Autor: Andreas Egli

4. September

Du, HERR, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen! Psalm 22,20

Nur langsam wächst das Vertrauen, dass Gott nahe ist. Am Anfang des Psalms fühlt sich der Betende von Gott verlassen. Mit seinen Worten kann er Gott nicht erreichen. Sein Klag lied beginnt mit den Fragen: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Warum bleiben meine Reden fern von dir, meiner Rettung?» (V. 2)
Ein leidender Mensch ist dem Spott der Mitmenschen ausgesetzt. Er bittet Gott darum, nicht fern zu bleiben. Aber er glaubt noch nicht recht daran. Denn nahe ist ihm etwas anderes: die Not, die Bedrängnis. «Bleib nicht fern von mir, denn die Bedrängnis ist nahe, denn es ist keiner da, der hilft.» (Vers 12) Heftige Bilder schildern das körperliche Leiden und die Bedrohung durch Feinde. Am Ende der Klage ertönt die Bitte nochmals. Erst jetzt ist sie mit etwas mehr Zuversicht verbunden. «Du, HERR, bleib nicht fern. Du bist meine Kraftquelle. Komm mir zu Hilfe, schnell!» (V. 20) Der Losungsvers markiert einen Wendepunkt im Psalm. Nun wird aus dem Klagelied ein Danklied: «Du hast mir Antwort gegeben.» (V. 22) Dass Hilfe gekommen ist, sollen alle hören, von den Brüdern und Schwestern in der Gemeinde bis hin zu den Enden der Erde. Der lange Psalm lädt dazu ein, sich der Bewegung von der Klage zum Dank anzuvertrauen. Aber eine Abkürzung gibt es nicht auf diesem Weg.

Von Andreas Egli

5. Juli

Abram glaubte dem HERRN, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit. 1. Mose 15,6

Wie kann Vertrauen wachsen? Darum geht es im komplizierten Dialog, der sich zwischen Abram (Abraham) und Gott abspielt. Bei Abram herrscht am Anfang ein Misstrauen gegenüber der Zusage, dass Gott ihm einen Nachkommen geben wird. Bei Gott besteht ein Unverständnis darüber, dass Abram die Zusage nicht annimmt. Abram macht einen wichtigen Schritt, indem er seine Zweifel in Worte fasst. Er rechnet mit ganz kleinen Zahlen: Ein Sohn oder kein Sohn, das ist für ihn die Frage. Wenn er keinen Sohn bekommt, wird sein Erbe in fremde Hände kommen. Gott lässt sich auf den Zweifel ein und versucht, etwas in Bewegung zu bringen. Er lädt Abram ein, seine Augen für eine neue Perspektive zu öffnen. Bei den Sternen ist eine sehr grosse Zahl zu sehen, die nach oben offen ist. Könnte dies mit Abrams Nachkommen – und mit dem späteren Volk Israel – nicht auch möglich sein? Im gegenseitigen Verhältnis geschieht eine Annäherung. Am Ende des Gesprächs passt es zusammen, wie jeder über den anderen denkt. Man könnte den Losungsvers wie folgt umschreiben. Glaube bedeutet, dass Abram denkt: «Jetzt kann ich mich auf Gott verlassen.» Gerechtigkeit bedeutet, dass Gott denkt: «Jetzt ist Abram ins rechte Verhältnis mit mir gekommen.» Später wird erzählt, dass Abram zwei Söhne hatte, von denen zwei Völker abstammten.

Von Andreas Egli

4. Juli

Meine Hand hat alles gemacht, was da ist,  spricht der HERR. Ich sehe aber auf den Elenden und auf den, der zerbrochenen Geistes ist und der  erzittert vor meinem Wort.                Jesaja 66,2

Wohin richtet Gott seine Aufmerksamkeit? Nach dem babylonischen Exil wurde in Jerusalem wieder ein neuer Tempel gebaut. Differenziert denkt der Text über die Bedeutung des Heiligtums nach. Ist es der Ort, an dem Gott wohnt? Nein, er hat ja die ganze Schöpfung geschaffen und ist in ihr gegenwärtig. Könnte ein prachtvoll gebautes Gotteshaus wenigstens dazu dienen, dass Gott seine Blicke in besonderer Weise auf diesen Ort richtet? Eigentlich auch nicht. Denn Gottes Aufmerksamkeit gilt den Menschen. Und zwar besonders denjenigen, die verletzlich und bedürftig sind: arm, deprimiert, besorgt. Der Tempel soll ein Ort sein, an dem sie willkommen sind. Sie dürfen kommen, so, wie sie sind. «So spricht der HERR: Der Himmel ist der Thron, auf dem ich sitze. Und die Erde ist der Schemel, auf dem meine Füsse ruhen. Was ist das für ein Haus, das ihr mir bauen wollt? Was ist das für ein Ort, an dem ich wohnen soll? Alle diese Dinge hat meine Hand gemacht, und so sind alle diese Dinge geworden. Spruch des HERRN. Und auf diesen Menschen werde ich hinblicken: auf den, der arm ist; auf den, der deprimiert ist; auf den, der besorgt ist über mein Wort.»

