Autor: Andreas Fischer

9. März

Jesus fragte seine Jünger: Als ich euch ausgesandt
habe ohne Geldbeutel, ohne Tasche und ohne Schuhe,
habt ihr je Mangel gehabt? Sie sprachen: Nein, keinen.
Lukas 22,35

«Kein Geld, keine Tasche, keine Schuhe»: Über die Aussendungsrede
(Lukas 10,1–12) hat der Berner Dichter-Pfarrer
Kurt Marti geschrieben, sie stelle uns «heftig in Frage: uns,
die wir zentnerschwer behangen sind mit den Gewichten
unserer Bindungen und Besitztümer». Es gelte also, in der
Nachfolge Jesu, «alles zu verlassen».
Doch nun folgt die Überraschung: In den Abschiedsworten
Jesu im Lukasevangelium, denen der heutige Lehrtext
entnommen ist, sagt Jesus genau das Gegenteil: Es gilt, Geldbeutel
und Reisetasche an sich zu nehmen! Und auch ein
Messer! (Vers 36) Die paradiesischen Zeiten, in denen die
ersten Christen vogelfrei durch die Welt zogen, sind vorbei.
Fortan gilt es, sich selbst zu versorgen und zu verteidigen.
Die Worte stimmen nachdenklich in Zeiten, in denen
ehemalige Pazifisten zu Panzerexperten mutieren. Ich habe
weder zu den – nur im Lukasevangelium überlieferten! –
Worten noch zur bei Redaktionsschluss aktuellen politischen
Situation eine ausgereifte Meinung. Indessen bin ich
dankbar, dass Christus mit den Worten «Er wurde zu den
Gesetzlosen gerechnet» (Vers 37) andeutet, dass er in uns
und unter uns sein wird, immer, auch in den Abgründen.
Und dass er eines Tages sagen wird: «Es ist genug!» (Vers 38)

Von: Andreas Fischer

8. März

Was euch gesagt wird in das Ohr,
das verkündigt auf den Dächern. Matthäus 10,27

In den antiken Häusern gab es fensterlose Kammern. Was
man sich dort drin im Dunkeln ins Ohr geflüstert hat, soll
nun auf den Dächern ausgerufen werden. Die Hausdächer
waren Teil des Lebensraums. Dazu gehörte auch die Konversation
unter Nachbarn. Was dort oben geplaudert wurde,
das war nachher im ganzen Dorf bekannt. Die Worte, die
Jesus hier spricht, sind ursprünglich wohl eine Sentenz über
den Dorfklatsch. – Der Evangelist Lukas (12,1–3) bezieht
die Worte auf die Pharisäer, welche Jesus als «getünchte Gräber
» bezeichnet: Die Fassade ist blitzsauber, innen
verbirgt sich Moder und Müll. Die Worte Jesu, in diesem
Sinn verstanden, ermutigen dazu, sich dem «Schatten»
(C. G. Jung) zu öffnen, den dunklen Zonen der Seele. Sie
werden einst sowieso ans Tageslicht kommen. – Der Evangelist
Matthäus, in unserem heutigen Lehrtext, gibt der
Sentenz nochmals einen anderen Sinn: Aus der Begegnung
mit dem «Schatten» entsteht eine neue Ganzheit, eine Persönlichkeit,
die um das eigene Dunkel weiss, es integriert hat
und entsprechend integer ist. Sie ist im Kontakt mit dem
Wesenszentrum, dem «Christus in mir». Diesen gilt es zu
«verkündigen». – Als einer, der dies Sonntag für Sonntag zu
tun hat, würde ich sagen: Wichtiger als das Predigen in der
Öffentlichkeit ist das Ohr-Sein, das Lauschen im Dunkeln.
Daraus werden die wesentlichen Worte entstehen.

