Ich breite meine Hände aus zu dir,
meine Seele dürstet nach dir wie ein dürres Land.
Psalm 143,6

Ich wuchs mit drei Brüdern auf, kannte also den Futterneid, musste aber weiss Gott nicht darben. Wir hatten immer genug zu essen. Und doch kam es vor, dass wir an Hungeranfällen litten. Wir schlichen uns dann in die Vorratskammer und schnabulierten, was uns in die Finger kam, als  ob es ums Überleben ginge. Weil wir zwar räuberisch begabt waren, aber die Kunst des Leisetretens nicht beherrschten, kam es vor, dass uns die Mutter überraschte. Sie hatte dann einen Spruch auf Lager. «Was seid ihr doch für hungrige Seelen!» Ein wahres Wort! Der Bauch kann voll sein, aber dennoch knurrt die Seele vor Hunger.
Klar, meine Kindheitserinnerung ist harmlos. Sie hilft mir aber,  das Bild zu verstehen, das der Psalmist verwendet. Bei ihm geht es, anders als in meinem Beispiel, tatsächlich um Leben und Tod. Er ist verfolgt von seinen Feinden, sein Geist ist verzagt und erschöpft, sein Herz sei erstarrt. Der Seelendurst ist für ihn ein Bild der existenziellen Not. Er spricht sie aus, klagt Gott sein Leid und findet darin einen Halt. Seine Kehle lechzt nach einem Gottestropfen.
Was ist mit uns, die, Gott sei Dank, nicht an Leib und Leben gefährdet sind? Vielleicht sollten wir fasten. Oder wir könnten solidarisch mit anderen «für-dürsten». So verstehe ich Jesu Wort: «Selig sind die Hungrigen im Geist.» (Matthäus 5,1)
Von Ralph Kunz