Schlagwort: Andreas Fischer

9. Mai

Jesus spricht zu den Jüngern: Ich übergebe euch,
wie der Vater mir, das Reich, damit ihr in meinem Reich
an meinem Tisch esst und trinkt.
Lukas 22,29–30


Das Wort «übergeben» bedeutet eigentlich «testamentarisch
übereignen». Es ist verwandt mit dem «Neuen
Testament» (neuen Bund; das lateinische Wort «testamentum
» bedeutet in diesem Zusammenhang «Bund»), von
dem Jesus kurz zuvor bei der Einsetzung des Abendmahls
gesprochen hat (Vers 20). Die Rede vom «Neuen Testament
» geht zurück auf das Prophetenbuch Jeremia. Dort
verheisst Gott, er werde einen neuen Bund mit seinem Volk
schliessen: Er werde ihr Gott sein, und sie werden sein Volk
sein (Jeremia 31,31–34).
Es ist diese Verbundenheit, die Jesus den Seinen verheisst –
sie entspricht seiner eigenen Verbundenheit mit seinem
Abba, den wir im Unservater erstens um das Kommen seines
Reichs und zweitens um das tägliche Brot bitten. Beides –
das Himmelreich und das Essen und Trinken, das wesentlicher
Bestandteil unseres Erdendaseins ist – gehört zutiefst
zusammen. Wenn wir Abendmahl feiern und überhaupt,
wann immer wir essen und trinken, ist das Himmelreich
schon mitten unter uns gegenwärtig. Und umgekehrt gilt:
Jesus sagt kaum etwas darüber, wie es drüben im Himmelreich
einst aussehen wird. Nur dies prophezeit er: Es wird
auch dort, an seinem Tisch, zu essen und zu trinken geben.

Von: Andreas Fischer

8. Mai

Gott sprach zu Mose: Ich werde sein,
der ich sein werde. 2. Mose 3,14

«Ich werde sein, der ich sein werde» – im hebräischen
Urtext lauten diese Worte: «Ehje ascher ehje.» Man hört die
klangliche
Nähe zum Namen Gottes: JHWH. Der Name
ist eine verkürzte Form der Formel: «Ich bin, der ich sein
werde» bzw. anders übersetzt: «Ich bin der, der da ist.»
Was ist damit gemeint? Im Wesentlichen gibt es zwei
Antworten:

  1. JHWH verweigert die Auskunft über seinen Namen. Er
    bewahrt das Geheimnis seines Wesens, das im Namen enthalten
    ist. Wer Gott ist, wird die Zukunft weisen. Diesen
    Aspekt betont die Übersetzung der Losung: «Ich werde sein,
    der ich sein werde.»
  2. «Ehje ascher ehje» sagt nicht etwas über das absolute
    Sein Gottes aus, sondern über Gottes Sein in Beziehung zu
    seinen Geschöpfen, also über sein Dasein, Dabeisein, Mitsein.
    Die entsprechende Übersetzung der Formel könnte
    lauten: «Ich bin der, der da ist und immer da sein wird.»

Die beiden Antworten schliessen sich nicht aus. Im Gegenteil:
Sie gehören zusammen. Die Gottheit, die sich als «Ich
bin da» vorstellt, sagt uns damit ihre bedingungslose Nähe
zu. Doch JHWH ist nicht in der Weise da, dass ich über ihn
verfüge. «Er entzieht sich», um es mit dem Alttestamentler
Gerhard von Rad zu sagen, «dem Wunsch, Gott den eigenen
Interessen dienstbar zu machen.» JHWH ist der, als der er
sich in Freiheit erweisen wird.

Von: Andreas Fischer

9. März

Jesus fragte seine Jünger: Als ich euch ausgesandt
habe ohne Geldbeutel, ohne Tasche und ohne Schuhe,
habt ihr je Mangel gehabt? Sie sprachen: Nein, keinen.
Lukas 22,35

