Autor: Ruth Näf Bernhard

1. Oktober

Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten. Jesaja 53,5

Und so geht es weiter: «Durch seine Wunden haben wir Heilung erfahren.» Strafe und Wunden auf der einen Seite. Frieden und Heilung auf der anderen. Gott und wir. Gott mit den Menschen. Gott für uns. Weil er uns liebt. Aber dass es so arg kommen musste. Musste das denn wirklich sein? Ich beginne, meine Hände in Unschuld zu waschen. Doch nicht etwa wegen mir. Wegen mir hätte keiner sterben müssen. Warum denn auch? So dachte ich, als ich ein Kind war.

Nun bin ich erwachsen. Um ein paar Erfahrungen reicher. Auch reicher an Glauben. An Fragen und Zweifeln. Ich hätte nicht gewollt, dass jemand leidet wegen mir. Ich hätte nicht gewollt, dass jemand an meiner Seite fast zugrunde geht wegen mir. Ich hätte nicht gewollt, dass ich genau jene Menschen am meisten verletze, die mir am nächsten sind und die ich am meisten liebe. Das alles hätte ich nicht gewollt. Und dennoch ist es passiert. Wo ich wie ein Schaf umhergeirrt bin, da haben andere gelitten wegen mir. Haben Wunden davongetragen. Sich von mir gestraft gefühlt. Und mich dennoch weiterhin geliebt. Auf dass ich wieder Frieden fände. Auf dass ich durch Liebe Heilung erfahre.

Ob Gott wirklich für mich sterben musste? Ich weiss es nicht. Immer noch nicht. Doch ich glaube an seine Liebe. Und wasche meine Hände nicht länger in Unschuld.

Von Ruth Näf Bernhard

2. August

In Demut achte einer den andern höher als sich  selbst. Philipper 2,3

Demut. Was für ein Wort. Im Alltag nehmen wir es kaum in den Mund. Es wirkt so verstaubt. Irgendwie ältlich. In  die Jahre gekommen. Jedenfalls nicht zeitgemäss. Obwohl es wohl zurzeit nichts anderes gibt, das unserer Zeit besser bekäme als ein bisschen mehr Demut von unserer Seite. Was bedeuten würde, dass die Gesinnung des Dienens wieder wichtiger wird. Unsere innere Bereitschaft zu dienen. Und zwar deshalb, weil wir das grosse Ganze im Blick haben und uns selber als Teil dieser Ganzheit verstehen. Und weil wir genau aus diesem Grund «eines Sinnes» mit den andern sein möchten.

Demütig sein. Damit wir uns richtig verstehen, wollen wir es «dienmütig» nennen. Darauf bedacht, zu erkennen, womit ich dem andern dienen könnte. Nicht unterwürfig. Sondern aus Überzeugung. Denn soll unsere Liebe dem Leben dienen, so geht es um das Leben von uns allen. Und nicht nur um das eigene Wohl. Um den Nächsten zu lieben wie sich selbst, muss man ihn zuweilen höher achten. Ein gutes Stück höher als sich selbst. Damit wieder alles im Gleichgewicht ist.

Manchmal braucht es andere Wörter als jene, die wir im Alltag brauchen. Heute ist mir so eines zugefallen. Direkt vom Himmel ins Herz. Ich werde versuchen, mich in Demut zu üben. Nicht unterwürfig. Sondern aus Überzeugung.

Von Ruth Näf Bernhard

1. August

Friede, Friede denen in der Ferne und denen in der Nähe, spricht der HERR; ich will sie heilen.       Jesaja 57,19

Friede in der Ferne. Und Friede in der Nähe. Wer sehnt sich nicht danach. Je weiter weg der Friede ist, desto mehr rückt er ins Zentrum. Und um jenen Frieden, der am allerweitesten weg ist, können wir nur noch bitten. Wir bitten um Frieden, der Leben verheisst. Wo mit Frieden kaum mehr zu rechnen ist, wollen wir wenigstens hoffen dürfen. Wir hoffen auf Frieden, der Wunden heilt.

In Meister Eckharts Reden der Unterweisung lese ich: «So viel bist du in Gott, so viel du in Frieden bist, und so viel ausser Gott, wie du ausser Frieden bist. So viel in Gott, so viel in Frieden. Wie viel du in Gott bist, wie auch, ob dem nicht so sei, das erkenne daran, ob du Frieden oder Unfrieden hast.»

