassen können. Er kommt.

Von: Sigrun Welke-Holtmann

28. Januar

Passt euch nicht den Massstäben dieser Welt an.
Römer 12,2

Manchmal sagt Paulus es so deutlich und präzise, besser
kann man es gar nicht ausdrücken. Und manchmal sind diese
Sätze heute noch genauso aktuell wie damals. «Schwimmt
nicht mit dem Strom.» (BigS)
Einfach aussteigen aus dem Irrglauben, dass alles immer
noch wachsen muss und auch wird. Höher, grösser, mehr.
Immer alles noch singulärer und einzigartiger. Dass jede/r
ein Anrecht auf alles hat und dieses Recht auch gnadenlos
durchsetzt. Rücksichtslos auf Kosten von anderen Menschen,
von Tieren und der Natur sowieso.
Oder wenn man sich einsetzt, dann soll es auf jeden Fall
medial gross herauskommen – dann soll es auch jede/r wissen,
dann wird der Kopf an einen alten Meister geklebt, ohne
Rücksicht auf Verluste. Auch die Aktionen dagegen folgen
dem altbekannten Schema: höher, grösser, mehr.
Die Massstäbe der Welt mit den Massstäben der Welt
bekämpfen? Gewalt mit Gewalt? Vermessenheit mit Vermessenheit?
Dummheit mit Dummheit?
Ich glaube, das hat noch nie funktioniert.
Doch wie kann es dann gehen?
«Schwimmt nicht mit dem Strom, sondern macht euch
von den Strukturen dieser Zeit frei, indem ihr euer Denken
erneuert. Dann wird euch deutlich, was Gott will: das Gute,
das, was Gott Freude macht, das Vollkommene.»

Von: Sigrun Welke-Holtmann

27. Januar

Der Gerechte ist wie ein Baum, gepflanzt an den
Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit,
und seine Blätter verwelken nicht.
Psalm 1,3

Welch ein Auftakt, der erste Psalm, Eröffnung im wahren
Sinne des Wortes. Er eröffnet eine anthropologische Weite:
«Glücklich sind die Frau, der Mann, die nicht nach den
Machenschaften der Mächtigen gehen, nicht auf dem Weg
der Gottlosen stehen.» (Psalm 1,1 nach BigS)
Aber nicht nur, was der Glückliche nicht macht, wird
beschrieben, sondern auch ganz positiv, wo ihre Lust Erfüllung
findet: an der Weisung Gottes. Und der Beter /die Beterin
hat auch ein Bild für diese Menschen vor Augen. Das Bild
eines Baums, kräftig und grün, im Saft stehend und Frucht
bringend zu seiner Zeit.
Ein starkes Bild: der mit dem Wasserbach verbundene
Baum, der seine Wurzeln alle Zeit an der Quelle hat. Und
wenn man genau hinhört, hört man vielleicht auch das Murmeln
der Weisung Tag und Nacht.
Welch ein Auftakt, und das Lied, das erklingt, ruft Resonanz
in mir hervor und Fragen beginnen zu klingen:
Wo stehe ich?
Was nährt meine Wurzeln?
Was erfüllt mich?
Welche Früchte füllen sich durch mich?
Und –
bin ich glücklich?

Von: Sigrun Welke-Holtmann

28. Dezember

Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe  und mein Gott ist.     Psalm 42,12

Wer im mittleren Alter keine zehn Sekunden auf einem Bein stehen kann, der hat im späteren Leben ein beinahe doppelt so hohes Todesrisiko. Dieses erschreckende Ergebnis einer Studie lese ich in der Zeitung, ich springe sofort auf und stelle mich auf ein Bein. Eins, zwei, drei … ich komme bis sieben und bin höchst alarmiert. Was soll ich tun? Was kann ich ändern an meinem Leben, damit ich nicht ein doppelt so hohes Todesrisiko habe?

