Ich bin ein Gast auf Erden. Psalm 119,19

Warum nur bricht die Losung nach dem halben Vers ab und macht aus dem Semikolon einen Punkt? «Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir», lautet der ganze Vers nach der Lutherbibel. Die Wahl des Lehrtextes (2. Korinther 5,1) und – mehr noch – des beigefügten dritten Textes: «Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ewgen Heimat zu», legen eine Antwort nahe. Die Herausgeber der Losungen dachten bei der Auswahl dieses Begleittextes wohl an eine Trauerfeier … Das aber wird dem Psalm 119 nicht gerecht. Und obwohl das Lied von Georg Thurmair heute oft bei Beerdigungen gesungen wird, schrieb er es 1935, um katholische Jugendliche gegen den Druck der antikirchlichen Nazipropaganda zu stärken.
Psalm 119 ist ein vielgestaltiger Lobpreis der Tora, der Weisungen Gottes als befreiendes und Leben schenkendes Wort. Die Tora führt auf den Weg der Gerechtigkeit. Sie ist Schutz und Schirm auch für die Fremden, für Migrantinnen und Migranten, für Menschen auf der Flucht. So übersetzt die Zürcher Bibel näher am hebräischen Text: «Ein Fremder bin ich auf Erden, verbirg deine Gebote nicht vor mir.»
Weil der Psalm so viel über Gottes Weisungen und Gebote zu sagen hat, ist er der längste der Psalmen – doch es lohnt sich, sich die Zeit zu nehmen, um ihn ganz zu lesen.

Von: Barbara und Martin Robra