Schlagwort: Andreas Fischer

9. März

Paulus schreibt: Weil wir uns auf den Herrn verlassen, dürfen wir zuversichtlich und vertrauensvoll vor Gott treten. Darum bitte ich euch: Lasst euch nicht irremachen durch das, was ich leiden muss. Epheser 3,1213

Im Messias Jesus, heisst es in der genaueren Übersetzung der Zürcher Bibel, «haben wir Freiheit und Zugang zu Gott». Diesen Zugang zu Gott ermöglicht der Messias, indem er die Hindernisse in den überirdischen Sphären durchbricht. Dem modernen Menschen sind die als «Mächte und Gewalten» (Vers 10) bezeichneten kosmischen Obstakel – Hindernisse – vielleicht fremd geworden; dass es aber überpersönliche Kräfte gibt, «biologische, soziale, politische und geistige Wirklichkeiten, Gesetze, Gesetzmässigkeiten, Anlagen, Traditionen usw.» (Petr Pokorny), leuchtet ein. Ihnen können wir in «Freiheit» gegenübertreten, wie freie Bürger in antiken griechischen Städten – deren Recht auf freie Meinungsäusserung meint das entsprechende Wort im Urtext.

In diese Freiheit führt die Fastenzeit, in der wir stehen. Beim Zugang zu Gott – vermittelt durch den gekreuzigten Messias – ist «Leiden» kein Indiz für die Absenz des Ewigen. Im Gegenteil: Im Kreuz ist Heil oder, wie Leonard Cohen sagt: «There’s a crack in everything, that’s how the light gets in.» («In allen Dingen gibt es einen Bruch; auf diese Weise dringt das Licht ein.»)

In diese Einsicht führt die Passionszeit, in der wir stehen.

Von: Andreas Fischer

8. März

Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Römer 11,29

«Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?» lautete Luthers Frage. Es ging dem Augustinermönch um sein Seelenheil. Indessen fragt man sich: Welches fühlende, mitfühlende Menschenkind kann im Anblick des drohenden globalen Kollapses ernstlich besorgt sein um seine persönliche «Rechtfertigung» vor Gott?

In diesem Zusammenhang mag die Beobachtung des deutschen Neutestamentlers Ernst Käsemann (1906–1998) von Bedeutung sein, dass es bei der «Rechtfertigungslehre» des Apostels Paulus genuin gar nicht ums Seelenheil ging. Sondern ums Ganze, das Ziel des Kosmos, das Ende der Erde.

Entsprechend gilt unser heutiger Vers nicht einer skrupulösen Seele, sondern den Juden und Heiden, der Menschheit, allen Wesen der Welt (vgl. die Fortsetzung Verse 30–36 und den ganzen Zusammenhang in Römer 9–11).

«Nicht gereuen» steht im griechischen Urtext betont am Anfang. Darauf liegt alles Gewicht. Es ist eine erstaunliche Aussage; in der Bibel steht auch anderes, zum Beispiel: «Da reute es den EWIGEN, dass er den Menschen gemacht hatte.» (1. Mose 6,6) Doch Paulus, dessen «Rechtfertigungslehre» eben «geschichtliche Tiefe und kosmische Weite» (Käsemann) hat, glaubt, dass alles, dass das All – bedingungslos, so, wie es ist – in Gott geborgen ist und schliesslich heimgerufen wird ins göttliche Licht.

Von: Andreas Fischer

9. November

Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf. Denn wir
wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen. Römer 8,26

Das «Seufzen» ist eigentlich das «Stöhnen» einer in den Wehen liegenden Frau. Mit ihr vergleicht Paulus die Schöpfung (Vers 22) und uns Menschenkinder – auch wir stöhnen und sehnen uns nach Erlösung (Vers 23). Und nun, im heutigen Lehrtext, ist vom Seufzen beziehungsweise Stöhnen der göttlichen Geistkraft die Rede. Ein dreifaches Seufzen-Stöhnen durchzieht also das Universum, es gibt eine kosmische Konsonanz und Resonanz des Seufzens und Stöhnens. Sie bringt keine artikulierten Wörter hervor. Umso authentischer ist ihr Ausdruck. Ein Aphasie-Patient, der «die Worte nicht versteht und also auch nicht durch sie getäuscht wird» (Oliver Sacks), würde dieses Seufzen-Stöhnen bestens verstehen.

