Noah fand Gnade vor dem HERRN.                1. Mose 6,8

Warum fand ausgerechnet Noah Gnade? Weil er gerechter war als andere. Warum braucht er dann Gnade? Weil kein Mensch Gott gerecht werden und von sich aus ein Leben führen könnte, das gottgefällig ist. Das einfache Sätzchen, das erklärt, warum Noah auserwählt wird, einen Spross der Menschheitsfamilie zu gründen, gibt zu denken. Haben doch auch die Ureltern vor Gott Gnade gefunden. Und ihre Nach- kommen sind dann doch gescheitert. Das wird auch bei Noah der Fall sein. Er ist offensichtlich kein neuer Adam. Gottes Neustart der Schöpfung läuft schief. Ob vorsintflutlich oder nachsintflutlich – das Menschengeschlecht hat einen genetischen Defekt, der von Generation zu Generation übertragen wird. «Erbsünde» nannte es der Kirchenvater Augustin und meinte, es habe mit (sexueller) Begierde zu tun. Aber das greift zu kurz. Ändern wir uns nicht? Es schaut nicht danach aus. Wir sind drauf und dran, unsere Erde unbewohnbar zu machen, und fantasieren über Archen, auf die wir uns retten können. Stoff für eine Tragödie, aus der wir nicht entfliehen, ein Rad, das sich dreht, bis es einmal endgültig zu Ende geht mit uns. Das wäre der Schluss, den wir ziehen müssten, wenn wir – Noahs  Nachkommen– nicht Gnade vor Gott gefunden hätten. Dieser Lichtstrahl macht aus der Tragödie des Menschengeschlechts eine offene Geschichte. Noah ist nicht der neue Mensch, und wir sind keine besseren Menschen, aber in ihm sehen wir einen Prototyp, der Hoffnung macht. Weil Gott gnädig ist.

Von Ralph Kunz