Von: Andreas Fischer

9. Januar

Brüder und Schwestern: Was wahrhaftig ist, was
ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert,
was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es
ein Lob – darauf seid bedacht!
Philipper 4,8

Es sind unerwartete Worte, die in diesem Lehrtext auftauchen.
Viele von ihnen kommen sonst im Neuen Testament
nirgends vor, dafür umso häufiger in allgemein-antiken
Tugendkatalogen. Es handelt sich um Begriffe des bürgerlichen
Lebens. Worauf wir gemäss diesen Begriffen bedacht
sein sollen, sind gesellschaftliche Normen: Man achte auf
seinen «guten Ruf»! – Die These, die z. B. die Marburger
Neutestamentlerin Angela Standhartinger vertritt, leuchtet
ein: Das hier ist nicht Paulus. Das ist eine spätere, spiessige
Glosse, die in den Text reingerutscht ist. Da ist vergessen
gegangen, dass christliche Ethik sich gerade nicht am
in der Antike geltenden Ethos von Ehre und Ruhm orientiert,
sondern am Gekreuzigten, der in die tiefsten Tiefen der
menschlichen Seele hinabgestiegen ist. Dort unten, in den
Abgründen, abseits des «guten Rufs», beginnt die Erlösung,
ausgelöst durch die göttliche Gnade ohne Bedingung. – In
eine ganz andere Richtung geht ein englischsprachiger Kommentar:
Er sagt, der Fokus auf Tugenden helfe, sich aus der
Negativspirale der Angst («negative sentiment override»,
NSO) zu befreien. Es tue den Christenmenschen wie allen
Menschen gut, sich auf positive Gedanken auszurichten.

Von: Andreas Fischer

8. Januar

Gebt, so wird euch gegeben. Lukas 6,38

In der jüdischen Tradition ist es üblich, von Gott verhüllt zu
sprechen. Eine Form solch verhüllender Rede ist das «Passivum
divinum», das «göttliche Passiv»: «Euch wird gegeben.» Es ist also Gott, der mir gibt, wenn ich gebe.
Nun könnte man kritisch einwenden, dies sei einfach eine ins
Metaphysische gehobene Handelsbeziehung: «Do ut des»,
«ich gebe, damit du gibst.» Der gebenden Geste läge egoistisch-
berechnendes Denken zugrunde. Der Zürcher Neutestamentler
Hans Weder sieht diese Art von Kalkulation aber
im Angesicht Gottes aufgehoben: «Im Angesicht Gottes ist
weder weltliche noch metaphysische Berechnung möglich.
Im Angesicht Gottes löst sich die Berechnung selbst auf, und
damit wird der Mitleidserweis zu dem zurückgeführt, was
er in Wahrheit ist: die jede Berechnung hinter sich lassende,
elementare Zuwendung zum Bedürftigen.»
Der paradoxe Profit des Gebens liegt möglicherweise darin,
dass ich darin mein eigenes Ego – seine Ansprüche an Besitz,
Sicherheit, Komfort – transzendiere und im Urgrund meines
Seins in Kontakt komme mit Gott, dessen schöpferisches
Handeln am Ursprung allen Gebens liegt:
«Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, o Gott, von
dir; wir danken dir dafür.»

Von: Andreas Fischer

9. November

Wenn jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten.  Johannes 16,13

Im griechischen Urtext heisst es: «Wenn jener kommt, das Pneuma der Wahrheit.» «Jener» ist merkwürdigerweise maskulin, «Pneuma» ein Neutrum. «Jener» bezieht sich also noch auf etwas anderes als auf das Pneuma. Und tatsächlich gibt es im Johannesevangelium die geheimnisvolle Gestalt des Parakleten, des Beistands. Jesus, der Abschied nimmt von seinen Jüngern, verheisst ihnen, dass der Paraklet kommen wird. Im heutigen Lehrtext identifiziert er das Pneuma mit diesem Parakleten. Dadurch gewinnt das Pneuma, dieses Fluidum, das alles inspiriert und belebt, eine personale Seite: Es wird ansprechbar, kommt uns nahe als DU. – Gemäss einer alternativen Lesart führt der Geist nicht in «aller, sondern in «alle» Wahrheit. Die erste Version betont den Lebensraum, den die verlässlich anwesende göttliche Geistkraft (so kann «Geist der Wahrheit» paraphrasiert werden) eröffnet. Die zweite Version betont die Offenheit der Zukunft: Der Weg führt in noch unbekannte Dimensionen der Wahrheit hinein. Jesus sagt, er werde einen «anderen Parakleten» (14,16) senden. Die Andersheit ist unheimlich (das griechische Wort für «Wahrheit» bedeutet «Un-Verborgenheit») – und ebenso «verheissungsvoll». «Verheissungsvoll», schreibt der deutsche Theologe F. W. Marquardt (1928–2002), «ist nur das Andere des anderen Beistands: heraus aus dem Vertrauten ins Trauen.»