Von Andreas Egli

5. Mai

Ich, der HERR, habe dich gerufen in Gerechtigkeitund halte dich bei der Hand.                                Jesaja 42,6

Ein Ich und ein Du stehen sich im Text gegenüber. Als Du angeredet wird vermutlich der persische König Kyros II. (wie in Jesaja 44,28 und 45,1). Er machte Persien zu einem Weltreich, nachdem er das babylonische Reich übernommen hatte. Den verschiedenen Völkern in seinem Herrschaftsgebiet liess er eine gewisse Freiheit, die eigene Religion zu behalten. Für die Juden in der babylonischen Verbannung war dies besonders wichtig. Kyros erlaubte ihnen, nach Jerusalem zurückzukehren und dort den Tempel wieder aufzubauen. Es war der Anfang einer guten Epoche in der Geschichte Israels.

Im Bibeltext ist der mächtigste Mann der Welt allerdings nur der Befehlsempfänger. Ganz am Anfang steht ein betontes Ich. Wer hier spricht, ist «der Gott» (42,5), der einzige Gott, der sich dem Volk Israel mit seinem Namen bekanntgemacht hat. Er und kein anderer bekommt zu Recht die göttliche Ehre.

Der Text hat den Ton eines Bekenntnisses. Zuoberst steht nicht der Grosskönig, auch wenn sein Weltreich noch so mächtig sein sollte. Zuoberst steht Gott mit seinem guten Willen für die Menschen. «Ich, der HERR, habe dich gerufen zum Heil. Ich habe dich bei deiner Hand ergriffen. Ich habe dich geformt. Ich habe dich dazu gemacht, eine Verpflichtung für die Menschen, ein Licht für die Völker zu sein.»

Von Andreas Egli

4. Mai

Siehe, Kinder sind eine Gabe des HERRN.         Psalm 127,3

In der Mitte der Wallfahrtspsalmen 120 bis 134 steht die Zusage: Es gibt einen Segen für die ganz gewöhnlichen Menschen. Ihr Leben gelingt und wird Zukunft haben. Sie selbst tragen mit ihrer Arbeit viel dazu bei. Aber das Lebensglück ist nicht einfach machbar. Es ist immer auch ein Geschenk von Gott, wenn das Tun gelingt. Der Psalm zeichnet Bilder aus dem alltäglichen Leben. Im ersten Teil geht es um den Lebensraum, den die Menschen gestalten. Sie bauen ein Haus, sie bewachen eine Stadt. Und sie vertrauen darauf, dass Gott bei ihnen ist und ihnen hilft.

Im zweiten Teil kommt die nächste Generation in den Blick. Das Leben an Kinder weitergeben – sie beim Aufwachsen begleiten und unterstützen – oder sich auf eine andere Art für die kommende Generation einsetzen: Das ist ein Teil des gelingenden Lebens. Dabei wird die Generation der Eltern (und auch der Grosseltern) durch ihre Aufgaben sehr gefordert, manchmal bis an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit. Aber die ältere Generation erlebt auch die Dankbarkeit für das wachsende Leben. Der Psalm ist überzeugt, dass dieses Geschenk von Gott kommt. Und dass es kostbar ist, wie ein grosser Lohn am Ende des Monats oder wie eine unerwartete Erbschaft, von der man lange zehren wird. «Siehe, das Erbe vom HERRN sind Kinder, ein Lohn ist die Frucht des Mutterleibs.»

Von Andreas Egli

5. März

Du machst fröhlich, was da lebet im Osten wie im Westen.
Psalm 65,9

Beim Gottesdienst im Tempel von Jerusalem wurde der biblische Gott gefeiert. Auf dem Berg Zion konnten die Israeliten Vergebung finden. Dort dankten sie Gott dafür, dass er dem Land Regen und Fruchtbarkeit geschenkt hatte. Der Psalm ist ein Abbild dieses Gottesdienstes. Man könnte denken, er habe einen verengten Blick, der nur das eigene Land sieht. Aber der mittlere Teil des Psalms öffnet die Perspektive weit, sodass die ganze Welt miteinbezogen wird. Es geht um den Gott, der die Schöpfung begründet hat, der das Chaos in die Schranken weist, der die Erde zu einem «Lebenshaus» macht. Zu ihm finden auch «die Enden der Erde» Vertrauen. An der Freude über ihn haben auch all jene Anteil, die weit weg wohnen: ganz im Osten, wo die Morgendämmerung aufgeht, und ganz im Westen, wo die Abenddämmerung am längsten zu sehen ist. «Die an den Enden der Erde wohnen, haben Ehrfurcht vor deinen Zeichen. Du machst, dass die Orte jubeln, wo der Morgen und der Abend herkommen.»

Die wohnen in den fernsten Reichen am Auf- und Niedergang,
die preisen deine Wunderzeichen  mit Furcht und Jubelklang.

