Weh denen, die weise sind in ihren eigenen Augen
und halten sich selbst für klug! Jesaja 5,21

Der Satz trifft. Ich kenne solche, denen dieser Ruf gilt. Manchmal bin ich selbst einer von ihnen. Wenn ich mich dabei ertappe, wie ich mir selbst in Gedanken auf die Schulter klopfe im Gefühl, das war gut, was da eben war. Und es war nicht bloss Einbildung oder grundlose Selbstüberhöhung, es war tatsächlich gelungen, eine in meinen Augen tolle Idee durch die Teamsitzung zu bringen! Und dann lese ich diesen Satz und halte erschrocken inne. Dass ich dieser Haltung hier als Wehruf begegne, trifft mich. Ich kann mich ärgern und ihn unwirsch vom Tisch fegen wollen, es bringt nichts. Er steht weiter unmissverständlich da. Ich kann mich aber auf ihn einlassen und ihn wirken lassen. Aus dem Zusammenhang sagt er mir sehr klar, dass ich meine Weisheit nicht aus mir selbst schöpfe. Dass ich sie erhalten habe, dass sie mir geschenkt worden ist. Und dass ich sie im entscheidenden Moment abrufen konnte. Aus dem Ärger ersteht langsam eine Demut. Auch wenn der Wehruf des Propheten hart ist, ist er nicht das Ende! Im Gegenteil: Er nötigt mich, selbstkritisch zu sein. Und er ermöglicht mir eine Veränderung. Was auf das erste Hinhören wie eine Verurteilung tönt, bietet mir eine neue Chance. Macht mir bewusst, dass meine Klugheit eine Gabe ist, die ich einsetzen kann – als Entsprechung und aus Dankbarkeit.

von: Hans Strub