A-phasie, Sprachlosigkeit, ist eine Form von A-sthenie, von Kraftlosigkeit. Von ihr spricht Paulus im Lehrtext. Das Wort für «Schwachheit» im griechischen Urtext ist «Asthenie». Die Aphasie-Asthenie erweist sich als Stärke. Sie verbindet mein Selbst mit der Welt und schliesslich mit Gott selbst. Es ist Gott, der in mir, durch mich hindurch zu Gott betet, als Geistkraft, die – seufzend, stöhnend auch sie – den neuen
Menschen und den neuen Kosmos gebiert.

von: Andreas Fischer

8. November

Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben. Johannes 1,12

Die Zeilen zuvor im Johannesprolog sind mit «und» aneinandergereiht: «und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst… und die Seinen nahmen ihn nicht auf». Das klingt auf Deutsch etwas merkwürdig. Doch im biblischen Sprachgebrauch hat es einen hymnischen Klang. Die Feierlichkeit deutet an: In dem, was da geschieht, ist Gott am Werk. Fast scheint es, als hätte Gott selbst ein Interesse daran, dass wir Menschenkinder uns in die Finsternis hineinbegeben, entsprechend dem Song, den der kanadisch-jüdische Sänger und Poet Leonard Cohen (1934–2016) kurz vor seinem Tod noch geschrieben hat: «You want it darker», «Du, Gott, willst es dunkler». Doch nun, im heutigen Lehrtext, vollzieht sich die Wende. Statt «und» steht «aber». Dieses «aber» markiert die Umkehr am tiefsten Punkt. Hier, ganz unten, geschieht die Rückkehr zum Licht. «Macht geben» ist ein juristischer Ausdruck. Er meint: Wir sind Kinder Gottes, nicht weil wir das im Moment grad so spüren. Es ist gültig, es ist objektiv, es gilt bis ans Ende der Zeit: Wir sind aus Gott gezeugt, sind Licht vom göttlichen Licht. Um ebendies zu erfahren, sind wir in die Finsternis gegangen.

von: Andreas Fischer

9. September

Er gedenkt ewiglich an seinen Bund, an das Wort,
das er verheissen hat für tausend Geschlechter.
Psalm 105,8

Mit «Er» ist «Adonai Elohenu» gemeint, der Ewige, unser
Gott. So wird das Mysterium im vorhergehenden Vers 7
genannt, entsprechend dem Schma Israel, dem jüdischen
Glaubensbekenntnis (5. Mose 6,4). Die heutige Losung bringt
Grundsätzliches zur Sprache. Der Ewige wird ewiglich seines
Bundes gedenken, heisst es da. Das erinnert, erstens, an die
Verheissung Gottes nach Verebben der Sintflut: «Wenn der
Bogen in den Wolken erscheint, dann will ich mich meines
Bundes erinnern, der zwischen mir und euch besteht und
allen Lebewesen. Und nie wieder wird das Wasser zur Sintflut
werden.» (nach 1. Mose 9,14–17) Es erinnert, zweitens, an
das in Ägypten versklavte Volk. Dort, am Anfang des Exodus,
heisst es: «Gott hörte ihr Seufzen, und Gott gedachte seines
Bundes. Und Gott nahm sich ihrer an.» (nach 2. Mose 2,24–25)
Weiter: Der Ewige hat sein Wort, das einst die Welt erschaffen
hat, für tausend Geschlechter – und das heisst: unbegrenzt
– verheissen. Mit (im hebräischen Urtext) demselben
Wort heisst es im Psalter: «Am Tag erweist (bzw. verheisst)
der Ewige seine Gnade, und des Nachts ist sein Lied bei mir.»
(Psalm 42,9) Das Gedenken Gottes gilt also in ökologischer
und sozialer Hinsicht, und es gilt bei Tag und bei Nacht,
allezeit. Gott, im Fluge unserer Zeiten: Gedenke unser!
Richte deinen Regenbogen auf!