(RG 40,4)

Von Andreas Egli

4. März

Auf dich, HERR, sehen meine Augen; ich traue auf dich,
gib mich nicht in den Tod dahin.

Psalm 141,8

In einer religiösen Not bittet der Psalmsänger um Hilfe. In der damaligen Zeit wurde es modern, die griechische Kultur und ihre Lebensweise zu übernehmen. Aber der Beter will dem biblischen Glauben treu bleiben, der ihm überliefert worden ist. Er redet von sich als Mensch, wie es die hebräische Bibel tut – da gehört der Körper dazu. Mit seiner Stimme ruft er zu Gott, und  Gott soll ihn hören. Seine offenen Hände hebt er beim Beten in die Höhe.
Die Bitten im mittleren Teil kommen aus der Angst: Schlechte Freunde könnten ihn dazu verleiten, etwas Falsches zu denken, zu reden und schliesslich zu tun. Deshalb bittet er, vor seinem Mund soll Gott eine Wache einrichten. Vor der Türe seiner Lippen soll Gott wachen. Dass sein Herz sich zu schlechten Gedanken neigt, soll Gott nicht zulassen. Dagegen ist er froh um gute Freunde, mit denen er seinen Glauben teilt. Sie machen ihn darauf aufmerksam, wenn er auf einem falschen Weg ist. Wie wohlriechendes Öl für den Kopf ist es, wenn ein Gerechter ihn korrigiert.
Im dritten Teil geht es wieder um den Bezug zu Gott. Die Augen des Beters sind auf Gott gerichtet. Seine Kehle  ist in Sicherheit, Gott wird sein Leben nicht ausgiessen. «Ja, zu dir, HERR, sind meine Augen ausgerichtet. Bei dir finde ich Schutz. Giesse meine Kehle nicht aus.»

Von Andreas Egli

5. Januar

Der HERR spricht: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.          2. Mose 33,19

Mose bleibt ein Mensch. Zwar hat er eine besondere Nähe zu Gott. Den Bund mit Gott, der gebrochen wurde, kann er erneuern. Aber sein Wunsch, dass er Gottes Herrlichkeit sehen darf, wird ihm nicht erfüllt. Ein Bild von Gott, das man dauerhaft anschauen könnte, gibt es eben nicht.

Möglich sind andere Arten, von Gott etwas wahrzunehmen. Der Text führt dies in verschiedenen Durchgängen aus. Gott zeigt seine Güte, aber nur «im Vorbeigehen». Gott nennt seinen Namen, mit dem man ihn anrufen kann. Gott schenkt seine liebevolle Zuwendung und sein barmherziges Mitgefühl. Aber er bleibt frei in der Entscheidung, wem er diese Zuneigung gibt. Und nochmals erscheint das Bild vom Vorbeigehen: Mose muss sich in einer Felsspalte verstecken, während Gott vorbeigeht. Gottes Angesicht kann er nicht sehen. Erst «hinterher», erst «im Nachhinein» kann er von Gott etwas erkennen. Erst im Rückblick kann ein Mensch sagen: Da habe ich von Gottes Zuwendung und von seinem Mitgefühl etwas gespürt. «Er sprach: Ich selbst werde alle meine Güte vor deinem Gesicht vorbeigehen lassen. Und ich werde den Namen JHWH vor deinem Gesicht ausrufen. Ich zeige meine Gnade dem, dem ich meine Gnade zeige. Und ich zeige mein Mitgefühl dem, dem ich mein Mitgefühl zeige.»

Von Andreas Egli

4. Januar

Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig! Denn auf dich traut meine Seele.                
Psalm 57,2

Mit einem Morgenlied beginnt der Betende den neuen Tag. Zwar kennt er Situationen, vor denen er sich fürchtet. Er findet im Psalm Worte für sie und will ihnen nicht ausweichen. Ein Unglück, das ihn getroffen hat, ist vielleicht noch nicht vorbei. Manchmal gibt es Mitmenschen, die ihm vorkommen wie Raubtiere. Oder wie Feinde, die ihm eine Grube graben wollen – und dann selbst hineinfallen. Aber das Gebet hilft, nicht in dunklen Gedanken gefangen zu bleiben, sondern die Augen für das Licht zu öffnen.
Der Psalmbeter wendet sich mit der Bitte an Gott: Zeige mir deine wohlwollende Zuneigung. Lass deine Gnade bei mir leuchten, wie das Morgenlicht des neuen Tages aufstrahlt. Mit einem starken Bild drückt er sein Vertrauen zu Gott aus: Bei dir finde ich einen geschützten Raum. Wie ein junger Vogel sich geborgen fühlt beim Muttertier, das seine grossen Flügel über ihm ausstreckt. «Sei mir gnädig, Gott. Sei mir gnädig. Denn bei dir findet meine Seele Schutz. Im Schatten deiner Flügel finde ich Schutz, bis das Unglück vorbeigeht.»

All Morgen ist ganz frisch und neu, des Herren Gnad und grosse Treu, sie hat kein End den langen Tag, drauf jeder sich verlassen mag.

Von Andreas Egli