Unfrieden ist nicht nur in der Ferne. Er findet ganz in der Nähe statt. Je näher er ist, desto weiter weg würden wir ihn schicken wollen. Doch Unfriede lässt sich nicht auslagern. Wie viel ich in Gott bin und wie viel eben nicht, das ist die Frage, die sich mir stellt. Mir ganz persönlich. Und auch da weiss ich mir oft nicht anders zu helfen als mit Beten und Hoffen. Ich bitte um Frieden, der Leben verheisst. Und hoffe auf Frieden, der Wunden heilt.

Von Ruth Näf Bernhard

2. Juni

Was hast du, das du nicht empfangen hast? 1. Korinther 4,7

Nichts. Es gibt nichts, was ich nicht empfangen hätte. Was ich bin und habe, habe ich empfangen. Einfach so. Ohne eigenes Verdienst. Auch wenn wir am Tun und Machen sind, empfangen wir immer mehr, als wir tun. Um so vieles mehr.

Machen wir uns nichts vor. Unser Machen allein ist es nicht. So vieles wurde mir gegeben. Auch ich mir selber. Ich bin nicht aus mir selber gemacht. Ich bin mir gegeben. Und empfange, was ich werde.

Die Antwort auf alles Empfangene heisst nicht: festhalten wollen und kontrollieren müssen. Nur an scheinbar selbst Gemachtem klammert man sich fest. Weil es einen eben ausmacht. Zu dem macht, was man ist. Und das gibt man nicht so leicht aus der Hand.

Wie so ganz anders, wenn das Bewusstsein dafür wächst, dass wir, was wir sind, empfangen haben. Vorübergehend empfangen. Und dass wir es daher auch wieder loslassen müssen. Dorthin zurück, woher es kam.

Die Antwort auf alles Empfangene heisst: loslassen dürfen und danken können. Es spüren, wie wir weicher werden. Es zulassen, dass wir weicher werden. Wenn uns das Danken zuvorderst ist.

Von Ruth Näf Bernhard

1. Juni

Der HERR wird richten die Völker.                  Psalm 7,9

Eine verstörende Aussage. Wie sollen wir denn am Morgen schon wissen, wie am Abend gerichtet werden wird? Wer gerichtet werden wird? Aus welchem Grund? Zu welchem Zweck? Ob Gott wohl davon weiss, dass er richten wird? Dass er richten soll. Ob er das überhaupt will? Oder sind wir es, die das wollen? Dass einer dann richtet. Dann. Irgendwann. Wenigstens dann. Wenn wir uns schon jetzt nicht zu helfen wissen.

Wie viele Kinder dieser Erde haben schon bis am Abend darauf warten müssen, bis sie von ihrem Vater jene Strafe erhalten haben, die ihnen im Laufe des Tages von ihrer Mutter angedroht wurde. Wie viele Menschenkinder konnte man sich gefügig machen, indem man ihnen im Laufe ihres Lebens mit Höllenqualen im Jenseits drohte. Wie viele Male scheuen wir uns – gerade in kirchlichen Kreisen –, Unrecht beim Namen zu nennen, und warten einfach einmal ab in der Hoffnung, dass Gott es schliesslich richten wird. Richten soll. Dann. Irgendwann. Wenn wir uns schon jetzt nicht zu helfen wissen.

Der HERR wird richten die Völker. Eine verstörende Aussage. Lassen wir uns stören in unserem Glauben. Warten wir damit nicht bis am Abend. Es wäre schade um den Tag.

Von Ruth Näf Bernhard

2. April

Gott liess das Volk einen Umweg machen,
den Weg durch die Wüste zum Schilfmeer.
2. Mose 13,18

Gott lässt uns manchmal einen Umweg machen. Durch eine Wüste. Damit es anders weitergeht.
Wenn mein Mann auf einer Wanderung sagt: «Wir könnten doch hier eine Abkürzung nehmen», sage ich: «Nur das bitte nicht!» Die Erfahrung hat uns nämlich gelehrt, dass wir mit sämtlichen Abkürzungen oft länger und gefährlicher unterwegs waren, als wir es ohne sie gewesen wären. Daher ist es für uns ein geflügeltes Wort: Abkürzung? Nein, bitte nicht!
Wege brauchen ihre Zeit. Manchmal länger, als uns lieb ist. Wo die Wege zu kurz sind für unser Leben, da lässt uns Gott einen Umweg machen. Wir haben nicht damit gerechnet. Das haben wir nicht eingeplant. Jedenfalls nicht in diesem Moment. Später vielleicht. Umwege liegen immer quer, uns steil im Weg. Niemand hat es sich gewünscht. Man weiss ja nicht, wie lange es dauert. Und trotzdem ist es ein Geschenk. Weil sonst die Zeit nicht reichen würde, zu lernen, was zu lernen ist. Umwege werden uns zugemutet. Und geschenkt. Doch das verstehen wir erst Jahre später. Manchmal. Viele, viele Jahre später. Wenn wir dann beim Schilfmeer sind.