Unruhig, so nehme ich im Moment viele Menschen wahr. Unruhig wegen der politischen Situation, die so unübersichtlich ist. Unruhig wegen der Auswirkungen der Pandemie, mit denen wir uns immer noch nicht arrangiert haben. Unruhig, weil viele ständig versuchen, sich vom Tod loszukaufen durch gesunde Ernährung, Sport und Verzicht. Wer will schon ein doppelt so hohes Todesrisiko – gerade am Ende des Jahres?

Wir haben alle ein hundertprozentiges Todesrisiko! Da lässt sich nichts dran ändern, auch nicht mit Unruhe. Doch gerade in dieser Unruhe helfen mir die Worte des 42. Psalms oder die von Johann Friedrich Räder:

Harre, meine Seele, harre des Herrn; alles ihm befehle, hilft er doch so gern. Wenn alles bricht, Gott verlässt uns nicht. Grösser als der Helfer ist die Not ja nicht. Ewige Treue, Retter in Not, rett auch unsre Seele, du treuer  Gott.

Von Sigrun Welke-Holtmann

27. Dezember

So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen den Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen.       Jakobus 5,7

Der Herr war längst da! Auch in meinem Wohnzimmer habe ich es gefeiert. Geduldig habe ich in der Adventszeit gewartet. Dann drei Tage aus dem Alltag herausgerissen. Und nun? Nun sind die Feiertage vorbei. Die Geschenke sind ausgepackt. Die Familie ist wieder abgereist. Und ich schaue schon in die Zeitung, wann die Bäume vom Sammelplatz abgeholt werden. Jedes Jahr früher, so kommt es mir vor. Und die Unruhe des Alltags erobert mich schon wieder. Weihnachten scheint längst abgehakt.

Der Aufruf der Losung trifft mich heute unzeitig. «Etwas zu spät!», möchte ich Jakobus zurufen, «da hättest du früher kommen müssen.»

Geduldig auf das Kommen des Herrn warten hat seinen Platz im Kirchenjahr. Na klar, man könnte auch sagen: Nach Weihnachten ist vor Weihnachten. Aber ich brauche auch eine Zwischenzeit, sonst hetzt man ja von einem zum anderen. Ich finde, dass die Zeit sowieso immer schneller vergeht, je älter ich werde.

«So seid nun geduldig bis zum Kommen des Herrn.» Je länger ich über den Satz nachdenke, desto mehr entfaltet er den Geschmack einer Grundhaltung, die mir abhandengekommen scheint. Es wird schwer, sie wieder einzuüben. Danke, Jakobus, ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.

Von Sigrun Weltke-Holtmann

28. November

O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen.          Jesaja 62,6

Manchmal nutze ich ein Post-it, wenn es nur eine Kleinigkeit ist, viel häufiger aber grosse To-do-Listen. Gerne in DIN-A4- Format. Ich schreibe diese Listen mit viel Liebe und noch mit viel grösserer Liebe markiere ich die Dinge, die ich erledigt habe. Manchmal mit einem grünen Haken, manchmal streiche ich sie aber auch mit einem dicken Rot durch.

Ich muss schmunzeln bei der Vorstellung, die Jesaja  heute bei mir weckt. Dass Gott nämlich auch Erinnerungen braucht und sich sogar einen Erinnerungsservice aufstellt. Die Wächter auf den Mauern Jerusalems sollen nicht schweigen, sondern beständig Gott daran erinnern, dass er Jerusalem wieder zu Blüte bringen soll.

Eine Erinnerungshilfe für Gott, die gleichsam alle anderen auch erinnert. Erinnert an eine Liebe, an eine Beziehung und Verbindung, die von Gott nicht vergessen wurde. Eine Erinnerungshilfe, die die Sehnsucht nach dieser Zeit und Zweisamkeit wecken kann.

Gedenken ist weit mehr als nur ein flüchtiger Gedanke. Die Vorstellung der Szene berauscht mich und füllt meine Ohren, weckt auch Sehnsucht in mir.

Und doch bin ich auch wiederum froh, dass meine Post-its still sind.