«Kein Geld, keine Tasche, keine Schuhe»: Über die Aussendungsrede
(Lukas 10,1–12) hat der Berner Dichter-Pfarrer
Kurt Marti geschrieben, sie stelle uns «heftig in Frage: uns,
die wir zentnerschwer behangen sind mit den Gewichten
unserer Bindungen und Besitztümer». Es gelte also, in der
Nachfolge Jesu, «alles zu verlassen».
Doch nun folgt die Überraschung: In den Abschiedsworten
Jesu im Lukasevangelium, denen der heutige Lehrtext
entnommen ist, sagt Jesus genau das Gegenteil: Es gilt, Geldbeutel
und Reisetasche an sich zu nehmen! Und auch ein
Messer! (Vers 36) Die paradiesischen Zeiten, in denen die
ersten Christen vogelfrei durch die Welt zogen, sind vorbei.
Fortan gilt es, sich selbst zu versorgen und zu verteidigen.
Die Worte stimmen nachdenklich in Zeiten, in denen
ehemalige Pazifisten zu Panzerexperten mutieren. Ich habe
weder zu den – nur im Lukasevangelium überlieferten! –
Worten noch zur bei Redaktionsschluss aktuellen politischen
Situation eine ausgereifte Meinung. Indessen bin ich
dankbar, dass Christus mit den Worten «Er wurde zu den
Gesetzlosen gerechnet» (Vers 37) andeutet, dass er in uns
und unter uns sein wird, immer, auch in den Abgründen.
Und dass er eines Tages sagen wird: «Es ist genug!» (Vers 38)

Von: Andreas Fischer

8. März

Was euch gesagt wird in das Ohr,
das verkündigt auf den Dächern. Matthäus 10,27

In den antiken Häusern gab es fensterlose Kammern. Was
man sich dort drin im Dunkeln ins Ohr geflüstert hat, soll
nun auf den Dächern ausgerufen werden. Die Hausdächer
waren Teil des Lebensraums. Dazu gehörte auch die Konversation
unter Nachbarn. Was dort oben geplaudert wurde,
das war nachher im ganzen Dorf bekannt. Die Worte, die
Jesus hier spricht, sind ursprünglich wohl eine Sentenz über
den Dorfklatsch. – Der Evangelist Lukas (12,1–3) bezieht
die Worte auf die Pharisäer, welche Jesus als «getünchte Gräber
» bezeichnet: Die Fassade ist blitzsauber, innen
verbirgt sich Moder und Müll. Die Worte Jesu, in diesem
Sinn verstanden, ermutigen dazu, sich dem «Schatten»
(C. G. Jung) zu öffnen, den dunklen Zonen der Seele. Sie
werden einst sowieso ans Tageslicht kommen. – Der Evangelist
Matthäus, in unserem heutigen Lehrtext, gibt der
Sentenz nochmals einen anderen Sinn: Aus der Begegnung
mit dem «Schatten» entsteht eine neue Ganzheit, eine Persönlichkeit,
die um das eigene Dunkel weiss, es integriert hat
und entsprechend integer ist. Sie ist im Kontakt mit dem
Wesenszentrum, dem «Christus in mir». Diesen gilt es zu
«verkündigen». – Als einer, der dies Sonntag für Sonntag zu
tun hat, würde ich sagen: Wichtiger als das Predigen in der
Öffentlichkeit ist das Ohr-Sein, das Lauschen im Dunkeln.
Daraus werden die wesentlichen Worte entstehen.

Von: Andreas Fischer

9. Januar

Brüder und Schwestern: Was wahrhaftig ist, was
ehrbar, was gerecht, was rein, was liebenswert,
was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend, sei es
ein Lob – darauf seid bedacht!
Philipper 4,8

Es sind unerwartete Worte, die in diesem Lehrtext auftauchen.
Viele von ihnen kommen sonst im Neuen Testament
nirgends vor, dafür umso häufiger in allgemein-antiken
Tugendkatalogen. Es handelt sich um Begriffe des bürgerlichen
Lebens. Worauf wir gemäss diesen Begriffen bedacht
sein sollen, sind gesellschaftliche Normen: Man achte auf
seinen «guten Ruf»! – Die These, die z. B. die Marburger
Neutestamentlerin Angela Standhartinger vertritt, leuchtet
ein: Das hier ist nicht Paulus. Das ist eine spätere, spiessige
Glosse, die in den Text reingerutscht ist. Da ist vergessen
gegangen, dass christliche Ethik sich gerade nicht am
in der Antike geltenden Ethos von Ehre und Ruhm orientiert,
sondern am Gekreuzigten, der in die tiefsten Tiefen der
menschlichen Seele hinabgestiegen ist. Dort unten, in den
Abgründen, abseits des «guten Rufs», beginnt die Erlösung,
ausgelöst durch die göttliche Gnade ohne Bedingung. – In
eine ganz andere Richtung geht ein englischsprachiger Kommentar:
Er sagt, der Fokus auf Tugenden helfe, sich aus der
Negativspirale der Angst («negative sentiment override»,
NSO) zu befreien. Es tue den Christenmenschen wie allen
Menschen gut, sich auf positive Gedanken auszurichten.

