Autor: Andreas Fischer

9. Mai

Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist   in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Epheser 4,23–34

Die Übersetzung ist, zumindest in der ersten Zeile, nicht im Sinn und Geist des Urtextes. Dort geht es nicht um aktive Selbsterneuerung, sondern darum, das eigene Denken durch die göttliche Geistkraft, die Ruach, neu werden zu lassen. Es geht um einen «Schöpfungsakt, bei dem der Atem Gottes eine verursachende Rolle spielt» (Gerhard Sellin). Also: «Lasst euer Denken durch die Ruach neu werden!»– Daran schliesst sich die Vorstellung vom neuen Kleid nahtlos an. Es mag in Zeiten von Zara schwer vorstellbar sein, doch in der Antike waren Kleider «individuell zugeschnittene Einzelstücke, mühsam von Hand gefertigt, mit dem eigenen Leben aufs engste verbunden» (M. Gese). Der «neue Mensch», den es anzuziehen gilt, trägt das ursprüngliche Lichtkleid, das uns alle umhüllt hatte, bevor wir aus dem Garten Eden vertrieben wurden. Der «neue Mensch» ist «die Neu-Realisierung des paradiesischen Menschen» (J. Gnilka). – Seine Wesenszüge sind «Gerechtigkeit und Heiligkeit»: Gerechtigkeit ist die Tugend in Bezug auf die Mitmenschen, Heiligkeit die Tugend in Bezug auf Gott. Entscheidend aber ist die Wahrheit: Sie verweist, im Gegensatz zu allem Schein, in ein «Leben im Bereich des Seienden, des ‹Bleibenden›» (G. Sellin). – In Zeiten von Zara gilt es, sich an diesen ursprünglichen Lebensbereich zu erinnern.

Von Andreas Fischer

8. Mai

Die Blinden will ich auf dem Wege leiten,den sie nicht wissen; ich will sie führen auf den Steigen, die sie nicht kennen.                 Jesaja 42,16

Gott führt die Exilierten durch die Wüste nach Hause. Doch weshalb bezeichnet er sie als Blinde? Ist es wirklich – wie manche Kommentare meinen –, weil ihnen der Glaube an die Zukunft, die Hoffnung auf Befreiung fehlt? Ist es nicht vielmehr deshalb, weil sie im babylonischen Exil tatsächlich erblindet sind? So sieht es der Alttestamentler Karl Ellinger: Die Augen der Gefangenen haben sich im Kerker «des Lichtes entwöhnt». Sie sind blind «im objektiven Sinn der äusseren finsteren Lage». Sie können den Weg nicht wissen.

Wenn dies, im übertragenen Sinn, die conditio humana ist, dann gilt es, all das loszulassen, was man zu wissen glaubt, Nichtwissen zuzulassen, sich führen zu lassen von jenem Ich, das in der heutigen Losung spricht. Jenem Ich, das weiss. Im Granum Sinapis, dem «Senfkorn», einem berühmten mystischen Text des Mittelalters heisst es:

Werd’ wie ein Kind, / werd’ taub und blind! / Dein Eigengut / Nichts werden muss; / senk in den Grund, / was ist und alles Nichts zumal! // Lass Ort, lass Zeit, / auch Bild lass weit! / Geh ohne Weg / den schmalen Steg! / So stösst du auf der Wüste Spur.

Von Andreas Fischer

9. März

Wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken.
Epheser 2,10

«Sein Gebilde sind wir» lautet die präzise Übersetzung des ersten Versteils: Gott steht betont am Anfang, und der Ausdruck «Gebilde» spielt die Metaphorik der Schöpfung ein, um die es hier geht. Der Autor des Epheserbriefs ist inspiriert von der Vorstellung, dass Gott im Ursprung, ehe er Adam und Eva schuf, einen Urmenschen bildete. Er war vollkommen, von «unversehrter Heiligkeit» (H. Schlier).In diesen Ursprung kehren wir «in Christus» zurück.

In diesem Ursprung – in der «Vor-Zeitlichkeit» (G. Sellin) – sind auch die «guten Werke» schon vobereitet. So lautet die Fortsetzung des Verses, die einen originalen Gedanken des Autors zur Sprache bringt: Die guten Werke hat Gott «zuvor bereitet, dass wir in ihnen wandeln». Es gibt also nichts zu leisten, nichts zu erreichen. Es gilt zurückzukehren in jenes ursprüngliche Gutsein, wo die «guten Werke» Teil meiner Natur, meines Wesens sind, gleich meinem Atem, meinen Augen, meinen Händen und Füssen. (E. F. Scott)

Meister Eckehart sagt: Nicht durch Zufügen, sondern durch Abtun wird Gott in der Seele gefunden. Deshalb heisst es: Die Herrlichkeit wird enthüllt werden. Gott ist nämlich zuinnerst in der Seele, und das Wirken des Geschöpfes kann hierzu nur beitragen durch Reinigung und Bereitung.
Von Andreas Fischer

8. März

Einen andern Grund kann niemand legen ausser dem,
der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.