Von: Andreas Fischer

8. September

Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben,
lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und
die Sünde, die uns umstrickt.
Hebräer 12,1

Die Metaphorik des heutigen Lehrtextes entstammt der Welt
des Sports. Die «Wolke» meint eine grosse Menschenmenge.
Die «Zeugen» – Zuschauerinnen, Anhänger, Fans – feuern
uns, die Läuferinnen und Läufer, an. Wir legen alle Last ab,
insbesondere die «Sünde», die wie ein an der Haut klebendes
Kleid beim Rennen stört. Es gilt, federleicht zu werden.
Wobei: Die «Zeugen» sind nicht bloss Zuschauende. Sie
sind selber am Wettkampf beteiligt beziehungsweise waren
es – wie der entrückte Henoch, die Prostituierte Rahab und
alle anderen, «derer die Welt nicht würdig war» (vgl. Hebräer
11). Sie sind schon angekommen. Sie haben das Ziel
schon erreicht.
Und auch die «Wolke» ist vermutlich mehr als einfach nur
eine Fankurve. Die Wolke ist Zeichen der Anwesenheit Gottes.
Sie ist gleichsam göttliches Zelt. Sie umhüllt den Sinai,
den heiligen Berg (2. Mose 24,16). Sie wirft ihren Schatten
auf Elija, Mose und Jesus in der Verklärung auf dem Berg
Tabor (Markus 9,7). Der grosse pietistische Theologe Johann
Albrecht Bengel (1687–1752) spricht von einer «heiligen,
durchsichtigen Wolke». Wolken, sagt er, ziehen aufwärts.
«So steigt hier mit heiliger Behändigkeit eine Wolke von
Zeugen empor.» Die Wolke von Zeugen gibt Protektion
und Support. Und sie weist selber die Richtung, den Weg,
der zum Ziel führt. Es gilt, federleicht, eins mit ihr zu werden.

Von: Andreas Fischer

9. Juli

Paulus schreibt: Ist bei euch Ermahnung in Christus,
ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist
herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine
Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes
seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid.

Philipper 2,1–2

In Christus, der Liebe, dem Geist (hebräisch weiblich: Ruach,
Geistkraft) klingt die göttliche Trinität an, in der Barmherzigkeit
das göttliche Erbarmen (hebräisch: Rachamim, was
mit Rechem, Mutterschoss, verwandt ist). Ermahnung (besser:
Zuspruch), Trost, Gemeinschaft, herzliche Liebe – all
dies strömt aus der Gottheit in einen, wie die Marburger
Neutestamentlerin Angela Standhartinger schön schreibt,
umgreifenden Beziehungsraum.
Auch die Freude, dieser zentrale Begriff des Philipperbriefs,
ist göttlichen Ursprungs: «Als Geschenk Gottes gibt sie
Anteil an der himmlischen Welt.» Und wenn Paulus die
Gemeinde auffordert, seine Freude vollkommen zu machen,
«macht er sie, die Gemeinde, zu Gottes Mitarbeiterin»
(Standhartinger).
Die Freude des Paulus wird vervollkommnet durch das, was
Ernst Lohmeyer (1890–1946) »Einseelenhaftigkeit« nennt:
Diese «repräsentiert die Eigentümlichkeit urchristlichen
Gemeinschaftsgefühls. Denn ‹die gleiche Liebe› kennt
grundsätzlich nicht die monadische Bestimmtheit des Ichs.
In ihr gibt es nur ein ‹Zusammen der Seelen›.»

Von: Andreas Fischer

8. Juli

Werdet nicht träge, sondern tut es denen gleich, die
durch Glauben und Geduld die Verheissungen erben.

Hebräer 6,12

Aller Anfang, sagt der spanische Mönch und Mystiker Johannes
vom Kreuz (1542–1591), ist süss: «Wenn sich ein Mensch
dem Dienst Gottes zuwendet, verwöhnt ihn Gott, wie es
eine liebevolle Mutter mit ihrem Kind macht.» Doch dann
lässt die Mutter das Kind «von ihrem Arm herab und stellt
es auf die eigenen Füsse». Statt süsser Milch gibt es fortan
«Brot mit Rinde» zu essen.
Das ist der Eintritt in jenen Bereich, den Johannes vom Kreuz
die «dunkle Nacht» nennt. Wer an dieser Pforte stehenbleibt,
ist, in der Sprache des Hebräerbriefs, «träge» geworden,
stumpf, faul.
Es gilt weiterzugehen, immer weiter.
Das meint der Hebräerbrief mit seiner typischen Konzeption
von Glauben und Geduld. Unterwegs vollzieht sich ein
Prozess der Befreiung von Gier und Anhaften an Reichtum,
Ehre, Anerkennung, Genuss. Die Nacht, sagt Johannes vom
Kreuz, führt «viel sicherer als die Mittagsglut» in die eigene
Tiefe, die nichts anderes ist als die Tiefe Gottes. In der Sprache
des Hebräerbriefs: Der Wüstenweg führt ins verheissene
Land, das die Seele einst erben wird, wenn sie – geläutert,
gereinigt, befreit und geheilt – heimkehrt.