Gott lässt uns manchmal einen Umweg machen. Einen Weg durch die Wüste. Damit es anders weitergeht. Damit es mit uns weitergeht.

Von Ruth Näf Bernhard

1. April

Herr, tue meine Lippen auf, dass mein Mund deinen Ruhm verkündige.
Psalm 51,17

Ein neuer Tag. Ein neuer Morgen. Neues darf werden. Hier und heute.
Mit Gottes Hilfe.

Du. Tue meine Lippen auf, dass mein Mund deinen Ruhm verkündige.

Du. Tue meine Ohren auf, dass ich die Nöte und Schreie vernehme. Und auch das Lachen und Jauchzen höre.

Du. Tue meine Augen auf, dass ich das Elend und Unheil erkenne. Und auch das Schöne und Gute sehe.

Du. Tue meine Nase auf, dass ich rechtzeitig Unrecht wittere. Und auch den Duft der Versöhnung rieche.

Du. Tue meine Hände auf, dass ich zupacken kann am richtigen Ort. Und auch das empfangen, was mir zufällt.

Du. Tue mein Herz auf, ich bitte dich, dass genug Platz ist für die Freude. Für alles Helle. Hier und heute.

Du. Lass es mich lassen. Dass du es tust. Dass du mich auftust. Wenn ich es nicht kann. Wo ich es nicht kann.

Gott, lass mich dich tun. Amen.

Von Ruth Näf Bernhard

2. Februar

Ich will den HERRN loben allezeit; sein  Lob soll immerdar in meinem Munde sein.      Psalm 34,2

Gott loben. Wer möchte das nicht. Doch «allezeit» ist viel. Und «immerdar» ist lang. Gott loben. Wer möchte das nicht können. Es wenigstens vermehrt versuchen. Dieses Loben–Können lernen. Üben. Damit es auf der Zunge liegt. Vielleicht nicht gerade immerdar. Aber immer öfter.

Was braucht es, damit Sie Gott loben können?

Was müsste sich alles ändern, damit Sie ihn wieder loben könnten?

Muss bei Ihnen das Wetter stimmen, das Essen schmecken, müssen die Blumen blühen und alle Vögel des Himmels gleichzeitig singen, damit Ihr Herz von Lob erfüllt ist – oder darf es ein bisschen weniger sein?

In Psalm 34 wird aus dem Leben erzählt. Mit allen seinen Höhen und Tiefen. Da wird gebetet. Und erhört. Es ist von zerbrochenen Herzen die Rede. Und wie die Nähe Gottes heilt. Die Leiden sind zahlreich. Doch Gott befreit. Aus Not und Ängsten. Wohl dem, der bei ihm Zuflucht sucht.

Ich will! Das ist eine Absichtserklärung. Ganz am Anfang. Ich will Gott loben. So gut es geht. Ich will Gott auch dann vom Ende her loben, wenn es mir gegenwärtig nicht nur gut geht.

Von Ruth Näf Bernhard

1. Februar

Ist die Wurzel heilig, so sind auch die Zweige  heilig. Römer 11,16

Ich kann die Zweige nicht ohne die Wurzel denken. Nicht ohne das, was schon immer ist. Nicht ohne das, was bleiben wird. Was vor uns und nach uns dauert, länger als wir. «Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!» – so steht es geschrieben, einen Atemzug später.

Ich kann die Wurzel nicht ohne den Himmel denken. Die Zweige nicht ohne Luft und Licht. Wohin wir aus dem Dunkel wachsen. Welche Früchte sichtbar werden.

Ich kann die Zweige nicht ohne die Vögel denken. Und die Vögel nicht ohne Gesang. Wie sie auch im Winter singen:
«Alles Leben strömt aus dir! Deiner Hände Werk sind wir.»

Ich kann das Leben nicht ohne das Sterben denken. Dieses Lied nicht ohne die letzte Strophe. Drum singe ich voll Inbrunst mit. Von der Wurzel, die mich trägt. Selbst wenn das Lied zu Ende ist.
«Deiner Gegenwart Gefühl sei mein Engel, der mich leite,
dass mein schwacher Fuss nicht gleite, nicht sich irre von dem Ziel.»
(RG 520,4)

Von Ruth Näf Bernhard