Jesus spricht: Meine Schafe hören meine Stimme,
und ich kenne sie und sie folgen mir; und niemand
wird sie aus meiner Hand reissen.
Johannes 10,27.28


Es ist interessant, die Bibel als ein Buch der Beziehungen
zu lesen. Überspitzt gesagt, begegnen wir in den beiden
Testamenten einer unendlich grossen Bibliothek an Ratgeberliteratur,
die uns das Zusammenleben mit anderen Menschen
erklären möchte – mit dem Ziel, dieses so angenehm wie möglich
zu gestalten.
Wenn Jesus in der Bibel spricht, tut er – oder sein Autor – dies
nicht, weil er unser aller Leben zu einer Wohlfühloase machen
möchte. Er tut dies, um die Gesellschaft zu stabilisieren und
einen zivilisierten Umgang der Menschen untereinander zu
fördern – wie das eigentlich alle Religionen tun. Was aber in
diesem Johannes-Vers besonders gut zum Ausdruck kommt
und weshalb wir auch heute die Bibel noch mögen: Wir begegnen
hier immer wieder Menschen, die für das Gemeinwohl
Verantwortung übernehmen – nicht aus Machthunger oder
Prestige, sondern aus Fürsorge.
Das Bild des guten Hirten, aus dessen Perspektive Jesus hier
spricht, mag aus heutiger Sicht vielleicht etwas veraltet sein.
Doch symbolisiert es einen Umgang zwischen einem Menschen
und seinen Tieren, der auch heute noch eine positive Kraft auf
uns ausüben kann. Beide sind aufeinander angewiesen, wenn
auch aus einer ganz unterschiedlichen Position. Der Hirte führt
seine Herde aus Liebe und Kenntnis. Die Schafe folgen ihm aus
Freiheit. Deshalb haben es beide gut.
Dieses Modell einer achtsamen und fürsorglichen Beziehung
kann uns in verschiedenen Situationen des Alltags ein Vorbild
sein, sei es im Umgang mit Menschen in der Familie oder im
Beruf oder auch mit uns selbst.

Von: Esther Hürlimann