Von: Andreas Fischer

8. Januar

Gebt, so wird euch gegeben. Lukas 6,38

In der jüdischen Tradition ist es üblich, von Gott verhüllt zu
sprechen. Eine Form solch verhüllender Rede ist das «Passivum
divinum», das «göttliche Passiv»: «Euch wird gegeben.» Es ist also Gott, der mir gibt, wenn ich gebe.
Nun könnte man kritisch einwenden, dies sei einfach eine ins
Metaphysische gehobene Handelsbeziehung: «Do ut des»,
«ich gebe, damit du gibst.» Der gebenden Geste läge egoistisch-
berechnendes Denken zugrunde. Der Zürcher Neutestamentler
Hans Weder sieht diese Art von Kalkulation aber
im Angesicht Gottes aufgehoben: «Im Angesicht Gottes ist
weder weltliche noch metaphysische Berechnung möglich.
Im Angesicht Gottes löst sich die Berechnung selbst auf, und
damit wird der Mitleidserweis zu dem zurückgeführt, was
er in Wahrheit ist: die jede Berechnung hinter sich lassende,
elementare Zuwendung zum Bedürftigen.»
Der paradoxe Profit des Gebens liegt möglicherweise darin,
dass ich darin mein eigenes Ego – seine Ansprüche an Besitz,
Sicherheit, Komfort – transzendiere und im Urgrund meines
Seins in Kontakt komme mit Gott, dessen schöpferisches
Handeln am Ursprung allen Gebens liegt:
«Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, o Gott, von
dir; wir danken dir dafür.»

Von: Andreas Fischer

9. Januar 2022

Darum sollen wir desto mehr achten auf das Wort,
das wir hören, damit wir nicht am Ziel  vorbeitreiben.

Hebräer 2,1

Der Hebräerbrief verwendet mancherorts nautische Metaphorik. Im heutigen Lehrtext etwa bezieht sich «am Ziel vorbeitreiben» auf das Bild des vom Kurs abdriftenden Schiffs, und das griechische Wort, das hier mit «achten auf» übersetzt ist, kann den Sinn haben «ein Schiff in den Hafen bringen».

Es geht, könnte man meinen, um Sicherheit. Doch der Neutestamentler Herbert Braun (1903–1991) sieht das anders. Es gehe, sagt er, um Unruhe. Wer «auf das Wort achtet», dem kommen Gewohnheiten, Gewissheiten abhanden.

Um diese «Entsicherung» bittet eine philippinische Basisgruppe mit den folgenden Worten: «Mache  uns unruhig
… wenn wir uns im sicheren Hafen bereits am Ziel wähnen, weil wir allzu dicht am Ufer entlang  segelten.»

Die Gefahr, das Ziel zu verfehlen, geht nicht vom stürmischen Meer, sondern vom sicheren Hafen aus. Es entspricht der Kernbotschaft des Hebräerbriefs («Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.» 13,14), wenn es im Gebet weiter heisst: «Mache uns unruhig, wenn wir, verliebt in diese Erdenzeit, aufgehört haben, von der Ewigkeit zu träumen.»

Von Andreas Fischer

8. Januar 2022

Es ist der Glaube eine feste Zuversicht dessen,
was man hofft, und ein Nichtzweifeln
an dem,  was man nicht sieht.          
Hebräer 11,1

Dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht der Gott der Philosophen und Gelehrten sei, wie der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) einst in seinem Mémorial schrieb, das gilt nicht für den heutigen Lehrtext. Es gilt umso weniger, wenn man diesen sachlicher, weniger subjektiv und näher am griechischen Original übersetzt:

«Glaube ist Verwirklichung von Erhofftem, Beweis für Dinge, die man nicht sieht.»

Das klingt tatsächlich «philosophisch und gelehrt». Da tauchen – mancherorts als bibelfremd bezeichnete – platonische Denkformen auf: Diese Welt sei nur Abschattung jener anderen, göttlichen.

Ebendiese Denkformen halte ich für hochaktuell. Nur ein Glaube, der das Unverfügbare, Transzendente, «das, was man nicht sieht», als etwas Gewisses realisiert – einem mathematischen «Beweis» gleich, wird endlich bereit und befähigt sein, die weltlichen Sicherheiten und Abhängigkeiten, die Kontrollmechanismen, Besitztümer und Süchte loszulassen und gelassen zu werden.

Von Andreas Fischer