Herr, vor dir liegt all mein Sehnen, und mein Seufzen ist dir nicht verborgen. Psalm 38,10

Zum Sehnen und Seufzen gibt es wahrhaftig genug Grund, angefangen im Privaten – Krankheit, Konflikte, Verluste – bis hin zu den Nöten der Welt – Hunger, Klima, Naturkatastrophen, Kriege, und das nun auch nur ein paar hundert Kilometer vor unserer Haustüre. Die Rezepte der Positivdenker helfen nicht viel weiter. Sich an den Kleinigkeiten des Alltags zu freuen, ist ja sicher nicht falsch, doch danach bricht sich das Seufzen und Sehnen unweigerlich wieder seine Bahn, und dies schliesslich bis hin zu der Frage, wo denn der gütige Gott bleibt, warum er nicht eingreift, warum er nicht endlich «Hirn regnen lässt».
Wir preisen im «Sanctus» den Gott, von dessen Ehre Himmel und Erde erfüllt sind – nur sehen wir davon meist herzlich wenig, und das Bemühen, sich einen zugleich gütigen wie allmächtigen Gott zu denken, scheitert mit unausweichlicher und unschöner Regelmässigkeit.
Angesichts von Leid, Not und Bosheit über Gott zu reden, bringt nichts. Das muss anders laufen: Statt über Gott zu reden, reden wir zu ihm, und das bedeutet in diesem Fall nichts anderes als Seufzen und Sehnen. Die Klage vor Gott, gar die Anklage Gottes, hat ihre Tradition, und sie verdient mehr Raum in unseren Gebeten und Liturgien. Dabei darf sie durchaus offen bleiben, ohne direkte Antwort, ohne Beschönigung. Dies auszuhalten, ist eine Kernkompetenz des Glaubens.

von: Andreas Marti