Von: Andreas Fischer

9. Mai

Jesus spricht zu den Jüngern: Ich übergebe euch,
wie der Vater mir, das Reich, damit ihr in meinem Reich
an meinem Tisch esst und trinkt.
Lukas 22,29–30


Das Wort «übergeben» bedeutet eigentlich «testamentarisch
übereignen». Es ist verwandt mit dem «Neuen
Testament» (neuen Bund; das lateinische Wort «testamentum
» bedeutet in diesem Zusammenhang «Bund»), von
dem Jesus kurz zuvor bei der Einsetzung des Abendmahls
gesprochen hat (Vers 20). Die Rede vom «Neuen Testament
» geht zurück auf das Prophetenbuch Jeremia. Dort
verheisst Gott, er werde einen neuen Bund mit seinem Volk
schliessen: Er werde ihr Gott sein, und sie werden sein Volk
sein (Jeremia 31,31–34).
Es ist diese Verbundenheit, die Jesus den Seinen verheisst –
sie entspricht seiner eigenen Verbundenheit mit seinem
Abba, den wir im Unservater erstens um das Kommen seines
Reichs und zweitens um das tägliche Brot bitten. Beides –
das Himmelreich und das Essen und Trinken, das wesentlicher
Bestandteil unseres Erdendaseins ist – gehört zutiefst
zusammen. Wenn wir Abendmahl feiern und überhaupt,
wann immer wir essen und trinken, ist das Himmelreich
schon mitten unter uns gegenwärtig. Und umgekehrt gilt:
Jesus sagt kaum etwas darüber, wie es drüben im Himmelreich
einst aussehen wird. Nur dies prophezeit er: Es wird
auch dort, an seinem Tisch, zu essen und zu trinken geben.

Von: Andreas Fischer

8. Mai

Gott sprach zu Mose: Ich werde sein,
der ich sein werde. 2. Mose 3,14

«Ich werde sein, der ich sein werde» – im hebräischen
Urtext lauten diese Worte: «Ehje ascher ehje.» Man hört die
klangliche
Nähe zum Namen Gottes: JHWH. Der Name
ist eine verkürzte Form der Formel: «Ich bin, der ich sein
werde» bzw. anders übersetzt: «Ich bin der, der da ist.»
Was ist damit gemeint? Im Wesentlichen gibt es zwei
Antworten:

  1. JHWH verweigert die Auskunft über seinen Namen. Er
    bewahrt das Geheimnis seines Wesens, das im Namen enthalten
    ist. Wer Gott ist, wird die Zukunft weisen. Diesen
    Aspekt betont die Übersetzung der Losung: «Ich werde sein,
    der ich sein werde.»
  2. «Ehje ascher ehje» sagt nicht etwas über das absolute
    Sein Gottes aus, sondern über Gottes Sein in Beziehung zu
    seinen Geschöpfen, also über sein Dasein, Dabeisein, Mitsein.
    Die entsprechende Übersetzung der Formel könnte
    lauten: «Ich bin der, der da ist und immer da sein wird.»

Die beiden Antworten schliessen sich nicht aus. Im Gegenteil:
Sie gehören zusammen. Die Gottheit, die sich als «Ich
bin da» vorstellt, sagt uns damit ihre bedingungslose Nähe
zu. Doch JHWH ist nicht in der Weise da, dass ich über ihn
verfüge. «Er entzieht sich», um es mit dem Alttestamentler
Gerhard von Rad zu sagen, «dem Wunsch, Gott den eigenen
Interessen dienstbar zu machen.» JHWH ist der, als der er
sich in Freiheit erweisen wird.

Von: Andreas Fischer