Brüder und Schwestern: Was wahrhaftig ist, was
ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert,
was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es
ein Lob – darauf seid bedacht!
Philipper 4,8

Es sind unerwartete Worte, die in diesem Lehrtext auftauchen.
Viele von ihnen kommen sonst im Neuen Testament
nirgends vor, dafür umso häufiger in allgemein-antiken
Tugendkatalogen. Es handelt sich um Begriffe des bürgerlichen
Lebens. Worauf wir gemäss diesen Begriffen bedacht
sein sollen, sind gesellschaftliche Normen: Man achte auf
seinen «guten Ruf»! – Die These, die z. B. die Marburger
Neutestamentlerin Angela Standhartinger vertritt, leuchtet
ein: Das hier ist nicht Paulus. Das ist eine spätere, spiessige
Glosse, die in den Text reingerutscht ist. Da ist vergessen
gegangen, dass christliche Ethik sich gerade nicht am
in der Antike geltenden Ethos von Ehre und Ruhm orientiert,
sondern am Gekreuzigten, der in die tiefsten Tiefen der
menschlichen Seele hinabgestiegen ist. Dort unten, in den
Abgründen, abseits des «guten Rufs», beginnt die Erlösung,
ausgelöst durch die göttliche Gnade ohne Bedingung. – In
eine ganz andere Richtung geht ein englischsprachiger Kommentar:
Er sagt, der Fokus auf Tugenden helfe, sich aus der
Negativspirale der Angst («negative sentiment override»,
NSO) zu befreien. Es tue den Christenmenschen wie allen
Menschen gut, sich auf positive Gedanken auszurichten.

Von: Andreas Fischer