Von Andreas Fischer

8. November

Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! Denn ich bin mit dir, und niemand soll  sich unterstehen, dir zu schaden.       Apostelgeschichte 18,9–10

Die Worte dieses Lehrtextes spricht der Kyrios (Herr) Jesus Christus im Traum zu Paulus. Sie beziehen sich auf die heutige Losung, in welcher Gott zum Propheten Jeremia spricht:

«Sage nicht: ‹Ich bin zu jung›, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir, um dich zu retten.» (Jeremia 1,7 f.)

Losung und Lehrtext gleichen sich in vielem. Die Worte des «Herrn» (der hier Gott, dort Jesus Christus meint) stammen aus einer transzendenten Welt – hier aus einer überweltlichen Vision, dort aus einem Traum. Hier wie dort geben sie Durchhaltevermögen. Paulus wird nach der Zusage Christi lange Zeit in Korinth ausharren. Das ist nicht nur wegen der misslichen Umstände in dieser Stadt ohne Gott überraschend, sondern auch, weil er dort «in Schwachheit und Furcht und mit vielem Zittern» auftritt. Das Einzige, das er zu predigen weiss, ist «der gekreuzigte Christus» (vgl. 1. Kor 2,2 f.). Bei Jeremia, der sich für «zu jung» hält, ist es ähnlich. Es ist so etwas wie ein biblisches Grundmuster: Die Kraft erweist sich in Schwachheit (2. Kor 12,9). Der jüdische Sänger und Songwriter Leonard Cohen (1934–2016) hat es in die folgenden Worte gefasst:

There’s a crack in everything, that’s how the light gets in.

Von Andreas Fischer

9. September

Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. Markus 2,17

Der sagenumwobene griechische Philosoph Diogenes von Sinope (404–333 v. Chr.) soll von den Spartanern eine höhere Meinung gehabt haben als von den Athenern. Einmal habe ihn ein verärgerter Bewohner Athens gefragt, warum er dann hier und nicht dort wohne. Darauf habe Diogenes geantwortet: «Der Arzt, der seinen Patienten hilft, hält sich auch nicht bei den Gesunden auf.»
Es ist nicht anzunehmen, dass Jesus diese Worte des Diogenes kannte. Vielmehr sind beider Worte aus demselben Geist entstanden. Der eine lebte in einem Fass, der andere sagte, dass Füchse ihre Höhlen haben, er selber aber keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen könne (Matthäus 8,20). Die Freiheit von allen – materiellen und geistigen – Bindungen machte die beiden zu Heilern. Durch sie wirkte die ursprüngliche Kraft unverstellt.
Die Kraft ist universal. Was Jesus sagt, richtet sich nicht gegen «Starke» und «Gerechte». Aber allemal: Sein Kommen aus dem göttlichen Ursprung gilt jenen, die aus diesem Ursprung hinausgefallen sind. Sie gilt es heimzuholen. Zu heilen. Und selber zu Heilern werden zu lassen. Sie sind dafür besonders geeignet. Denn sie haben nichts zu verlieren – weder Gesundheit noch Gerechtigkeit – und sind also, auch sie, frei von allen Bindungen.