1. Korinther 3,11

Der frühere St. Galler Kirchenratspräsident Dölf Weder beginnt eine Predigt über den heutigen Lehrtext – die Präambel der St. Galler Kantonalkirche – mit der Frage: «Welches ist das wirkliche Fundament Ihres Lebens?» Als mögliche Antworten vermutet er: Familie, finanzielle Absicherung, Sich-auf-sich-selber-Verlassen.

Die Antwort, die Paulus gibt, lautet: Jesus Christus. Die Antwort ist nur scheinbar «fundamentalistisch». Denn das Fundament trägt nicht. Der Christus, der das Fundament bilden soll, ist der gekreuzigte. Und dies, sagt Paulus, ist ein «Skandal» (1. Korinther 1,23). Das griechische Wort skandalon  bedeutet: «Falle». Wer in die Falle tappt, stürzt ab, seine Seele befindet sich im freien Fall. Ebendiese Fallenden, schreibt der zeitgenössische deutsche Schriftsteller und Theologe Christian Lehnert in seinen «Korinthischen Brocken», sind gemäss Paulus die «Berufenen» (vgl. 1,24).


Walk your talk ermutigt Dölf Weder uns Christenmenschen gegen Ende seiner Predigt mit einem amerikanischen Slogan: Lebe, was du vertrittst!  Ich schreibe diesen Text unterwegs nach St. Gallen, wo ich Dölf treffe. Ich werde ihn fragen, was Walk your talk unter den genannten «skandalösen» Bedingungen zu bedeuten hat.

Von Andreas Fischer

9. Januar 2022

Darum sollen wir desto mehr achten auf das Wort,
das wir hören, damit wir nicht am Ziel  vorbeitreiben.

Hebräer 2,1

Der Hebräerbrief verwendet mancherorts nautische Metaphorik. Im heutigen Lehrtext etwa bezieht sich «am Ziel vorbeitreiben» auf das Bild des vom Kurs abdriftenden Schiffs, und das griechische Wort, das hier mit «achten auf» übersetzt ist, kann den Sinn haben «ein Schiff in den Hafen bringen».

Es geht, könnte man meinen, um Sicherheit. Doch der Neutestamentler Herbert Braun (1903–1991) sieht das anders. Es gehe, sagt er, um Unruhe. Wer «auf das Wort achtet», dem kommen Gewohnheiten, Gewissheiten abhanden.

Um diese «Entsicherung» bittet eine philippinische Basisgruppe mit den folgenden Worten: «Mache  uns unruhig
… wenn wir uns im sicheren Hafen bereits am Ziel wähnen, weil wir allzu dicht am Ufer entlang  segelten.»

Die Gefahr, das Ziel zu verfehlen, geht nicht vom stürmischen Meer, sondern vom sicheren Hafen aus. Es entspricht der Kernbotschaft des Hebräerbriefs («Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.» 13,14), wenn es im Gebet weiter heisst: «Mache uns unruhig, wenn wir, verliebt in diese Erdenzeit, aufgehört haben, von der Ewigkeit zu träumen.»

Von Andreas Fischer

8. Januar 2022

Es ist der Glaube eine feste Zuversicht dessen,
was man hofft, und ein Nichtzweifeln
an dem,  was man nicht sieht.          
Hebräer 11,1

Dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht der Gott der Philosophen und Gelehrten sei, wie der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) einst in seinem Mémorial schrieb, das gilt nicht für den heutigen Lehrtext. Es gilt umso weniger, wenn man diesen sachlicher, weniger subjektiv und näher am griechischen Original übersetzt:

«Glaube ist Verwirklichung von Erhofftem, Beweis für Dinge, die man nicht sieht.»

Das klingt tatsächlich «philosophisch und gelehrt». Da tauchen – mancherorts als bibelfremd bezeichnete – platonische Denkformen auf: Diese Welt sei nur Abschattung jener anderen, göttlichen.

Ebendiese Denkformen halte ich für hochaktuell. Nur ein Glaube, der das Unverfügbare, Transzendente, «das, was man nicht sieht», als etwas Gewisses realisiert – einem mathematischen «Beweis» gleich, wird endlich bereit und befähigt sein, die weltlichen Sicherheiten und Abhängigkeiten, die Kontrollmechanismen, Besitztümer und Süchte loszulassen und gelassen zu werden.

Von Andreas Fischer