Die Blinden will ich auf dem Wege leiten,den sie nicht wissen; ich will sie führen auf den Steigen, die sie nicht kennen. Jesaja 42,16
Gott führt die Exilierten durch die Wüste nach Hause. Doch weshalb bezeichnet er sie als Blinde? Ist es wirklich – wie manche Kommentare meinen –, weil ihnen der Glaube an die Zukunft, die Hoffnung auf Befreiung fehlt? Ist es nicht vielmehr deshalb, weil sie im babylonischen Exil tatsächlich erblindet sind? So sieht es der Alttestamentler Karl Ellinger: Die Augen der Gefangenen haben sich im Kerker «des Lichtes entwöhnt». Sie sind blind «im objektiven Sinn der äusseren finsteren Lage». Sie können den Weg nicht wissen.
Wenn dies, im übertragenen Sinn, die conditio humana ist, dann gilt es, all das loszulassen, was man zu wissen glaubt, Nichtwissen zuzulassen, sich führen zu lassen von jenem Ich, das in der heutigen Losung spricht. Jenem Ich, das weiss. Im Granum Sinapis, dem «Senfkorn», einem berühmten mystischen Text des Mittelalters heisst es:
Werd’ wie ein Kind, / werd’ taub und blind! / Dein Eigengut / Nichts werden muss; / senk in den Grund, / was ist und alles Nichts zumal! // Lass Ort, lass Zeit, / auch Bild lass weit! / Geh ohne Weg / den schmalen Steg! / So stösst du auf der Wüste Spur.
Von Andreas Fischer