Von Andreas Fischer

8. September

Und alsbald trieb ihn der Geist in die Wüste; und er war in der Wüste vierzig Tage und wurde versucht von dem Satan und war bei den Tieren, und die Engel
dienten ihm.
Markus 1,12–13

Der Geist, die ruach, ist eine «überwältigende Macht, die den von ihm Befallenen anderswohin treibt» (E. Schweizer). Anderswohin: hinaus aus der Zivilisation, der Konvention, hinaus aus der Ordnung, hinein in die Wüste. Diese steht für Unort, Tohuwabohu, Chaos. Dort draussen, «anderswo», treiben sich dem Alltagbewusstsein fremde Wesen umher, Strausse, Schakale, struppige Böcke (Jes 13,21 f.). Die Engel, der Satan. Anders als im Matthäusevangelium (4,11) erfolgt ihr Auftritt nicht gestaffelt, dass zuerst der Satan Jesus versucht und danach die Engel ihm dienen. Nein, diese magisch-mythischen Gestalten sind alle gleichzeitig und gemeinsam gegenwärtig. Der Weg führt nicht aus Hölle und Fegefeuer hinein in den Reigen seliger Geister. Vielmehr führt der Weg durch die Wüste als Chaos-Ort hinein in die Wüste als den Ort, wo all diese Illusionen verschwinden. Wo der Horizont unendlich wird. Im granum sinapis (Senfkorn), einem mittelalterlichen mystischen Text heisst es:

Sie liegt so breit, / unmessbar weit. / Die Wüste hat / nicht Zeit noch Statt. … Lass Ort, lass Zeit, / auch Bild lass weit! / Geh ohne Weg / den schmalen Steg! / So stösst du auf der Wüste Spur.

Von Andreas Fischer

9. Juli

Jesus spricht: Wen da dürstet, der komme zu  mir und trinke!                                                                    Johannes 7,37

Der zeitgenössische Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann bezeichnet in seinem Kommentar zur Stelle Religion als «Gespür eines Durstes, der nie aufhören wird».

In diesem Zusammenhang sei auf ein Detail im Lehrtext hingewiesen: Man kann den Punkt auch an einer anderen Stelle setzen. Dann heisst es: «Wenn jemand Durst hat, komme er zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt.» Wenn man den Punkt so setzt, entsteht eine überraschende Parallele: «Wer an mich glaubt» ist dann gleichgesetzt mit «Wer Durst hat». Das heisst: Die Glaubenden sind die Dürstenden!

Das ist nicht das übliche Bild, das man vom Glaubenden hat als dem, der etwas besitzt, irgendeine Gewissheit, dass Jesus ihn erlöst hat, dass er errettet ist, dass er nach seinem Tod ins Ewige Leben eintreten wird. Nicht das ist der Glaubende, sondern der, dessen Durst nie aufhören wird. Der weiss, dass er arm ist, angewiesen auf Christus, der seinen Durst löscht, angewiesen auf den göttlichen Geist, die Ruach, die uns Leben einhaucht, Atemzug für Atemzug.

Der Glaubende ist, so gesehen, der, welcher den Durst zulässt und ihm folgt, hin zur Quelle.

Von Andreas Fischer

8. Juli

Lasst uns Gutes tun und nicht müde werden;  denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen.                                                Galater 6,9

Albert Schweitzer stellt in aller Schärfe fest: Zwischen   der «Rechtfertigung allein aus Glauben» des Apostels   Paulus – d. h. der Botschaft vom bedingungslosen Geliebtsein von uns Menschenkindern mit all unseren Abgründen – und seiner Ethik gebe es eine «Schlucht». Und da sei keine Brücke, die die eine Seite mit der anderen verbinde. – Der heutige Lehrtext scheint diese Analyse zu bestätigen: Was hat der ethische Gemeinplatz, man solle «Gutes tun», mit der paulinischen Durchbruchserfahrung zu tun, dass Gottes Zuneigung gilt, immer, überall, absolut unabhängig von unseren Leistungen und Verdiensten?

Vielleicht sind es ja verschiedene Bewusstseinsebenen, die bei Paulus nah beieinander waren: Nach ekstatischen Augenblicken sank er wieder auf niedrigere Niveaus. – Indessen scheint mir eine andere Überlegung ebenfalls bedenkenswert zu sein: So wie das bedingungslose Geliebtsein allen Menschenkindern gilt, betrifft uns auch die Ethik unterschiedslos. Der deutsche Neutestamentler Michael Wolter schreibt nicht ohne Humor: «Gutes tun tut jeder menschlichen Gemeinschaft gut, nicht nur der christlichen.» Es gäbe sie also doch, die Brücke über die Schlucht – für uns alle!

Von Andreas Fischer