Von Sigrun Welke-Holtmann

27. November

Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung.   Kolosser 1,15

Dem Unsichtbaren Gesicht schenken

Ein Kind in der Krippe, in einem zugigen Stall. Kein Palast, kein grosses Fest. Zwei Augen, noch blau wie am äussersten Anfang, eine kleine glänzende Nase und ein Mund, der mit dem ersten Schrei die Welt begrüsst.

Aber noch ist es nicht so weit. Erst heisst es, sich auf den Weg zu machen.

Dem Unsagbaren Worte leihen

Hosianna in der Höhe, Halleluja auf Erden.

Aber noch jubeln wir nicht. Noch suchen wir nach den Tönen.

Dem Unhörbaren Stimme zudichten

Die Aufgabe des Advents ist nicht einfach. Nicht einfach nur Kerzen und Spekulatius, sondern die Untiefen der menschlichen Sehnsucht zu ergründen und das zu heben, was trägt. Schon jetzt.

Von Sigrun Welke-Holtmann

28. Oktober

Herrlichkeit und Ehre und Frieden allen denen, die das Gute tun, zuerst den Juden und ebenso den Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.
Römer 2,10–11

Beruhigt mich das, oder eher nicht? Dieser Satz, dass es vor Gott kein Ansehen der Person gibt. Paulus ist sich sicher, dass nicht deine Person, sondern deine Taten, dein Handeln dein Durchkommen im Gericht Gottes bestimmen. Paulus ist sich des gerechten Gerichts Gottes sicher, der einem jeden geben wird nach seinen Werken und eben nicht nach Ansehen der Person.
Und ich sehe Gott – ähnlich der Darstellung der Justitia – mit Augenbinde und Waage vor meinem inneren Auge. Und ja, es beruhigt mich, dass vor Gott nicht das Ansehen einer Person gilt, sondern dass wir vor Gott alle gleich sind, egal, was wir geleistet haben und aus welchem guten Hause wir kommen, egal welchen Titel du hast und welches Auto du fährst.
Und doch merke ich auch einen Stich in meinem Herzen, denn die Binde vor Gottes Augen schmerzt mich, je länger ich sie mir vorstelle. Will ich doch angesehen werden von Gott, sollte ich dereinst vor seinem gerechten Gericht stehen. Denn bin ich nicht mehr als die Summe meiner guten und schlechten Taten? Ist da nicht mehr zwischen uns als eine Waage – geölt und geeicht?
Ich bin mir nicht sicher. Aber ich hoffe auf dich.

Von Sigrun Welke-Holtmann

27. Oktober

So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen,
die ihn lieben und seine Gebote halten.
5. Mose 7,9

Die Liebe steht an erster Stelle. Nicht nur bei uns modernen Menschen und zwischen uns Menschen, sondern schon im Alten Testament, im 5. Buch Mose. Neben allem «Du sollst» und «Du sollst nicht» ist es die Liebe, die die Schrift erfüllt.
«Höre Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.» (5. Mose 6,4) Doch was heisst es, Gott zu lieben? Im Hebräischen wird hier das dasselbe Wort verwendet, wie wenn von der Liebe zwischen Menschen die Rede ist. Doch kann ich Gott wie einen Menschen lieben? Oder liebten sich Menschen im Alten Testament etwa anders als heute? Sicherlich haben sich die Bedeutung und die Vorstellung, die hinter der Liebe stehen, verändert, so, wie sich auch die Menschen verändert haben, zumal die Texte einen völlig anderen kulturellen und zeitlichen Hintergrund haben und man sie nicht einfach so auf sich beziehen kann. Und doch möchte ich dieses Bild nicht einfach abtun als etwas, das nicht mehr in unsere Zeit der romantischen Liebe passt.
Was heisst es, Gott zu lieben? Wie liebe ich heute Gott und wie spüre ich Gottes Treue und Barmherzigkeit? Vielleicht nehmen Sie diese Frage wie ich heute mit in diesen Tag und finden eine eigene Antwort.

Von Sigrun Welke-Holtmann