Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. 2. Mose 20,16

Unweigerlich fühle ich mich versetzt in die dritte Klasse, wo
uns in der Christenlehre die Zehn Gebote eingehämmert
wurden als moralischer Wegweiser. Zwar ist nach all den
vielen Jahren die Angst vor dem strafenden Gott längst dem
Glauben an Gott, den Befreier, die Lebendige, die Ermutigerin,
gewichen. Und so lese ich den heutigen Text als Teil der
Worte, die von Gott an das Volk gerichtet waren, um die
Menschen damals daran zu erinnern, dass die Lebendige
mitgeht, aber auch Aufgaben bereit hat für sie. Den ganzen
Dekalog lese ich nicht mehr als moralischen Anspruch,
sondern als Aufgabe, meine Beziehungen zu Gott und den
Menschen und der ganzen Schöpfung solidarisch zu leben.
Denn, so lerne ich, jedes der Gebote ist auf die Menschen
ausgerichtet, darauf, gut mit ihnen zusammenzuleben. Die
Zürcher Bibel übersetzt die heutige Losung: «Du sollst nicht
als falscher Zeuge aussagen wider deinen Nächsten.» Der
oder die Nächste rückt ins Zentrum und nicht meine allfälligen
Vorteile einer Falschaussage. Ein hoher Anspruch für
Menschen, die ihm gerecht werden sollen. Es ist nicht ein
moralischer Anspruch, sondern Teil der Identität der Menschen,
die mit der Lebendigen unterwegs sind. Und diese
Identität kommt von Gott, der den Dekalog direkt zu den
Menschen gesprochen hat. Und Identität hilft, stark zu sein.

Von: Madeleine Strub-Jaccoud